Text/Interview: Björn Brückerhoff
Bild: Christopher Michel (mit freundlicher Genehmigung von Howard Rheingold)
Social Media ist mal als ganz gute Idee gestartet. Während man in den 90er-Jahren im Web noch oft auf zeitungsähnliche Einseitigkeit setzte und die Nutzer allenfalls Leserbriefe per E-Mail senden durften, entwickelte sich nach dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 eine neue Generation von Anwendungen. Die Nutzerzahlen stiegen – davon weitgehend unabhängig – ohnehin weiter stark an und neue Geschäftsmodelle wurden möglich. Statt die Nutzer mit Inhalten zu berieseln, setzte man nun darauf, die Nutzer die Inhalte liefern zu lassen und gab ihnen die nötigen Werkzeuge dafür an die Hand. Die Unternehmen stellten die Plattformen zur Verfügung und konzipierten (im Wesentlichen intransparente) Algorithmen, mittels derer die Inhalte zu den Nutzern gelangen sollten – und umgekehrt.
Dr. Björn Brückerhoff, geb. 1979 in Bielefeld, hat Neue Gegenwart gegründet und ist Herausgeber, Chefredakteur und grafischer Gestalter des Magazins. Grimme Online Award- und Lead Awards-Preisträger. Studium (Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft und Psychologie, M. A.) und Promotion (Kommunikationswissenschaft) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Industriekaufmann (Bertelsmann), Medienpraktiker seit 1996. Seine Schwerpunkte in Lehre, Forschung und Publikationstätigkeit sind die gesellschaftlichen und ökonomischen Wirkungen des digitalen Medienwandels. Freiberuflich tätig als Journalist, Autor, Dozent und grafischer Gestalter: Büro Björn Brückerhoff.
Internet-Intellektuelle, die bereits im Usenet den Traum einer Agora gelebt hatten, frohlockten. Autoren wie Douglas Rushkoff, die mit der Verbreitung des Internets schon weit vor Social Media nichts weniger als eine neue Renaissance kommen sahen, waren beglückt. Und dann passierte das, was im Nachhinein völlig naheliegend erscheint: Der Zugang zur Öffentlichkeit im Internet war frei und weitgehend unreguliert, keine Redaktion wählte aus, was zu sehen war, also erkannten Unternehmen und politische Akteure (Parteien aller Richtungen, politische Bewegungen) die Potenziale der Technik für sich. Durch die Vermischung von privater und öffentlicher Kommunikation in den Social Networks reichte der Arm der professionellen Kommunikation auf einmal bis in den Freundeskreis: a brand like a (Facebook) friend. Douglas Rushkoff hat die Folgen dieser Entwicklung 2014 eindrucksvoll in seiner TV-Dokumentation Generation Like dargestellt.
Eine andere wichtige Stimme der Vernunft ist Howard Rheingold, heute 72 Jahre alt, Internet-Vordenker, Sozialwissenschaftler, wohnhaft in Kalifornien und nach Gesprächen 1999 und 2003 jetzt das dritte Mal im Neue Gegenwart®-Interview.
Rheingold hatte schon durch sein 1993 erschienenes Buch "Virtual Community — Homesteading on the Electronic Frontier" (vgl. Rheingold 2003, Link zum Volltext) den Begriff der virtuellen Gemeinschaft geprägt. In "Smart Mobs" prognostiziete er 2002, fünf Jahre vor dem Aufkommen der ersten Smartphones, die Vermischung von Virtualität und physischer Welt über ortsbezogene Social Media-Netzwerke auf Mobiltelefonen (vgl. Rheingold 2002). Die Leute lernen sich über das Internet kennen, bilden Gemeinschaften und koordinieren ihre Interessen. Die Masse nutzt die Eigenschaften virtueller Communitys, nur jetzt nicht mehr vor dem Computer, sondern auf der Straße, im Einkaufszentrum, bei Demonstrationen, im Krieg (vgl. Brückerhoff 2003). Das Potenzial schien gewaltig.
Manifestiert haben sich die ersten Beispiele dieses Phänomens als sogenannte Flash Mobs, also spontan organisierte Zusammenkünfte Fremder, die sich nach erfolgter Aktion so schnell wieder auflösen, wie sie entstanden sind. Das verlief zumeist harmlos bis absurd, etwa als dadaistische Performance in einem Hamburger Möbelhaus, wo sich eine Menschentraube vor einem Sofa einfand und gemeinsam lautstark verkündete: "Das ist aber ein schönes Sofa". Zugleich zeigte sich das Potenzial bei politischen Aktionen oder Krisen. Die Occupy-Bewegung nutzte die neuen Möglichkeiten und auch während des sogenannten Arabischen Frühlings kamen sie zum Einsatz, als sich Demonstranten via Social Media koordinierten. Der durchaus umstrittene Begriff der Facebook-Revolution stammt aus diesem Kontext.
Durch die Eingebundenheit von Social Media in den Alltag ihrer Nutzer boten die neuen Plattformen zahllose Möglichkeiten, Daten über praktisch jede Lebenssituation ihrer Nutzer zu erheben. Das hat sich natürlich bis heute nicht geändert. Das Ergebnis sind extrem detaillierte Nutzerprofile, die sich für das präzise Ausspielen von Werbung, aber natürlich auch aller anderen denkbaren Inhalte nutzen lassen. Verständlicherweise euphorisierte das Plattformanbieter, Werbetreibende, politische Akteure und Behörden.
Jahrelang haben Intellektuelle wie Howard Rheingold eine bessere Förderung der Medienkompetenz der Nutzer gefordert. In seinem neuesten Buch, dem 2012 erschienenen Net Smart (vgl. Rheingold 2012), nennt Rheingold fünf Felder, in denen Kompetenzen verstärkt vermittelt werden sollten, um die Medienkompetenz einzelner Nutzer und der Gesellschaft zu stärken: Attention, Crap Detection, Participation, Collaboration und Network Awareness. Die Nutzer sollten laut Rheingold lernen, ihre Aufmerksamkeit besser zu steuern und zu fokussieren, mit Medieninhalten generell kritischer umzugehen und die Recherchemöglichkeiten, die zum Beispiel das Internet bietet, auch zu nutzen. Zudem sollten sie aktiv und gemeinsam mit anderen an der Gestaltung des Internets mitwirken und die Zukunft nicht den Internetkonzernen überlassen. Zwischenzeitlich geht Rheingold jedoch noch weiter. Mit besserer Bildung und Kompetenzförderung könne man der Lage nicht Herr werden, schreibt er in einem seiner neueren Artikel "Democracy is losing the online arms race" (Rheingold 2020). Zusätzlich sei notwendig, die Angebote der Internetkonzerne zu reformieren und die Konzerne selbst zu regulieren. Rheingold kritisiert beispielsweise das Microtargeting, das Unternehmen wie Facebook aufgrund der erhobenen Datenfülle über ihre Nutzer sehr präzise durchführen können. Neben Produkten seien auch politische Meinungen auf diese Weise problemlos an die Nutzer zu bringen. Der Skandal um Cambridge Analytica, bei dem zudem rechtswidrig erworbene Datenbestände zum Einsatz kamen, zeige dies. Unterstützt werden die algorithmengestützten Prozesse durch Menschen, die beispielsweise im Auftrag politischer Parteien professionalisiert Diskussionen stören oder Fake News und Propaganda verbreiten und sich dadurch von den auch als Trollen bezeichneten regulären Stänkerern unterscheiden, die das aus eigenem Antrieb tun – und zwar schon immer. Das Problem ist, dass eine Beschränkung dieser Möglichkeiten für Social Media-Konzerne zugleich bedeutet, das eigene Geschäftsmodell grundlegend zu verändern. Rheingold: "Facebook can't turn off the part that can covertly manipulate the public sphere without turning off its own revenue stream" (Rheingold 2020). Das gilt natürlich auch für Google und seine anderen Marken, etwa Youtube.
Howard Rheingold bezeichnet den Konflikt zwischen den Aufklärern und den Meinungsmanipulatoren, die die Demokratie gefährdeten, als Wettrüsten (vgl. Rheingold 2020). Das klingt fast ein wenig optimistisch: Während Intellektuelle wie er eine bessere Medienausbildung und Regulierungen der Internetkonzerne fordern, also argumentativ eher konventionell bewaffnet sind, herrscht auf der anderen Seite Automation und ungezügelte Globalisierung: Gegen die Verbreitungsgeschwindigkeiten der von Programmen (Bots) und professionelle Fake News-Fabriken lancierten Botschaften können selbst die aufgeklärtesten Bürgerinnen und Bürger nur schwer bestehen. Wer schon mal Deepfake-Videos gesehen hat, die professionell produziert über alle Social Media-Kanäle verbreitet und durch persönliche Kommentare von Freunden der Empfänger durch Weiterleitung und Kommentierung bestärkt werden, kann nur noch zweifeln, nicht mehr prüfen. Die Zeit fehlt ohnehin, die Mittel in der Regel auch. Die Urheber sind international verteilt. Also bleibt den Nutzern, im besten Fall, Skepsis, schlimmer noch, es droht ein genereller Vertrauensverlust in die Medien. Ein Weg, der statt in die erhoffte Renaissance (Rushkoff) geradewegs ins digitale Mittelalter führt – wenn wir nicht schon dort angekommen sind. Neue Gegenwart® hat mit Howard Rheingold gesprochen.