Neue Gegenwart® – Magazin für Medienjournalismus
Neue Gegenwart® – Magazin für Medienjournalismus – Seit 1998 publiziert von Björn Brückerhoff

Editorial Nr. 61

Neue Gegenwart®
Lead Awards-Ausstellung in den Deichtorhallen, 2010

Zerrspiegel der Gesellschaft

Liebe Leserinnen und Leser,

die erste Generation von Internet-Vordenkern wird seit Anfang der 90er-Jahre – in Anlehnung an Literati – als Digerati bezeichnet, also etwa als die digital Wohlbelesenen. Diese Intellektuellen mit Digitalfokus initiierten und prägen den gesellschaftlichen Diskurs über das Internet seit Jahrzehnten und waren damit für die ganz großen Visionen und ihre Umsetzung zuständig – nicht nur philosophisch, sondern oft auch ökonomisch. Zu ihnen zählen Publizisten, Manager und Software-Entwickler. Bei Edge.org, der Online-Plattform von Digerati John Brockman, kann man die charakterisierenden Beinamen der Digerati nachlesen: Microsoft-Gründer Bill Gates ist – naheliegenderweise – "The Software Developer", der VR-Pionier, Autor und Friedenspreisträger Jaron Lanier ist "The Prodigy", der Astrophysiker und Internetkritiker Clifford Stoll "The Sceptic". Edge.org schreibt: "They are the doers, thinkers, and writers who have tremendous influence on the emerging communication revolution. They are not on the frontier, they are the frontier."

Angesichts der Entwicklung, die das Internet genommen hat, wirken jedoch selbst führende Intellektuelle überrascht. Schließlich ist es noch nicht lange her, dass viele mit dem Internet große Hoffnungen verbanden: Dort, wo der Zugang unzensiert war, sollte das Netz die Demokratie fördern, den Weg ebnen zu neuen, gemeinsam erarbeiteten Erkenntnissen und zu bislang unerreichter Produktivität, Kreativität und globaler Vernetzung. Dass die professionell orchestrierte Kommunikation im Internet an Bedeutung gewinnen würde, hat die intellektuelle Elite durchaus seit Jahren befürchtet. Dass das allerdings so zügig, in diesem Ausmaß und auf diese Weise geschehen würde, die wir jetzt beobachten können, ist tatsächlich verblüffend. Die professionell organisierte Übernahme der Öffentlichkeit durch Bots, Troll-Armeen und andere Auswüchse konnten selbst die Digerati kaum prognostizieren.

Das Netz hat von Anfang an natürlich auch privaten Stänkerern den Zugang zur Öffentlichkeit ermöglicht und zugleich gehofft, das die Nutzer von Social Networks und vor allem von Wikis regulierend eingreifen. Das ist nicht neu. Stattdessen können vor allem automatisiert ablaufende Prozesse Sorge bereiten: Programme, die den öffentlichen Diskurs befallen, durch die Verbreitung von Fake News auf die Meinungsbildung einwirken und die Aufmerksamkeit zu lenken versuchen. Das kann rund um die Uhr geschehen. So sehen wir statt eines gesellschaftlichen Spiegelbilds ein groteskes Zerrbild, das extreme Positionen und gezielte Manipulation – etwa im Auftrag politischer Kräfte – zum Normalfall werden lässt. Möglich ist dies auch durch die technischen Rahmenbedingungen, die von Internetkonzernen geschaffen werden. Der Journalismus, der orientieren und für Aufklärung sorgen könnte, wirkt im Vergleich zu den Manipulatoren eher konventionell. Journalismus soll Vertrauen bilden und verdienen, er soll glaubwürdig sein. Für Glaubwürdigkeit braucht es aber auch eine Nachfrage. Noch ist sie da.

Einige der Digerati waren bereits in Neue Gegenwart® vertreten, beispielsweise die Journalistin und Investorin Esther Dyson ("The Pattern-Recognizer", Ausgabe 57), die Publizistin Linda Stone ("The Catalyst", Ausgabe 51) oder, in dieser Ausgabe nach 1999 und 2003 bereits zum dritten Mal, Howard Rheingold. Rheingold – passend: "The Citizen" –  erklärt seit Jahren die Funktionsweisen von Medien und fördert die Medienkompetenz seiner Leser, Zuschauer und Studierenden. Neue Gegenwart® hat mit ihm über die jüngsten Entwicklungen im Internet und über seine Lösungsvorschläge für das gesprochen, was er in einer seiner neuesten Veröffentlichungen als Wettrüsten bezeichnet. Dieses Wettrüsten findet zwischen den professionellen Meinungsmanipulatoren und denjenigen statt, die sich der Wahrheit noch verpflichtet fühlen.

Neue Gegenwart®-Autor Stefan Bieletzke beleuchtet in dieser Ausgabe eine mögliche Entwicklung der Künstlichen Intelligenz und fragt sich, ob eher eine Utopie oder eine Dystopie bevorsteht. Silke Kettig schreibt über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Journalismus, Alexander Bode beleuchtet algorithmische Entscheidungen im Management und ethische Fragen der KI im Alltag. Marcus Bölz wirft einen Blick auf das Management von Redaktionen in sich verändernden Zeiten.

Neue Gegenwart® erscheint ab dieser Ausgabe zwei Mal jährlich  – in einer Frühjahrs- und einer Herbstausgabe. Das Layout des Magazins ist jetzt auch für mobile Geräte optimiert. Seit 1998 ist das der fünfte Relaunch des Magazins (siehe Bild unten). Natürlich bleiben die Ausgaben ab 2003 im Volltext kostenlos verfügbar.

Neu ist auch der kuratierte Neue Gegenwart®-Newsletter. Wenn Sie ihn abonnieren, liefere ich Ihnen jeden Freitag pünktlich zum Wochenende (mit mehr Lesezeit) eine Auswahl intelligenter Texte zur digitalen Transformation.

Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen

Björn Brückerhoff
Herausgeber/Chefredakteur/Editorial Design

Die Entwicklung des Magazins von 1998-2020
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