Partizipation galt vielen Akteuren in der
Medienbranche über Jahre hinweg als Zauberwort. Vor allem die Vorstellung,
dass sich über Nutzer-Kommentare zu journalistischen Beiträgen die Qualität
der Berichterstattung steigern lassen würde (etwa durch Hinweise auf
vernachlässigte Themen, durch die Korrektur von Fehlern oder gar durch die
Herbeiführung eines gleichberechtigten gesellschaftlichen Diskurses), hat in
der redaktionellen Praxis lange Zeit großen Enthusiasmus hervorgerufen.
Gegenwärtig scheinen die hochtrabenden Hoffnungen allerdings weitgehend
verflogen zu sein. Jedenfalls hat der praktische Umgang mit verschiedenen
Phänomenen der Partizipation gezeigt, dass diese eben nicht automatisch zu
einem besseren Journalismus führen, sondern im Gegenteil häufig
dysfunktionale Effekte mit sich bringen. Aktuellen Problemen der
Online-Kommunikation wie etwa Hate Speech und systematischem Trolling stehen
Journalisten bislang meist hilflos gegenüber – besonders, wenn sie dabei
selbst zur Zielscheibe der Kritik werden.
Zwar hat sich die empirische Journalismusforschung intensiv mit
unterschiedlichsten Formen der Partizipation von Mediennutzern
auseinandergesetzt. Ihre dysfunktionalen „Nebenwirkungen“ sind dabei bis
dato allerdings weitgehend ausgeblendet worden. Was genau bringt Nutzer
journalistischer Web-Angebote dazu, in störende Kommunikationsmuster wie
Flaming oder Trolling zu verfallen? Was ist ihr Urteil über die Funktionen
und Leistungen des Journalismus und der Medien? Was sind ihre genauen Motive
dafür, Journalisten und ihre Berichterstattung zu kritisieren? Und welchen
Umgang wünschen sie sich mit Redaktionen und Gleichgesinnten?
Diese und ähnliche Fragen nimmt eine aktuelle Studie des Instituts für
vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung (CMC) der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften und der Alpen-Adria-Universität in Wien unter
die Lupe. Im Rahmen eines zweistufigen qualitativen Forschungsdesigns wurden
dafür zum einen problemzentrierte Interviews mit Redaktionsverantwortlichen
führender deutschsprachiger Online-Nachrichtenwebsites realisiert – und zum
anderen mit Nutzern, die regelmäßig störende Kommentare auf diesen Websites
veröffentlichen. Die insgesamt 22 Gespräche wurden anschließend
transkribiert und einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.
„Troll“ oder „Glaubenskrieger“?
Die Auswertung ermöglicht einen nuancierten Blick auf aktuelle Phänomene
dysfunktionaler Anschlusskommunikation auf journalistischen News-Seiten. Sie
zeigt, dass es den typischen „Troll“ – zumindest im deutschen Sprachraum –
nicht gibt; stattdessen erscheint es angebracht, störende Kommentierer
anhand ihrer unterschiedlichen Motive zu differenzieren.
Tatsächlich waren Internet-Nutzer, die nur deswegen destruktive Kommentare
posten, weil sie andere belästigen und damit einen geordneten inhaltlichen
Diskurs unterbinden wollen, in der Studie eher die Ausnahme. Eine Mehrzahl
der Gesprächspartner präsentierte sich stattdessen als eine Art
„Glaubenskrieger“. In vielen Fällen sind sie von einem mehr oder weniger
stark ausgeprägten politischen oder anderswie beeinflussten
Sendungsbewusstsein angetrieben, für das sie öffentlich einstehen und das
sie – notfalls mit harten Bandagen – verteidigen. Im Einzelnen lassen sich
wenigstens fünf unterschiedliche Motivgruppen unterscheiden:
-
Wahrheitsfindung: Einige User hinterlassen störende Kommentare, weil sie
nicht weniger als die „ganze Wahrheit“ aufdecken wollen, die aus ihrer Sicht
in vielen professionell gestalteten journalistischen Beiträgen immer wieder
ausgeblendet oder gezielt „vertuscht“ wird.
-
Meinungsbildung: Andere hingegen verfolgen ein weniger absolutes Ziel. Sie
wollen den Journalismus nicht von Grund auf verändern, sondern stattdessen
die Vielfalt der publizierten Meinungen vergrößern. Ihre persönlichen
Sichtweisen (oder mitunter auch ein nachweisbares Expertenwissen zu
bestimmten Themen) verstehen sie dabei als gezielte Beiträge zur
Stimulierung eines breiteren inhaltlichen Diskurses.
-
Provokation: Wieder andere Kommentierer betonen das Element der
Provokation. Sie halten es für eine notwendige und unumgängliche Strategie,
andere Nutzer mit aufreizenden Wortmeldungen herauszufordern, weil sich auf
anderem Wege in der Online-Welt kaum Gehör finden lasse. Allerdings
erscheint ihnen Provokation weniger als Selbstzweck, sondern vielmehr als
bewusst eingesetztes Instrument zur Aufmerksamkeitssteuerung.
-
Aggressionsbewältigung: Daneben gibt es eine Gruppe von Usern, die ihre
Online-Aktivitäten als Akt der Aggressionsbewältigung beschreiben. Sie sind
vom konventionellen Journalismus so enttäuscht, dass sie sich einen Kanal
zum Frustabbau suchen müssen. Und der bietet sich, wie es einer der
Gesprächspartner ausdrückte, „lieber online als im richtigen Leben, oder?“
-
Unterhaltung: Darüber hinaus offenbarten sich einige weitere Kommentierer,
die zugaben, störende Postings nur zum Spaß zu veröffentlichen. Dieser Typus
kommt dem Bild des typischen „Trolls“ vermutlich am nächsten: Er tritt nicht
als Anwalt einer Sache oder Personengruppe auf, sondern möchte sich mit
seinen Inputs in erster Linie auf Kosten anderer amüsieren.
Praktische Erfahrungen mit Online-Kommentaren legen nahe, dass dieser
letztgenannte Nutzertyp auf vielen Nachrichten-Plattformen oft sehr dominant
wirkt. Im Sample der Wiener Troll-Studie war er jedoch erkennbar
unterrepräsentiert – was nicht zuletzt ein methodisches Problem darstellt:
Im Vergleich zu anderen Kommentierern war diese Akteursgruppe deutlich
schwieriger zu erreichen und von einer Mitwirkung an der Interviewserie zu
überzeugen.
In Enttäuschung vereint
Trotz der offenkundigen Unterschiede in den Motiven disruptiver Kommentierer
sind nahezu alle Teilnehmer der Studie in einem zentralen Merkmal vereint:
ihrer Unzufriedenheit mit der Qualität journalistischer (Massen-)Medien, die
sie kritisch und oft im scharfen Ton zum Ausdruck bringen.
Im Verlauf der Interviews wurde schnell deutlich, dass es sich bei einem
Großteil der Gesprächspartner um intensive und versierte Mediennutzer
handelt. Viele von ihnen gaben zu Protokoll, nahezu die gesamte Freizeit –
oftmals bereits früh am Morgen vor der Arbeit, fast immer bis spät in die
Nacht – für die Lektüre und Kommentierung journalistischer Beiträge zu
opfern. Rezipiert wird dabei eine große Bandbreite unterschiedlicher
Medienformate – sowohl etablierte „Mainstream“-Medien als auch
spezialisierte Publikationen aus dem alternativen Spektrum. Fast ohne
Ausnahme ließen die Gesprächspartner durchblicken, dass ihre Medienrezeption
von hohen normativen Ansprüchen begleitet ist, wonach Journalisten ein
breites Spektrum an gesellschaftlichen Aufgaben (Informationsfunktion,
Meinungsbildungsfunktion, Kritik- und Kontrollfunktion, Integrationsfunktion
usw.) zu erfüllen hätten.
Allerdings werden diese Erwartungen bei den Teilnehmern der Studie ganz
überwiegend enttäuscht. Immer wieder ließen sich in den Interviews Anzeichen
für eine generelle Unzufriedenheit mit dem aktuellen
Nachrichten-Journalismus herausarbeiten, die sich mit einer langen Liste
wiederkehrender Kritikpunkte präzisieren lässt. So wird „den Medien“ etwa
eine einseitige Themenauswahl und ein Mangel an Meinungsvielfalt
vorgeworfen; ebenso kritisieren die Gesprächspartner eine vermeintliche
Parteilichkeit vieler Journalisten, eine Überrepräsentation bestimmter
(politischer) Eliten, eine Dominanz des Agentur-Journalismus, einen
allgemeinen „Herdentrieb“ in der Branche sowie einen zweifelhaften Umgang
mit Fehlern.
Mängelbeschreibungen wie diese führen unweigerlich zu einer Erosion des
Vertrauens in professionell gestalteten Journalismus, die die interviewten
User nicht nur im Gespräch für die Studie zum Ausdruck brachten, sondern vor
allem in regelmäßigen öffentlichen Kommentierungen der kritisierten
Berichterstattung. Die Nutzung der Kommentarfunktion auf journalistischen
Nachrichten-Websites ist dabei nur ein verwendeter Kanal von vielen (auch
wenn dieser von den Studienteilnehmern besonders intensiv frequentiert wird:
manche Akteure berichteten von mehr als 100 solcher Wortmeldungen pro Tag).
Häufig wird dieser allerdings noch flankiert durch kritische Postings auf
Blogs und via Social Media – oder gar durch direkte Anrufe in der Redaktion.
Konstruktive Strategien zum Umgang mit Nutzer-Kommentaren
Derartige Einlassungen werden von journalistischen Akteuren oft als lästig
empfunden – erst recht, wenn gängige Konversationsregeln dabei auf der
Strecke bleiben. Jedoch verdeutlicht die Wiener Studie, dass auch provokativ
vorgetragene Kommentare von Online-Nutzern im Kern häufig mit einem
inhaltlichen Anliegen verbunden sind, das anderen Formen der Medienkritik
nicht unähnlich ist. Indem die Studie mit ihrem qualitativen
Forschungsansatz versucht, die Ziele und Beweggründe dieser webbasierten
Medienkritik zu verstehen, liefert sie neue Einsichten und Argumente für die
Entwicklung konstruktiver redaktioneller Strategien zum Umgang mit
Nutzer-Kommentaren – und damit eine empirische Datenbasis, die im Zeitalter
„postfaktischer“ Nachrichtenagenden umso wichtiger erscheint.
Jedenfalls stellt nur ein kleiner Teil der interviewten Kommentierer den
Journalismus im deutschen Sprachraum ganz grundsätzlich in Frage. Die
meisten Gesprächspartner warten demgegenüber mit durchaus praxisnahen
Anregungen auf, wenn sie nach ihren Ideen zur Erhöhung journalistischer
Qualitätsstandards gefragt werden: Mehr Transparenz in den redaktionellen
Abläufen wird da gefordert, ein besseres Fehler-Management, mehr
Berichterstattung aus erster Hand oder auch verbesserte Aus- und
Weiterbildungsmöglichkeiten für Journalisten – um nur einige Beispiele zu
nennen. Mehr als alles andere erwarten die Studienteilnehmer aber eine
erhöhte Bereitschaft zum Dialog, der eine inhaltliche Auseinandersetzung mit
den vorgetragenen Kritikpunkten überhaupt erst möglich machen würde. Aus
Sicht der Nutzer ist diese Bereitschaft in deutschsprachigen Redaktionen
bislang noch kaum ausgeprägt. Ohne Frage wäre für den Journalismus viel
gewonnen, wenn die Vertreter der Profession gerade diese Ermahnung ernst
nehmen und auch ihren unliebsamsten Kritikern dann und wann ein offenes Ohr
schenken würden. |
Der Autor
Dr. Tobias
Eberwein ist Senior Scientist und Forschungs-gruppenleiter am Institut für
vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung (CMC) der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften und der Alpen-Adria-Universität in Wien. Seine
Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Medienethik und Media Accountability, Medienstrukturen und Media Governance, Journalismus,
Medienwandel sowie in der komparativen Medien- und Kommunikationsforschung.
2013 und 2014 hat er Vertretungs-professuren am Institut für Journalistik der
TU Dortmund und am Institut für Kommunikations-wissenschaft der TU Dresden
übernommen. Bis heute ist er zudem als Lehrbeauftragter an der Hamburg Media
School aktiv. |