Wie sieht Dein Arbeitsalltag aus?
Jeder Tag ist anders. Ich bin entweder viel unterwegs oder viel am Schreibtisch. Meistens habe ich Phasen, in denen ich unterwegs bin – und dann habe ich längere Phasen, in denen ich am Schreibtisch sitze, um das zu verarbeiten, was ich unterwegs gesammelt habe an Interviews, Geschichten, Reportagen und Erfahrungen. Unterwegs zu sein heißt bei mir in der Region, dass ich fünf Länder abdecke, also Uganda, wo ich lebe, Ruanda, Burundi, die Demokratische Republik Kongo und die Zentralafrikanische Republik. Ich fliege dort rein, auch zum Teil mit der UNO – und halte mich dort auf. Ich fahre viel durch die Gegend, zum Teil mit dem Auto, zum Teil aber auch mit dem Motorrad. Ich bin aber auch schon viel gewandert und gelaufen – auch in Gegenden, wo keine Straße mehr hinführt und kein Auto mehr hinkommt. Ich spreche mit der Zivilbevölkerung, aber auch mit Rebellen, mit dem Militär, um sämtliche Seiten abzudecken. Ich lebe nicht immer mittendrin. Aber wenn zum Beispiel im Ostkongo der Bürgerkrieg tobt, dann lasse ich mich dort auch mehrere Monate nieder, um vor Ort zu berichten. Ich bin öfter auch mal länger unterwegs, drei oder vier Wochen am Stück. Dabei bin ich ungern in Hotels, das hat viel damit zu tun, dass man als Journalist sein Leben lang in Hotels wohnt. Mittlerweile habe ich in allen Ländern und vor allem in allen Hauptstädten gute Freunde, bei denen ich unterkommen kann. Manchmal miete ich mir auch ein Zimmer an. In den Kriegsgebieten vor Ort, wenn man so eine Tour durch den Ostkongo macht, bin ich öfter mal in katholischen Missionshäusern. Dort kann man sich einquartieren, wenn man ein paar Tage vor Ort sein will, es aber kein Hotel mehr gibt.
Woher weißt Du, wem Du vertrauen kannst?
Eine Weisheit habe ich mir immer ins Gedächtnis geschrieben: Vertraue niemandem, denn jeder hat seine subjektive Wahrheit. Und das ist vor allem in den Konfliktregionen, die ich abdecke, ganz extrem der Fall. Also vor allem, wenn es um ethnisch-konnotierte Bürgerkriege geht, muss man sich beide Seiten – oder alle ethnischen Gruppen – anhören, weil jede Seite ihre Wahrheit hat und ihre Wahrnehmung. Deswegen ist es meistens nicht der Fall, dass es eine faktische Wahrheit gibt, auf die man sich als Journalist berufen kann. Stattdessen gibt es verschiedene Wahrheiten, verschiedene Varianten, die Geschichte zu erzählen. Neutral kann man dann gar nicht mehr von einer Wahrheit sprechen, sondern muss sagen: Es gibt verschiedene Versionen oder Wahrheiten in einer einzigen Geschichte. Deswegen habe ich gelernt, immer allen Seiten zuzuhören, bevor man sich überhaupt ein Urteil bildet oder überhaupt das Gefühl hat, dass man verstanden hat, worum es geht. In der afrikanischen Kultur gibt es sehr wenige niedergeschriebene, trockene Beweise oder Dokumente, sondern viel ist einfach nur Erzählung oder Gerücht. Aber auf Basis dieser Gerüchte oder Geschichten und Fantasien werden trotzdem Entscheidungen getroffen. Das kann bis zum Bürgerkrieg führen, auch wenn die Geschichte niemals geschehen ist. Das ist besonders dann, wenn Europa oder die westliche Welt über Fake News nachdenken, relevant. Gerade in Afrika, wo Journalismus oder Medien wenig in Dörfer vordringen, muss man dann doch mehr den Gerüchten und Geschichten, Mundpropaganda und Flüsterpost zuhören. Selbst wenn die Geschichten erfunden sind, sind sie für viele Menschen dennoch wahr und Entscheidungen und Aktionen werden basierend auf diesen erfundenen Geschichten getroffen und vollzogen. Das kann man nicht komplett ausklammern und vertraut deswegen generell niemandem, hört sich alle Versionen an und bildet sich eben selbst Meinungen. Mein Motto ist immer: Es gibt nicht schwarz und weiß, sondern eine Million Grautöne. Diese Nuancen herauszufinden, das ist meine Aufgabe.
Wie stellst Du Kontakte her?
Kontakte sind in meiner Region von Afrika wie in einer Art Schneeballsystem zu sammeln. Man kennt eine Person und fragt diese Person nach weiteren Kontakten. Und dann gelangt man so zu einer endlosen Kette an Kontakten. Ich bin viel unterwegs und klopfe an viele Türen. In kongolesischen Dörfern fragt man die ersten Bewohner, die man so trifft, zum Beispiel nach dem Dorfvorsitzenden, nach dem Pfarrer, dem Direktor der Schule, also nach den lokalen Autoritäten. Leute, die eine gesellschaftliche Aufgabe haben. Aber natürlich auch Privatpersonen. So habe ich sehr viele Kontakte hergestellt, auf die ich dann immer wieder zugreife. Und wenn eine neue Geschichte passiert und ich wieder neue Kontakte suche, dann gehe ich die alten Kontakte durch und frage, wer neue Kontakte hat – es ist ein Sammelsystem.
Warum sprechen Deine Kontakte mit Dir?
In Bürgerkriegssituationen ist es immer so, dass jede Konfliktpartei mit Journalisten sprechen möchte, um ihre eigene Version der Geschichte zu erzählen. Viele Menschen in der Zivilgesellschaft, aber auch ganz einfach die zivile Bevölkerung, leiden natürlich unter den Bedingungen: Krieg, Krankheiten, die Korruption der Regierung oder einfach die Unterversorgung einer Krankenstation, in der es nicht einmal Handschuhe gibt oder eine Rasierklinge, um die Nabelschnur eines neugeborenen Babys durchzuschneiden. Menschen erhoffen sich, dass sie erstens gehört werden und zweitens sich etwas ändert, dass vielleicht Hilfe von außen kommt oder ihre Regierungen unter Druck gesetzt werden, weniger korrupt zu sein. Die Bevölkerung erhofft sich eine Besserung und Kriegsparteien erhoffen sich immer, dass ihre Version der Geschichte die Narrative wird, die in den internationalen Medien erzählt wird.
Deine Arbeit hat auch internationale Beachtung gefunden, beispielsweise Deine Aufnahmen von Leichenschändungen, die im Sicherheitsrat behandelt worden sind. Daraufhin wurde Dir nahegelegt, das Land zu verlassen. Wie ist es danach weitergegangen?
Ich habe die Region 2013 verlassen. Das war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass ich aufgrund meiner Berichterstattung sozusagen verfolgt wurde oder bei vielen hohen Tieren, also Generälen, sehr böses Blut erzeugt habe. Die Gemüter sind hochgekocht, sodass ich mich in der Region nicht mehr sicher gefühlt habe. Und dann bin ich ins Flugzeug nach Deutschland gestiegen, um hier in Deutschland länger zu sein. Man lässt Gras über die Sache wachsen. Die Welt dreht sich so schnell, dass die alten Probleme wenige Monate später weniger aktuell sind und man Dinge vielleicht vergibt oder in einem anderen Licht sieht. So habe ich mir meistens einfach eine Auszeit gegönnt über mehrere Monate hinweg, um dann wieder zurückzugehen. Ich habe aber auch schon öfter in meinem Leben mit hohen Generälen, die mit meiner Berichterstattung unzufrieden waren, direkt das Gespräch gesucht, um meine Position, meine Arbeit, meinen Journalismus und die Geschichte nochmals zu erklären. Um auch einfach noch mal konfrontativ damit umzugehen oder einfach auch, um eine bessere Stimmung zu generieren. Ich habe selten einen Arbeitsalltag als Routine, das stellt sich bei mir überhaupt nie ein. Insofern ist alles jenseits des Alltags und die nächsten Geschichten, die ich mache, nachdem ich zum Beispiel gerade gewisse Generäle besänftigt habe, sind dann über Themen, die weit weg sind. Oder ich bereise einfach andere Länder, um in Ruhe Gras darüber wachsen zu lassen.
Gab es schon Notwendigkeiten, Dich selbst zu verteidigen?
Ja, ich war in verschiedenen Situationen, die hätten auch böse ausgehen können. Ich hatte jedes Mal Glück, aber auch das ein oder andere posttraumatische Problem. Damit muss man offensiv umgehen und ich bin daran auch gereift. Ich habe mich in den letzten Jahren etwas weniger tief an die Frontlinie getraut und bin etwas vorsichtiger geworden.
Bei Deiner Tätigkeit bist Du immer wieder einschneidenden Ereignissen ausgesetzt. Was war ein besonders negatives Erlebnis?
Schwer zu sagen. Ich habe eine Erfahrung gemacht, da haben Rebellen ein Dorf im Kongo überfallen und wirklich – vom zweijährigen Kind bis zur 80-jährigen Oma – sämtliche Frauen und Männer, die in diesem Dorf lebten, das waren insgesamt über 300, vergewaltigt. Das waren Massenvergewaltigungen, die von einem Kommandeur befohlen wurden. Ich habe dieses Dorf besucht und es war eine ganz grausame Reportage – auch, sich über viele Tage so viel Grausamkeit anzuhören, die sich noch dazu unter den Augen der UNO abgespielt hat, weil die UNO-Truppen nur vier Kilometer davon entfernt stationiert waren und in den Tagen der Massenvergewaltigung auch noch ein paar Mal durch das Dorf gefahren sind. Allerdings waren das indische UN-Truppen – die sind nicht ausgestiegen, sprachen keine lokale Sprache und der einzige Übersetzer, der in die UN-Truppen eingebettet war, hatte an dem Tag Urlaub. Es ist ganz grausam zu sehen, dass solche Dinge passieren und die Welt darüber nichts erfährt. Das war der weiße Fleck in der Medienlandschaft.
Wenn man dann darüber schreibt und den Menschen vor Ort die Gelegenheit gibt, darüber Zeugnis abzulegen, ihre Geschichte zu erzählen und man Fakten sammeln, die Rebellen, die Kommandokette recherchieren kann: Wer hat diesen Befehl gegeben? Gab es tatsächlich einen Befehl zur Vergewaltigung? Und wenn man letztlich auch die Rebellen damit konfrontieren und gewisse Generäle oder Kommandeure später sprechen kann – und die dann auch noch bestätigen: Es gab einen solchen Befehl... Ich habe solche Recherche viel gemacht. Hier konnte ich auch die Täter ausfindig machen und später mit Männern sprechen, die die Vergewaltigungen selbst begangen haben und die mir erzählt haben, wie traumatisiert sie danach waren, weil sie selbst von ihrem Kommandeur den Befehl bekommen haben, diese Massenvergewaltigung durchzuziehen. Ein Junge war erst 17 Jahre alt, es war sein erster sexueller Kontakt, er war danach schwer traumatisiert und ich musste im Geiste auch ihn als Opfer sehen. Ich habe darüber berichtet und auch ein Buch über diese Rebellengruppe geschrieben. Die Führung der Rebellentruppe saß damals in Deutschland. Die Befehle kamen nicht ausdrücklich aus Deutschland, aber das war der Anfangsverdacht, den wir hatten. Und es gab einen Gerichtsprozess in Stuttgart, in dem die Rebellenkommandeure, also die beiden, die in Deutschland lebten, wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden sind. Das ist dann das Schöne daran, wenn man das Gefühl hat, dass die eigene Berichterstattung unter Gefahren und anstrengenden Momenten Sinn macht – auch der Schilderung der Gewalt zuzuhören und mit den Opfern zu sprechen. Nicht locker zu lassen, auch wenn man für viele Sachen, die man recherchiert, gar nicht bezahlt wird. Das ändert was.
Was ist für Dich Qualität im Journalismus?
Meine Arbeit ist tatsächlich außergewöhnlich. Sie ähnelt nicht dem Arbeitsalltag eines Berliner Redakteurs, der morgens mit der U-Bahn in die Redaktion fährt und abends wieder zurück und eigentlich am Schreibtisch sitzt. Jeder Journalismus hat seine eigenen Qualitätsstandards. Für mich bedeutet das, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, sich viel mit eigenen Augen vor Ort anzugucken. Ich muss immer wieder feststellen, dass man Dinge von weitem nicht so gut recherchieren kann, wie ich sie vor Ort verstehe, wenn ich sie mir selbst anschaue und mit den Menschen spreche. Und mein Qualitätssiegel ist, dass ich mit den Betroffenen, also den Opfern und auch den Tätern, spreche – ich habe mehr mit Tätern in meinem journalistischen Leben gesprochen als mit Opfern. Auch die Frage zu stellen: Warum hast du das getan? Das ist in meinem Kontext, in meiner Region, sehr wichtig. Mit Opfern und Tätern über das zu sprechen, was passiert, um beide Seiten zu beleuchten. Öfter sind die Täter auch selbst Opfer und dadurch ergibt sich dann diese Gewaltspirale, die man auch erst einmal verstehen muss, wenn man als westlicher Leser oder Zuhörer so weit weg ist von Gewalt, dass man es eigentlich nicht mehr ganz begreifen kann.
Wie stellt die Redaktion sicher, dass Du die Wahrheit berichtest?
Meine Redaktion hat glücklicherweise einen Redakteur, Dominic Johnson, der sich in meiner Region sehr gut auskennt und damit auch so eine Art Prüfstelle für mich ist, weil er alles mitverfolgt, was ich tue und was sich in der Region ereignet. Und er hat umfangreiches Wissen, insofern ist die Rücksprache mit ihm immer wichtig. Er sieht dann auch schon zum Teil Fehler, wenn ich sie mache – er macht mich dann darauf aufmerksam und wir können nochmals gemeinsam cross-checken, gegenrecherchieren.
Hat sich nach dem Fall Relotius für Dich etwas in den Abläufen geändert?
Der Fall Relotius hat in der Taz zu sehr vielen Diskussionen geführt. Wir haben uns als Auslandskorrespondenten darüber alle Gedanken machen müssen. Ja, es ist leicht, gewisse Menschen zu erfinden, wenn man weit weg recherchiert. Aber ehrlich gesagt: Auch in Afrika ist mittlerweile jeder auf Whatsapp und jeder auf Twitter und jeder auf Facebook. Es wird einem nicht verziehen, wenn man Dinge erfindet. Es kommt irgendwann raus. Also muss nicht nur das Medium kontrollieren, ob die Korrespondenten wirklich die Wahrheit schreiben, sondern auch als Korrespondent muss man sich selbst auf die Fahnen schreiben, dass jede Lüge oder jede Erfindung irgendwann rauskommen würde. Insofern war der Fall Relotius für uns nur noch mal eine Bestätigung, tatsächlich richtig gründlich vorzugehen.
Was würde Dich dazu bringen, nicht mehr über ein Thema zu berichten?
Es gibt Themen, die sind heiße Eisen. Wenn man das anfasst, dann muss man mit Konsequenzen rechnen. Zum Beispiel, dass man sich nicht mehr in der Region aufhalten kann, dort leben und arbeiten kann. Ich bin schon sehr bedroht worden mit allem Drum und Dran – und habe es trotzdem nie eingesehen, über ein Thema nicht zu berichten. Da muss schon viel passieren, bevor man sich mundtot machen lässt. Das Gute ist: Wenn ich in einem Land bin, in dem ich durch Bedrohungen mundtot gemacht werde, kann ich nach Deutschland reisen – das habe ich auch schon öfter getan, um von hier aus die Geschichte zu schreiben. So lange ich mich in Deutschland aufhalte, fühle ich mich sicher.
Was möchtest Du mit Deiner Arbeit erreichen?
Ich möchte über den weißen Fleck in der Medienlandschaft, Afrika, aber auch über die Region der Großen Seen, so lebhaft und leibhaftig und nahe dran wie möglich berichten, weil sie für mich journalistisch unterversorgt war. Und ich möchte den Lesern und Zuhörern im Radio vor allem schildern, dass es in Krisenregionen, aus denen man immer nur die schlechten Nachrichten hört, trotzdem ein normales Leben, einen normalen Alltag gibt – und Menschen auch glücklich sein können. Sie können auch mal lachen. Nicht nur Krieg und Totschlag, sondern auch ein normales Leben ist möglich. Das ist etwas, dass ich immer wieder versuche: den Alltag mit abzudecken.
Wie stellst Du Dir Deine berufliche Zukunft vor?
Ich habe jetzt gerade meine Tochter zur Welt gebracht, ich werde diese Zukunft jetzt natürlich etwas ruhiger angehen lassen. Vielleicht weniger reisen, weniger Gefahren auf mich nehmen. Aber ja, ich werde in Afrika bleiben, um hoffentlich weiter so gut es geht von nah dran zu berichten.