Magazin für Medienjournalismus. Ausgabe 62
Seit 1998 herausgegeben von Björn Brückerhoff

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Ausgabe 62: Schwerpunkt Qualität

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Bild: DeepAI, Prompt "Artificial Intelligence"

Mittendrin, statt nur dabei. Grundlagen, Genese und Potenziale virtueller (Spiel-)Welten  

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Text: Benjamin Bigl

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Der 23. März 2020 sollte ein wichtiges Datum in der Medien- und Technikgeschichte werden: an diesem Tag wurde mit Half-Life: Alyx der erste Virtual-Reality-Ego-Shooter des U.S.-amerikanischen Entwicklers Valve auf der Spiel-Plattform Steam veröffentlicht. Das für Microsoft Windows konzipierte Spiel war damit das erste Computerspiel überhaupt, welches zwar für die auf dem Markt vorhandenen Virtual-Reality (VR)-Brillen kompatibel war, aber auf die eigene VR-Hardware des Entwicklers Valve ausgelegt und optimiert wurde. Valves eigenes VR-Headset Valve Index sollte der Garant dafür sein, dass sich VR-Produkte und Dienstleistungen auf dem breiten Massenmarkt durchsetzen konnten. Und der Hersteller ließ sich dafür Zeit. 14 Jahre, um genau zu sein. So viel Zeit ging ins Land, bis Valve eine Fortsetzung der Half-Life-Reihe veröffentlichte, die 23 Jahre (sic!) zuvor mit Half-Life begann. Das Ursprungsspiel von 1998 gilt bis heute als ein Meilenstein der Videospielgeschichte. Auch die direkten Nachfolger Half-Life 2: Episode One (2006) und Half-Life 2: Episode Two (2007) konnten direkt an den Erfolg anknüpfen; Half-Life: Alyx ist in der Chronologie zwischen den Ereignissen in Half-Life und Half-Life 2 angesiedelt. Die Protagonistin des Spiels, Alyx Vance, und ihr Vater Dr. Eli Vance befinden sich im Widerstand in der City 17 gegen die brutale Besatzung der Erde durch die Combine.

Für manche ist die Reihe schlicht das beste Computerspiel, das je erschienen ist. Diese Einschätzung hat verschiedene Gründe: Die Spiele des Half-Life-Universums gehen weit über stumpfes Moorhuhn-Geballer hinaus und zeigen eindrucksvoll, welche Potenziale im „Medium Computerspiel“ (Bigl, 2016) stecken können – audiovisuell, in Bezug auf die Komplexität und die Tiefe der Spielgeschichte sowie bei den Möglichkeiten eines interaktiven Storytellings, was den Spieler mit all seinen Sinnen und Erfahrungen einbezieht. In Half-Life: Alyx erlebt der Spieler sowohl physisch als auch kognitiv, wie es sich anfühlen könnte, in einem Überwachungsstaat zu leben. Unter Verwendung der Valve Index 3D-Brille sowie den drahtlosen Eingabegeräten an beiden Händen kann er virtuell mit Gegenständen interagieren, mit den Avataren des Spiels kommunizieren, sich realitätsnah aus einem Waffen- und Werkzeugarsenal bedienen, eine dystopische Spielwelt erkunden und großartige, fast ästhetische Momente der Ehrfurcht, der Angst aber auch des Humors erleben. In Half-Life: Alyx läutet der Entwickler Valve nichts weniger als das VR-Zeitalter ein.

Bei VR-Spielen geht es vor allem

  • um das Ermöglichen eines realen Spiel- und Umwelterlebens im dreidimensionalen Raum
  • um die Sinnhaftigkeit und Kongruenz von realer und virtueller Spielhandlung und den mannigfaltigen Optionen einer interaktiven Spielerhandlung
  • um eine konsistente (Spiel-) Umgebung im Hinblick auf die realitätsnahe und detailverliebte Darstellung in Form, Aussehen sowie in Bezug auf die Proportionen von Gegenständen und Spiel-Charaktere
  • um den größtmöglichen Verzicht von oft als störend empfundenen Hinweisen des grafischen Interfaces sowie insgesamt
  • um die größtmögliche Immersion in die virtuelle (Spiel-) Welt.


Letzteres ist die eigentliche Stärke von VR. Für deren Verständnis erscheinen erstens einige theoretische Überlegungen wichtig, um zu zeigen, was VR leisten kann. Zweitens soll ein historischer Streifzug durch die Mediengeschichte der vergangenen 100 Jahre zeigen, dass es durchaus lohnenswert ist, die Genese von VR in einem größeren zeitlichen Rahmen zu begreifen. Drittens wird ein Ausblick auf zukünftige Potenziale von VR für den Medien- und Kommunikationsbereich gegeben.

Grundlagen

Der Begriff Virtuelle Realität wurde erstmals um 1986 durch Jaron Lanier populär (Riva, 2005). Darunter werden allgemein Technologien verstanden, mit denen versucht wird, 
„dem Benutzer eine vollständige Immersion in einer interaktiven computergenerierten Umwelt zu bieten. Der Rezipient interagiert mit dem System über verschiedene Ein- und Ausgabetechniken, die es dem Menschen erlauben, eine sinnliche Erfahrung zu machen, die einer physikalisch existierenden Wirklichkeit nicht entspricht oder eine physikalisch existierende Wirklichkeit um normal so nicht wahrnehmbare Dimensionen erweitert“ (Tjoa, 1998, S. 179).

Es geht also um technische Systeme, die Interaktionen und Kommunikationen – mithin die Informationsvermittlung – in einer dreidimensionalen Welt in Echtzeit und unter Ansprache und Einbezug möglichst vieler Sinnesorgane des Menschen ermöglichen und unterstützen. Diese Interaktionen erfolgen üblicherweise in einer egozentrischen sowie relativen Perspektive, also analog zu vielen populären Computerspielen, nur eben mit Hilfe einer in sich abgeschlossenen technischen Umgebung. Dies geschieht üblicherweise mit einer 3D-Brille, welche die dreidimensionale Welt um die Augen projiziert sowie mit diversen Ein- und Ausgabegeräten an den Händen zur Steuerung innerhalb der virtuellen Welt. Aber auch die Einbeziehung des ganzen Körpers ist dabei möglich.

Jaron Lanier – U.S.-amerikanischer Informatiker, Künstler, Musiker, Komponist, Autor und Unternehmer für VR-Anwendungen – antwortete unlängst in einem Podcast-Interview mit Lex Fridman vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) auf die Frage, warum Spieler es einfach genießen, mit diesen technischen Gerätschaften in einer virtuellen Welt herumzulaufen: 
„I think it's wonderful to love artistic creations, it's wonderful to love contact with other people, it's wonderful to love play and ongoing evolving meaning and patterns with other people. I think it's a good thing.“

Auf die eine oder andere Weise ermöglichen auch klassische 2D-Computerspiele dieses Erleben. Und jedes Computerspiel ermöglicht auch direkte und indirekte, gegenseitige und einseitige, private und öffentliche Kommunikationen und Interaktionen mit einem nach Maletzke dispersen, aber eben auch eher passivem Publikum (vgl. Maletzke, 1964, S. 34). In VR-Umgebungen verändert sich diese Ausgangslage nun radikal: die aktive und virtuelle Interaktion und Kommunikation ist konstitutiv für VR, deren Erleben mit den ersten Spielen durch bewegungssensitive Eingabegeräte begann. Die Erhöhung von Authentizität und Konkretheit sind die eigentlichen Ziele der meisten Anwendungsszenarien auch außerhalb des Games-Bereichs. So wird beispielsweise versucht, komplexe medizinische Operationen, technische Verfahrensweisen oder Vorgänge in der virtuellen Realität so konkret und detailliert wie möglich zu simulieren und auch durchzuführen Auch Kosteneffizienz und Sicherheit sind Aspekte, vor allem wenn VR-Anwendungen über weite Entfernungen durchgeführt werden – die erste VR-Operation glückte 2020. Möglichkeiten der schnelleren und direkten visuellen Verarbeitung der Wahrnehmung sowie die Einordnung von Objekten und Informationen in VR-Umgebungen hängen jedoch von der Schnelligkeit des Gesamtsystems ab, besonders von schnellen Datenverbindungen.

Wird nun in Zusammenhang von VR von virtuellen Welten gesprochen, sind damit vor allem komplexe, regelgeleitete kognitive Systeme gemeint, in denen bisweilen auch Schemata und Regeln der realen Alltagswelt außer Kraft gesetzt sein können – das gilt nicht nur für Spiele (vgl. Fritz, 2004), sondern für Computerspielwelten gleichermaßen, in denen auch andere physikalische Gesetzmäßigkeiten gelten können. Als virtuell wird nun die Eigenschaft der Objekte innerhalb dieser Welten bezeichnet, deren Merkmale (bspw. Ihr Aussehen) simulativ erzeugt werden. VR ist dann für denjenigen, der diese Welt betritt oder benutzt, ein quasi-existenter realer Zustand, dessen „Seinsweise“ er ausschließlich der Simulation verdankt (vgl. Bühl, 2000) und welche ausschließlich auf den technischen Kapazitäten beruht, die Realität zu imitieren bzw. sich dieser in der Darstellung anzunähern. Alltagssprachlich ist Realität das, was wir synonym als „Wirklichkeit“ bezeichnen. Damit ist jene Welt gemeint, die als Konstruktionsleistung unseres Gehirns vom Bewusstsein abhängig ist (Bentele, 2006, S. 311). Konstruktion meint hier dezidiert nicht ein planvolles Handeln, sondern den Abgleich und die Ergänzung vorhandener kognitiver Wissensstrukturen (Köhler et al., 2008). Spielen wir also gut gemachte VR-Spiele oder nutzen wir gut gemachte VR-Umgebungen spielt „uns“ unser Gehirn einen Streich in doppelter Hinsicht – es zeigt uns eine Wirklichkeit, die es so nicht zwangsläufig gibt und nutzt dafür unsere Vorerfahrung und unser Vorwissen. Virtualität wird so zu einem Attribut der Wirklichkeit.

Genese
VR ist kein abstraktes oder gar theoretisches Konstrukt des Computerzeitalters (vgl. im Überblick Schröter, 2004). Schon Jahrzehnte bevor 1984 William Gibsons Roman Neuromancer die Flucht in einen utopischen Wunschtraum populär machte (vgl. Gibson, 2000) bezogen sich in der Literatur des vergangenen Jahrhunderts Autoren wie Jules Vernes oder Stanislaw Lem auf Virtualität in Form von virtuellen Räumen. Sowohl Science-Fiction als auch die technische (Medien-)Virtualität manifestieren einen Unterschied zwischen realen und imaginierten Welten. Im Gegensatz zu VR-Anwendungen offeriert die Science-Fiction-Literatur Gedankenmodelle. Der polnische Autor Stanislaw Lem beispielsweise formuliert schon Anfang der 1960er-Jahre in Summa Technologiae unter dem Begriff Phantomatik Möglichkeiten zur Erzeugung künstlicher Realitäten. Darunter verstand er, „daß zwischen der also ‚künstlichen Realität‘ und ihrem Empfänger wechselseitige Verbindungen geschaffen werden. Die Phantomatik ist, anders gesagt, eine Kunst mit Rückkoppelung [...], daß eine Situation geschaffen wird, in der es aus der Welt der erzeugten Fiktion keine ‚Ausgänge‘ in die reale Welt gibt“ (Lem, 1980, S. 316).

Die von ihm als Phantomatisierung bezeichneten Techniken reichten von einfachen Täuschungen bis hin zur perfekten Illusion, für deren Umsetzung er damals schon eine Art Brille vorschlug, die Bilder auf die Netzhaut projizieren konnte. Der Tech-Konzern Apple kündigte unlängst eine Brille nach dem gleichen Prinzip an. Lem ging es im Gegensatz zu den Innovatoren aus Cupertino aber nicht um Augmented Reality (AR), also um eine computertechnische Erweiterung der umgebenen Realität. Ihn interessierte vor allem die Frage, wie sich Realitäten erzeugen lassen, 
„die für die in ihnen verweilenden vernünftigen Wesen in keiner Weise von der normalen Realität unterscheidbar sind, doch anderen Gesetzen unterliegen“ (ebd., S. 311).

Lem prognostizierte gar Anwendungsfelder für die Ausbildung „für jegliche Berufe […], sei es der des Arztes, des Piloten, des Ingenieurs usw.“ (ebd., S. 339). In Bezug auf die Wirkung beim Nutzer dieser differenzierte Lem radikal zwischen Phantomatik als ein Ausdruck der Privatheit, da das, was virtuell getan würde, nicht für jedermann sichtbar sei, sowie in die Phantomatik als eine Technik, die er verwandt sah mit der Wirkungsweise halluzinogener Drogen (Lem, 1980, S. 328). Spieler von Half-Life: Alyx aber auch Benutzer anderer VR-Anwendungen kennen beide Phänomene wahrscheinlich nur allzu gut: das Tragen von 3D-Brillen schottet nicht nur von der Außenwelt ab, motion sickness, ein Unwohlsein auf Grund der kognitiven und physischen Beanspruchung, ist nicht selten eine lästige Begleiterscheinung von VR.

Die fantastischen und teilweise sehr detaillierten Schilderungen Lems und anderer hatten das Zukünftige im Blick, was heute technisch möglich. Erste komplexere Versuche des Ansprechens verschiedener Sinne sind in den 1940er Jahren zu finden. In so genannten Geruchskinos versuchte das Medium Film weitere Dimensionen der menschlichen Wahrnehmung zu erschließen (Paech, 2000). Auch heute ist vor allem das Kino (noch) der Ort, wo VR – meist mit stereoskopischen Verfahren oder mit Shutter-Brillen – für die breite Bevölkerung erlebbar wird. James Camerons Avatar (2009) ist mit rund drei Milliarden Dollar Einspielergebnis weltweit bis heute der erfolgreichste Film überhaupt.

Eine wichtige Wegmarke der VR-Entwicklung ist das Jahr 1962, als sich Morton Heilig einen Simulator patentieren ließ. Mit dem Sensorama genannten Gerät konnte der geneigte Nutzer eine simulierte Motorradfahrt durch den New Yorker Stadtteil Little Italy unternehmen und die unterschiedlichen Gerüche der Stadt – wie etwa Abgase der Automobile oder von frisch gebackener Pizza – wahrnehmen. Neben Stereoton und einem plastischen Bild unterstützten Vibrationsmotoren das Erlebnis (Heilig, 1992). Im Games-Bereich avancierte 2005 Guitar Hero zu jenen (Musik-)Spielen, für welche das Attribut „virtuell“ erstmals konkret zutraf. Das Spiel für die Playstation 2 ermöglichte es, mit einem gitarrenförmigen Eingabegerät das Spielen von Musikinstrumenten zu imitieren. Nintendos Konsole Wii vervollständigte das Konzept und wurde ausschließlich durch bewegungssensitive Eingabegeräte gesteuert – für diese „digitale Utopie“, die dennoch realen Muskelkater verursacht, standen 2007 weltweit die Menschen Schlange. VR-Umgebungen besitzen somit auch den von Lem prognostizierten und skizzierten Übungscharakter.

Herausforderungen & Potenziale

Schon die derzeit vorhandenen Anwendungsfelder von VR – vor allem Telekommunikation und Unterhaltung – verdeutlichen die individuellen und gesellschaftlichen Folgen der VR-Nutzung. Besondere Herausforderungen liegen beispielsweise im Bereich des Rechts, wenn es um den Wert und den Handel mit virtuellen Gütern geht, im Bereich des Wirtschaftslebens bei der Nutzung und Implementierung von Technologien in der virtuellen und vernetzten Unternehmenskommunikation sowie allgemein für die Gesellschaft, wenn es um Veränderungen im Normen- und Wertgefüge geht – hier kann ethisches Handeln in virtuellen Kommunikationsumgebungen genannt werden. Nimmt man mögliche Potenziale für Medien und Kommunikation in den Blick, sind vor allem zwei Entwicklungen besonders hervorzuheben, die miteinander in Verbindung stehen und den Bogen zu den skizzierten Grundlagen sowie der historischen Genese von VR schlagen.

Es geht erstens um die technologische Entwicklung, welche es zunehmend möglich macht, unsere Umwelt immer feiner zu vermessen und immer detaillierter abzubilden – das gilt auch und erst recht für VR-Anwendungen und ihre nahtlose Integration ins Alltags- und Arbeitsleben. Microsoft etwa verspricht für seine HoloLens nicht weniger als eine präzise und effiziente Arbeit. Mit jeder Generation von Prozessoren – und somit folgerichtig auch von VR-Headsets – zeigt sich eben auch, dass das nach Gordon Moore, einem der Mitgründer von Intel, benannte Gesetz, wonach sich die technologische Leistung nach rund zwei Jahren verdoppelt, alles andere als tot ist. Auch wenn sich diese Regel mehr auf die Produktionszyklen von Hardwarekomponenten als auf ihre Leistungsfähigkeit bezieht, kann davon ausgegangen werden, dass uns der Anstieg der audiovisuellen Leistung der für VR notwendigen Hardware uns vor allem im Unterhaltungsbereich noch immersiver in virtuelle Welten begleiten wird. Sofern deren inhaltliche Umsetzung stimmig ist, wird sie uns Nutzer begeistern.

Zweitens geht es um das Potenzial dieser Entwicklung für die Informationsvermittlung und die Integration von Informationen in unseren (medialen) Alltag (vgl. Heinecken & Schulte, 2007) – mithin geht es um Anwendungs- und Vermittlungspotenziale auf einer inhaltlichen Ebene. Die verfügbaren Angebote und Tech-Demonstrationen in den Softwareportalen der kommerziellen VR-Headset-Anbieter (bspw. Steam, Viveport) offerieren bereits jetzt eine breite Palette inhaltlicher Angebote. Diese reichen von schmuddeligen 3D-Porno-Appetizern, welche nicht selten eher zum Fremdschämen sind, über durchaus ansprechende 360-Grad-Videos über die touristischen Hot-spots dieser Welt bis hin zu VR-Reportagen, bei denen das Publikum buchstäblich in das Geschehen eintauchen kann. Dass die Porno-Industrie schon sehr früh die dritte Dimension sowie das ökonomische Potenzial von VR entdeckt hat , ist wenig verwunderlich. Für den Nutzer sind diese Angebote zunächst als Einstieg in die VR-Welt gedacht, da sie weniger auf die Interaktion des Nutzers denn vielmehr auf die immersive Rezeption von mehr oder weniger gut gemachten Inhalten abzielen. Für diese rein rezeptive Nutzung von VR-Inhalten genügen fürs erste denn auch VR-Apps für das eigene Smartphone wie Google Cardbord.

Längst hat der immersive Wandel auch den Journalismus erfasst, vor allem globale Medienhäuser aber auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten wie ARD, ZDF und ARTE sowie einige Zeitungsverlage experimentieren mit dem technischen Möglichen, Menschen mitten in den Ort des Geschehens zu transportieren. Die New York Times demonstrierte dies eindrucksvoll anhand eines Beitrags zur Bedeutung des Social Distancings in der Corona-Pandemie. Dabei ist das technisch Machbare jedoch nicht automatisch ein Garant für Erfolg, denn nicht jedes Thema und nicht jeder Sachverhalt ist zwangsläufig für VR geeignet. Neben Potenzialen für neue Erzählformen und -formate kann vor allem der Datenjournalismus von den neuen Möglichkeiten profitieren. Möchte man hingegen interaktives statt rezeptives VR, weist der Games-Bereich den Weg sowohl technisch als auch gestalterisch. Das hat neben der VR-Forschung auch die Ausbildung erkannt, so dass es mittlerweile erste Studiengänge und -module gibt, die sich dezidiert dem VR-Journalismus widmen (vgl. Feyder, 2018).

Zukünftig wird es darum gehen, die Kernaufgaben des Journalismus dort, wo es inhaltlich sinnvoll ist, mit den veränderten Möglichkeiten von VR zu ergänzen. Mit den immersiven Zugkräften von VR dürfte dies in einigen Punkten nicht gelingen. Zwar ist das unangefochtene Primat des Informationsjournalismus schon länger ins Wanken geraten , doch steht vor allem die nutzergesteuerte Interaktion einigen Kernaufgaben diametral entgegen – etwa dann, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit zuverlässig und schnell mit aktuellen Informationen zu versorgen, Kritik und Kontrolle zu üben oder den kritischen, kommunikativen Diskurs anzuregen. In der digitalen Gesellschaft von heute ist beides zum Problem geworden – die zunehmend selektive Informationsnutzung in Filterblasen und das geringer werdende Wissen darüber, was Journalismus ist und wozu wir auch zukünftig (kritischen) Journalismus dringend brauchen, sind damit auch Symptome einer schwinden-den Medienkompetenz der Bevölkerung (Bigl & Schubert, 2021).

Fazit: Immersion im Wandel
Wie aufgezeigt, liegt der Ursprung der VR-Entwicklung in der Kultur- und Literaturgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts begründet. In der Tradition – vor allem der genannten technologischen Meilensteine – wandelt sich auch der Charakter des immersiven Erlebens, so dass. angetrieben von den technischen Möglichkeiten, sich neue Realitätstypen bilden, „die sich der traditionellen Dichotomie von Fiktion und Realität entziehen“ (Friesen, 2001, S. 9). Immersive VR-Spiele ermöglichen schon jetzt als Unterhaltungsmedium, mittendrin statt nur dabei zu sein. Half-Life: Alyx kann daher auch als Archetyp eines neuen Kommunikationsmediums insgesamt bezeichnet werden, welches Virtualität erzeugt und dem Spieler eine virtuelle Welt anbietet, die es so nicht gibt – aber geben könnte. Aus technologischer Perspektive dürfte der Titel daher zum Goldstandard werden. Mit ihren Implikationen und Potenzialen für zukünftige Anwendungsfelder leisten VR-Games damit konsequenterweise auch einen Beitrag zur medientechnischen und damit auch zur kulturellen Entwicklung unserer Gesellschaft (vgl. Stephenson, 1967). Die Frage „Was ist wahr?“ wird uns daher zunehmend beschäftigen, erst recht sollten Ansätze wie der skizzierte VR-Journalismus sich etablieren. Eine Stärkung der Medienkompetenz erscheint daher wichtiger denn je.


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Dr. Benjamin Bigl

Dr. Benjamin Bigl

Der Autor ist Postdoc am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster und koordiniert dort ein DFG-Projekt zu kommunikativen Mitteln der barrierefreien Kommunikation. Er leitete bis 2020 das behördenübergreifende Pilotprojekt „Medienpädagogisches Zentrum+“ (MPZ+) zur Stärkung und Förderung außerschulischer Medienbildung und -kompetenz. Er studierte Kommunikationswissenschaften, Journalismus und Geschichte und wurde 2014 an der Universität Leipzig mit einer empirischen Studie über die Nutzung und die Wirkung von virtuellen Videospielen promoviert. Zwischen 2015 und 2018 war er zudem Programmdirektor des Double-Degree-Masterprogramms Global Mass Communication/Journalism an der Universität Leipzig, der in Ko-operation mit der Ohio University (USA) betrieben wurde. Er forscht und lehrt über empirische Forschungsmethoden, zur Nutzung und Wirkung digitaler Medien und Computerspiele, zu Themen und Herausforderungen der digitalen Medienbildung sowie der Umweltkommunikation. Publikationen u. a.: Medienkompetenz in Sachsen. Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft (mit M. Schubert; Dresden: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, 2020; 100 Jahre Kommunikationswissenschaft in Deutschland (mit M. Beiler; Konstanz: UVK, 2017), Virtuelle Computerspielwelten (Köln: Herbert von Halem Verlag, 2016), Playing with Virtuality, Theories and Methods of Computer Game Studies (mit S. Stoppe; Frankfurt: Peter Lang, 2013).

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Literatur

  • Bentele, G. (2006). Wirklichkeit. In G. Bentele, H.-B. Brosius & O. Jarren (Hrsg.), Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft (S. 311–312). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Bigl, B. & Schubert, M. (2021): Medienkompetenz in Sachsen. Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft. Dresden: Landeszentrale für politische Bildung.
  • Bigl, B. (2016). Virtuelle Computerspielwelten. Rezeption und Transfer in dynamisch-transaktionaler Perspektive. Köln: Herbert von Halem Verlag.
  • Bühl, A. (2000). Cyberkids. Empirische Untersuchungen zur Wirkung von Bildschirmspielen. Münster: LIT Verlag.
  • Feyder, M. (2018): VR-Journalismus: Ein Handbuch für die journalistische Ausbildung und Praxis. Berlin: Springer VS.
  • Friesen, H. (2001). Philosophische Dimensionen des Problems der Virtualität in einer globalen Mediengesellschaft. Beschreibung eines Forschungsprojektes. Oldenburg: BIS Verlag.
  • Fritz, J. (2004). Das Spiel verstehen. Eine Einführung in Theorie und Bedeutung. Weinheim: Juventa.
  • Gibson, W. (2000). Neuromancer. New York: Ace Books.
  • Heilig, M. L. (1992). Cinema of the Future [urspr. 1955]. Presence, 1(3), 279–294.
  • Heineken, E. & Schulte, F. P. (2007). Charakteristika des Virtual Reality-Mediums als Determinanten der intermodalen Informationsintegration in einer hybriden Realität. Zeitschrift für Medienpsycho-logie, 19(1), 14–22.
  • Köhler, T., Kahnwald, N. & Reitmeier, M. (2008). Lehren und Lernen mit Multimedia. In B. Batinic (Hrsg.), Medienpsychologie (S. 477–502). Heidelberg: Springer.
  • Lem, S. (1980). Summa technologiae. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Berlin: Verlag Volk und Welt.
  • Maletzke, G. (1964). Grundbegriffe der Massenkommunikation: Unter besonderer Berücksichtigung des Fernsehens. Mit einer Einleitung von Gerhard Lanius. München: Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht.
  • Paech, A. (2000). Das Aroma des Kinos. Filme mit der Nase gesehen: Vom Geruchsfilm und Düften und Lüften im Kino. In I. Schenk (Hrsg.), Erlebnisort Kino (S. 68–80). Marburg: Schüren.
  • Reng, R. (2008): Generation Playstation. Messi und Christiano Ronaldo sind noch besser als ihre virtuellen Abbilder. Frankfurter Rundschau, S. 23.
  • Riva, G. (2005). Virtual Reality in Psychotherapy: Review. Cyberpsychology & Behavior, 8(3), S. 220–230.

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