Welche Farbe hat das Alter?
Text:
Dirk Kasten
Bild:
Photocase.de (Ausschnitt)
Farbenfroh muss es
sein, das Alter: „The Greys“, „Generation Gold", „Silver Surfer" sind
gebräuchliche Beschreibungen für Senioren. In der Bemühung, ein treffendes
Konsumentenbild für die Generation 60
plus aufzustellen, hat das Marketing
wahrlich Farbe in das sonst häufig triste Geschäft gebracht. Leider aber
auch Verwirrung. Auf welche Farbe kann man guter Dinge setzen?
„Die Wahrheit ist ein geschliffener Diamant, sie hat viele Facetten.“
Sprichwörter überleben gesellschaftlichen Wandel,
Wirtschaftsdynamik und hektische Zeiten. Das lässt sich auf einen simplen
Grund zurückführen, denn sie sind Träger von Wahrheiten. Facettenreich
– wie
ein Diamant
– erscheint auch der öffentliche Altersdiskurs. Je nach
Blickwinkel, so könnte ein Schluss aus dem Sprichwort lauten, erstrahlt das
Bild von „den Alten" in einer anderen Farbe. Wie man es dreht und wendet,
der Winkel des Betrachters bestimmt den Farbton, in dem ein Diamant funkelt.
Eine entscheidende Perspektive ist die der Entscheider in Marketing und
Medien, denn sie haben großen Anteil an der Konstruktion des öffentlichen
Bildes.
Es „graut" mir vor der Zukunft.
Märkte sind immer abhängig von gesellschaftlichen Wertvorstellungen.
Wenn also, wie in diesem Fall, den Industriestaaten ein drastischer
demografischer Wandel bevorsteht, wird das Produkt- und Medienangebot sich
diesem beugen müssen. Das prophezeite „Altersbeben" wird die Staaten
Nordamerikas, Westeuropas und auch Japan zwar unterschiedlich intensiv
treffen, sie aber gleichsam vor neue Herausforderungen stellen. Den „Großen
der Welt" steht ein sozialer Bruch bevor.
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AUSGABE 44
DIE NEUEN JUNGEN ALTEN
STARTSEITE
EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
INTERVIEW MIT PROF.
PETER WIPPERMANN
DIE NEUEN
ALTEN
ZWEITER FRÜHLING.COM
NEUE ZEITRECHNUNG
DIE HEIMLICHE ZIELGRUPPE
WELCHE FARBE HAT DAS ALTER?
DÜRFEN SIE
SCHON/MÜSSEN SIE NOCH?
SEXY GREISE UND WEISE DAMEN
GLEICHZEITIG ALT UND JUNG
GESCHICHTE DES ALTERS IN DER ANTIKE
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um die
Erb-Versteuerung sind erste politische Vorbereitungen darauf.
Die Tendenz der alternden Gesellschaft ist nichts Neues und erst recht keine
Überraschung: Demografien kippen nicht von heute auf morgen. In einem Land
entwickeln sie sich gegenläufig zur Dynamik der Wirtschaft; heißt es in der
Volkswirtschaft. Die Betriebswirtschaft wiederum verlangt, dass die
Unternehmen sich den Bedingungen des Marktes anpassen. Und genau das tun
sie.
Erwartet uns also eine gigantische Welle von
„Butterfahrten", „Blutdruckmessern“, „Schlagerfestivals", „Die
Schwarzwaldklinik" oder, viel passender noch, „Der Alte"?
Die graue Eminenz
Früher fanden Senioren nicht die gleiche Aufmerksamkeit, die ihnen heute
geschenkt wird. Noch vor 15 Jahren kam das Erscheinungsbild dem Stereotyp
„graues Haar, Kleingarten, Audi 80 mit Hutablage" gleich. Knappe
Renten, Bedarfs- und Vernunftkäufe, graue oder pastellfarbene Kleidung. Die
Senioren spielten eine stille Sonderrolle im Hintergrund, die lange
unterschätzt wurde.
Allen voran die Politiker erkannten, dass sie ohne die Stimmen der Rentner
kaum noch eine Wahl gewinnen konnten. Auch die Zahl der Produkte und
Medienformate, die sich gezielt auf ihre Bedürfnisse ausrichteten, stieg
stetig. Der Stein war ins Rollen gekommen. Müssen wir uns angesichts der
kontinuierlich alternden Gesellschaft auf weitere Medienformate mit Ralf
Siegel und Karl Moik gefasst machen?
Eine Antwort auf diese Frage könnten die Öffentlich-Rechtlichen selbst
liefern: die sich kontinuierlich vollziehende Verjüngung der Volksmusik- und
Schlagerkultur. Karl Moik und Carmen Nebel sind abgesetzt und das überholte
Rentnerbild gleich mit ihnen. An ihre Stelle treten neue Gesichter, die den
Verjüngungstrend unterstreichen, zum Beispiel Florian Silbereisen.
Die Silver Surfer
Nein, natürlich ist der aufgehende Stern am Schlagerhimmel mit 23 Jahren,
den die „Bild" angesichts der jüngsten Erfolge bereits als Erben Thomas
Gottschalks betitelte, nicht zu den Senioren zu zählen. Aber er verkörpert
geradezu sinnbildlich, wonach die „neuen Alten" sich sehnen: Sie wollen sich
jung fühlen, auch wenn sie länger alt sein werden. „Anti-Aging",
Schönheits-OPs und „Viagra" sind Produkte ihrer Sehnsüchte. Das gefühlte
Alter, so beschreiben es die Spezialisten, liegt heute ungefähr 15 Jahre
unter dem realen. Der Sechzigjährige fühlt sich wie 45 und lebt auch so.
Beispiele wie Tina Turner (geboren 1939) oder Mick Jagger (geboren 1943) verkörpern das
Bild nur allzu gut.
Hinzu treten Visionen, die von der Werbung verbreitet werden. Der
Sechzigjährige, der Fallschirm springt, sein Surfbrett im Geländewagen zum
Strand fährt und seinen Lebensabend dem Spiel mit den Wellen und der Sonne
widmet. Die aktuellen Senioren haben viel durchgemacht: den Krieg als Kind
erlebt, selbst für den Babyboom gesorgt und den wirtschaftlichen Aufschwung
in ihrer produktiven Phase getrieben. Zudem waren sie äußerst sparsam und
können jetzt ohne Sorge um ihren Nachwuchs, denn auch er hat von den fetten
Jahren profitiert, das Ersparte verprassen. In diesem Fall bedeutet das die
Abkehr vom Spießertum und Kleingarten, den Audi (jetzt gern ohne Hutablage,
aber mit Sportheck) schließt es aber nicht unbedingt aus.
Die Generation Gold
Die Zielgruppe der Zukunft, da sind sich die meisten Experten einig, ist
die Generation der heute 30- bis 49-Jährigen, die so genannten Babyboomer.
In den Industrienationen waren sie schon immer die zahlenmäßig stärkste
Altersgruppe und somit auch Kernzielgruppe vieler Marketingoffensiven.
Wenngleich das Rentenalter für sie später beginnen wird, sie wird immer noch
die Bevölkerungsgruppe mit der stärksten Kaufkraft sein. Das lässt sich
nicht nur aus ihrer reinen Masse schließen, denn die folgenden Generationen
werden deutlich geringer in der Zahl sein, sondern auch daraus, dass sie
zusätzlich zum miterlebten wirtschaftlichen Aufschwung auch noch beachtliche
Erben antreten wird.
Die ehemaligen Babyboomer werden ihren eigenen Weg gehen. Dieser, so wird
gemutmaßt, führt weg vom Surfbrett und Fallschirm und hin zu mehr Realismus
und Würde. Nicht mehr „Anti-Aging", sondern „Better-Aging" ist eines der
Schlagwörter. Sie könnten sogar das jugendliche Gesellschaftsideal ablösen,
denn der fast selbstverständliche Status als Rentner, der die nötigen Mittel
und auch die Zeit hat, sein Leben zu genießen, wird den zahlenmäßig
unterlegenen, folgenden Generationen nur noch schwerlich zugänglich sein.
Eine erste Rückbesinnung auf Werte wie Erfahrung und Reife wurde bereits
durch die Dotcom-Krise angestoßen, an der vor allem unerfahrene Manager
scheiterten.
Das Marketing wird sich stärker an die Bedürfnisse der Alten anpassen
müssen, denn diese unterscheiden sich stark von denen der Jugend.
Beeinträchtigte Sehfähigkeit, das Öffnen von Verpackungen oder geringe
Kompetenz im Umgang mit neuen Technologien stellen spezielle Schwierigkeiten
für Senioren dar.
Die neue Natürlichkeit
Den silber-grauen Audi 80 gibt es kaum noch. Der rudernde Rentner, der
seine Kraft angeblich aus mehr als einem Herz zieht, existiert zwar, was die
Altersrekorde bei Marathonläufen belegen, doch auch er ist nur die Ausnahme.
Golden funkeln im Moment höchstens die Zahnimplantate einiger Ruheständler.
Keines der Bilder gibt ein wirklichkeitsgetreues Bild wieder! Und genau dort
liegt das Problem.
Sicherlich ist eine stärkere Individualisierung des Altenbildes nicht
abzustreiten, doch in vielen Fällen ist ein individueller Marketingansatz
keine wirklich lukrative Alternative für die breite Masse der Unternehmen.
Markenmanager und Programmbeauftragte sollten damit beginnen, sich am
Realbild zu orientieren, anstatt zu versuchen, ihr eigenes Ideal zu
schaffen. Nur wenige der angehenden Senioren können sich eins zu eins mit
dem heutigen Mick Jagger identifizieren, denn schließlich wissen sie auch,
dass er früher nicht diese zwanghaft massenkompatible Musik gemacht hat. Sie
vertrauten ihm damals mehr, denn er war glaubwürdiger, natürlicher, einfach
mehr er selbst.
Silber und Gold ... nie gewollt!
Senioren wollen für voll genommen werden. Heizdecken- und
Kaffeefahrt-Offensiven sind keine Lösung. Sondern ein Indiz für die
Ratlosigkeit von Unternehmen, ältere Menschen irgendwie zu erreichen. Dass
sie damit die Loyalität einer kompletten Generation zerstören, ist trauriger
Nebeneffekt. Die Werbeindustrie muss sich darum bemühen, das verspielte
Vertrauen wieder aufzubauen, sonst geht die goldene Erwartung an die Zukunft
mit Sicherheit nicht auf.
Eine Möglichkeit ist die Konstruktion eines Altenbildes, indem sich die
Senioren auch wirklich wieder erkennen. Und so schlecht stehen die Chancen
dafür gar nicht: Die meisten der Babyboomer wollen nicht um jeden Preis
auffallen, sich täglich neu beweisen müssen, sondern lediglich ihren Stil
bewahren, den sie ihr Leben lang entwickelt haben.
Seinen eigenen Stil auch im Alter zu leben heißt also weder, sich
neonfarbene Westen anzuziehen und Techno zu hören, noch allabendlich zu Karl
Moik vorm Fernseher zu schunkeln. „Better-Aging", um das Schlagwort nochmals
aufzugreifen, heißt für Marketing und Medien, „offene Ohren“ für die wahren
Bedürfnisse der erfahrenen und kritischen Zielgruppe zu haben. „Die Alten"
wollten nie als Markt wahrgenommen werden. Soviel dürfte feststehen. Je
künstlicher und kommerzieller ihr öffentliches Bild ausfällt, desto stärker
werden sie sich davon distanzieren.
„Je feiner ein Diamant geschliffen ist, desto stärker funkelt er. So ist es
auch mit dem Menschen,“ besagt ein anderes altes Sprichwort.
Es liegt in der Natur des Diamanten, dass er in
verschiedenen Spektralfarben funkelt. Silber und Gold jedoch sind
Kunstfarben, die der Natur des Steines fremd sind, in ihnen wird er nie
erstrahlen.
Es erscheint
ratsam, lieber den Produkten für die kaufkräftigen Senioren den letzten
Schliff zu geben, indem ihre Bedürfnisse aufgegriffen werden, als zu
versuchen, „den Alten" künstliche Bedürfnisse aufzuzwingen. Menschen
passen sich nur selten künstlichen Idealen an. Sinnvolle und bedienbare
Produkte werden sie aber allzu gern in ihren Alltag integrieren, um die
überflüssigen endlich loszuwerden. Ein bisschen mehr Natürlichkeit, ein
Hauch mehr Feingefühl, das wäre schon mal ein guter Anfang. Und wer weiß,
vielleicht kommt der Rest dann, fast wie natürlich, ganz von alleine.
Wer
will schon einen perfekten Diamanten?
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