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Wozu braucht Internetkunst noch Museen, Herr Weibel?

Interview mit ZKM-Chef Peter Weibel

 
Interview: Björn Brückerhoff    Illustration: Kristina Schneider  

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Neue Gegenwart hat mit Peter Weibel, Direktor des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe, über die Veränderung der Kunstwahrnehmung, das Verschwinden des Künstlers und über die Medienkunst der Zukunft gesprochen.


Neue Gegenwart: Herr Professor Weibel, w
as sind für Sie die wichtigsten Eigenschaften aktueller Internet-Kunst?

Peter Weibel: Aktuelle Internet-Kunst ist ortsungebunden, disloziert und asynchron, zudem ein Multi-User (Benutzer) und Multi-Player (Spieler) Medium. Aus diesen Eigenschaften heraus entwickelt sich eine ganz neue Rezipienten- und Konsumentenkultur. Indem die Internet-Künstler nur noch die Infrastruktur einer Arbeit, die Schnittstelle, die Plattform vorgeben, der Inhalt jedoch maßgeblich durch die Rezipienten und Konsumenten bestimmt wird, werden Amateure zu Experten.


Neue Gegenwart: Wie unterscheidet sich die Internet-Kunst der Gegenwart von der Internet-Kunst der 1990er Jahre?

Peter Weibel: In den 1990er Jahren, als das Internet zum ersten Mal für Benutzer außerhalb von Militär und Bildungs- und Forschungseinrichtungen zugänglich war, wurde das neue Medium von den Künstlern mit Begeisterung angenommen. Von 1994 an entstanden erste Arbeiten, die sich die spezifischen Eigenschaften des Internet zunutze machten. Mark Napier entwickelte z. B. einen so genannten Shredder (1998), der beliebige Websites zu Datenschrott verarbeitet: Bilder und Text werden regelrecht „geschreddert“. Das belgisch-holländische Künstlerduo Jodi kreierte
Webpages mit Bildern und Codes, die im Netz zu finden waren und schuf dadurch digitale Collagen. Als das World Wide Web noch aus einigen hundert Websites bestand, waren diese ersten Online-Werke von Künstlern eine besondere Sehenswürdigkeit. Allerdings konnte der Besucher/der Konsument diese Websites nur konsumieren, nicht selbst in die Struktur eingreifen oder diese verändern.

Die neuesten Entwicklungen des weltweiten Internet haben dem Konsumenten die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu emanzipieren und sich selbst zum Produzenten von Videos, Fotografien, Filmen und Musik zu machen und sie auch weltweit selbst zu vertreiben. Eine neue Stufe der Interaktivität wurde erreicht. Die Schnittstelle stellt immer noch der Künstler bereit, der Inhalt wird von den Benutzern gesteuert und modifiziert. Der Künstler wird vom Helden und Superstar, zum Dienstleister in der Zivilgesellschaft, der Besucher zum Held und zum Star, zumindest gleichwertig mit dem Kunstwerk und dem Künstler. Im Zeitalter von MySpace.com, Flickr.com, Youtube.com, in dem Millionen von Menschen täglich ihre Fotos, Texte, Videos und Musik gegenseitig austauschen, in dem Millionen von Menschen täglich im Netz eine Plattform für Kommunikation und Kunst finden, hat sich das Feld der Akteure erweitert: mit dem Konsumenten als Aktivisten wird Kreativität und Innovation demokratisiert. User innovation und consumer generated content werden nicht nur die Welt der Massenmedien, sondern auch die Welt der Kunst tief beeinflussen. Das Verhalten des Benutzers hat sich verändert: er stellt eigenen Beiträge ins Netz, er produziert und partizipiert, sei es real oder als Avatar. Das Informationsmedium wird zu einem Kommunikations- und Mitmach-Medium, an dem der User (Benutzer) partizipiert und aktiv mitgestaltet.


Neue Gegenwart: Im Internet entstehen seit einiger Zeit unter den Begriffen „social software“ oder auch „Web 2.0“ Netzwerke aus Personen, die ihr Wissen miteinander teilen und an gemeinsamen Großprojekten wie Wikipedia arbeiten. Kürzlich hat Microsoft ein Programm vorgestellt, das eigenständig Bildmaterial tausender Fotografen dreidimensional kombiniert und so virtuelle Räume aus Bildfragmenten schafft. Werden derartige Trends (wie die soziale Vernetzung) in der Kunst aufgegriffen?

Peter Weibel: Kollektive oder anonyme Autorenschaft, neue Aneignungs- und Kreationstechniken sind die Folgen .


Neue Gegenwart: Welche Trends sind in der Internet-Kunst noch erkennbar?

Peter Weibel: Von zweidimensionalen zu dreidimensionalen virtuellen Kunstwerken, Mischungen aus „augmented reality“ und virtueller Realität, die Welt als YOUniverse, als eine für den User (Benutzer) maßgeschneiderte Welt, die Welt als System, das der Benutzer nicht nur beobachtet, sondern wovon er selbst ein Teil ist. Der YOUser im YOUniverse ist das Ziel.


Neue Gegenwart: Inwiefern spielt es für die Rezeption von Kunst eine Rolle, dass bei Netzwerk-Kunstwerken die Person des Künstlers irrelevant wird?

Peter Weibel: Der Künstler, wie wir ihn heute kennen, war ohnehin nur eine theoretische Fehlkonstruktion des Bürgertums des 19. Jahrhunderts, ein Spiegelbild und Idealbild des „freien“ Unternehmertums, deswegen sprach man auch missverständlich von den „freien Künsten“.

Jetzt zeigt sich, dass der Künstler abhängig ist und die Kunst unfrei oder vom Staat und der Industrie alimentiert. Wirklich frei ist nur der Ohnmächtige, der nichts zu verlieren hat, also der Amateur, der geringste der Brüder, er nimmt die Stelle des Künstlers ein.


Neue Gegenwart:
Wie wichtig ist es für die Wahrnehmung von Web-Projekten als Internet-Kunst, ob das Veröffentlichte als Kunst bezeichnet wird?

Peter Weibel: Die Beobachtung (der Zeitungen etc.) der Beobachtung (des Internet) schafft nur parallele Öffentlichkeiten, keine Hierarchie. Es ist wichtig für die Zeitungen im Netz beobachtet zu werden und es ist wichtig für das Netz in den Zeitungen beobachtet zu werden. Das Netz ist allerdings antropomorph universumsumfangsgleich, zumindest mehr als die Massenmedien Fernsehen, Zeitung und Radio.


Neue Gegenwart: Wozu dienen aus ihrer Sicht Museen für Internet-Kunst, die ja ortsunabhängig betrachtet werden kann?

Peter Weibel: Die Museen werden zu Plattformen der Kommunikation und Interaktion, zeitlich und örtlich ungebunden, jenseits der Öffnungszeiten und jenseits ihrer Mauern. Museen sind eine Plattform von vielen – die anderen sind die individuell wählbaren Plattformen, an denen man sich ins Netz einloggen kann, sei es zu Hause, in einem Café, einer Bibliothek, am Flughafen etc.

Die Kunst des 20. Jahrhunderts stand unter dem Paradigma der Fotografie. In der elektronischen Welt (E-World) und deren elektronischen Medien (E-Media) wird die Kunst des 21. Jahrhunderts unter dem Paradigma des Netzes (Internet) stehen, also müssen sich auch die Museen anpassen .


Neue Gegenwart:
Wird der Internet-Kunst gar erst ihre Bedeutung als Kunst zugeschrieben, wenn man sie in Museen ausstellt? Schließlich kommt es doch sicher zu einer Aufwertung der Kunst, wenn sie in renommierten Häusern zu sehen ist.


Peter Weibel: Ja.


Neue Gegenwart: Und v
erliert die Kunst ihre Aura, wenn jeder Kunst schaffen und sie im Internet veröffentlichen kann?

Peter Weibel: Ja, Gott sei Dank!


Neue Gegenwart:
Wie wichtig ist die Konservierung von Medienkunst? Oder gehört Flüchtigkeit zum Konzept?

Peter Weibel: In erster Linie müssen wir den temporären Charakter elektronischer Kunstwerke bzw. der neuen Medienkunst akzeptieren – und somit berücksichtigen. Aber natürlich ist es enorm wichtig, auch die Medienkunst zu konservieren und zu archivieren. Das stellt uns jedoch seit längerem vor ein enormes Problem – die Kompatibilität der Geräte, der Hardware und Software, auf denen die diversen Medienkunstwerke entstanden sind, ist immer nur kurze Zeit gewährleistet, bevor eine neue Technologie die alte ablöst. Als in Europa einzigartige Forschungseinrichtung haben wir am ZKM seit 2004 das Labor für antiquierte Videosysteme etabliert. Hier werden Methoden entwickelt, um Jahrzehnte alte Videospulen und seltene Kassettenformate, die meist nicht mehr abspielbar sind, zu restaurieren. Mit seinem Maschinenpark von mehr als 300 Geräten ist das Labor in der Lage, fast 50 verschiedene Videoformate von Mitte der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre hochwertig zu digitalisieren und damit langfristig zu sichern. Für die zukünftige Archivierung von momentan noch aktueller Medienkunst muss man folgendes bedenken: Die Analyse der Themenbereiche rund um die Konservierung von digitalen Daten zwingt uns, eine Illusion neu zu überdenken – die Illusion, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Basis – oder zumindest der Motor – des Wunsches war, alles zu konservieren, alles zu archivieren, eine Illusion, die uns vorgaukelte, wir hätten die reale Kontrolle über die Daten und die darin enthaltenen Informationen. Angesichts der enormen Dimensionen des Web und der neuen Informationstechnologien, insbesondere im Hinblick auf Quantität und auf die Fähigkeit, alles zu konservieren, muss dennoch wieder selektiert werden. Unter Berücksichtigung dieser flüchtigen Entität, des Web, und insbesondere der Aktivitäten von Künstlern, Theoretikern und Forschern im Web (oder in Interaktion mit dem Web) besteht der beste Ansatz demnach darin, nicht krampfhaft zu versuchen, alles zu bewahren, sondern eher das zu bewahren, was Verständnis erzeugt. Dennoch, die Arche Noah, das klassische Sinnbild der Bewahrung, die erste Plattform der Geschichte, die erste Museumsinsel, ein bewegliches Schiff, wird größer und breiter, allerdings besteht auch die Gefahr, dass es deswegen schneller sinkt. Das Problem der Nachhaltigkeit von Medienkunstwerken stellt sich um so dringlicher.


Neue Gegenwart: Wie können Mobiltechnologien in der Medienkunst verwendet werden?

Peter Weibel: Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Wir haben letztes Jahr hier am Haus das Projekt SpacePlace entwickelt, bei dem sich die Besucher vor allem über das Mobiltelefon aktiv beteiligen könnten. SpacePlace ist ein Web2-Mash up, eine dem Web 2.0 verpflichtete Sammlung von Daten aus verschiedenen Sphären künstlerischer Produktion, die um den Begriff „Orbit“ kreisen, konfiguriert von Philip Pocock. Die Inhalte der Projektdatenbank stammen aus Themengebieten wie Bildende Kunst, Architektur, Science Fiction, Film, Musik, digitale Kunst und Medien. Aktuell sind über 400 Einträge zur orbitalen Kunst, darunter zu Projekten von Künstlern wie Marina Abramovic über Nam June Paik bis hin zu Arthur Woods oder Woody Vasulka abrufbar – ein Datenpool, der beständig erweitert wird. Sowohl über die Projektwebsite  als auch mobil vor Ort können die User mittels ihres Mobiltelefons über ein Bluetooth-Interface durch die Datenbankinhalte navigieren oder Text- oder Bildinformationen diesem Universum hinzufügen und so seinen Inhalt (content) und dessen Strukturierung kollektiv gestalten.

Ein anderes Beispiel ist eine Installation der Künstlerin Keiko Courdy. Ihre Installations-Performance Netwater, die 2006 in Japan gezeigt wurde, konnte von den Besuchern auch per Mobiltelefon beeinflusst werden. Die Besucher schickten SMS mit Handlungsanweisungen an die beiden Performancekünstler und diese mussten sie umsetzen.


Neue Gegenwart:
Welches Potenzial sehen Sie in der Kunst, die das Handy als Medium nutzt?


Peter Weibel: Nach der physischen Mobilität und deren Kunst (Kinetismus, Op-Art, etc.) folgt die virtuelle Mobilität (von Op-Art bis Medienkunst) – es ist also ein großes Potenzial vorhanden, wie man an den entstandenen und entstehenden Werken erkennen kann.


Neue Gegenwart:
Welche Medientechnologien werden in Zukunft in der Kunst an Bedeutung gewinnen?

Das werden z. B. RFIDs-Transponder (RFID = Radio Frequency Identification) sein. Ein Beispiel ist die komplexe Idee des französischen Künstlers Michel Jaffrennou. Er wollte, dass die gesamte Ausstellung Making Things Public, die wir im Jahr 2005 zeigten, selbst interaktiv wird – nicht nur ein einzelnes Exponat. Jedes Verhalten, jeder Schritt, jede Geste eines Besuchers sollte eine Wirkung auf den Ausstellungsraum und die Exponate haben. Wir entwickelten dafür sowohl die Hardware als auch die Software und benutzten dafür RFIDs. Es war sicherlich eine der ersten Arbeiten, die sich dieser Technologie bedient hat. Ebenfalls mit RFIDs arbeiten Armin Linke und Axel Rich bei der Entwicklung ihrer neuesten Arbeit Interactive Archive Project, die ab Oktober bei uns in der Ausstellung You. The Century of the Consumer gezeigt werden wird.


Neue Gegenwart: Zum Schluss:
Welche Internet-Kunstwerke zählen zu Ihren persönlichen Favoriten?

Peter Weibel: Leider meine eigenen.

Zur Person



Bild: ONUK/Bernhard Schmitt


Professor Peter Weibel ist Kurator, Künstler und Medientheoretiker. Er wurde 1944 in Odessa (Ukraine) geboren, studierte Literatur, Film, Mathematik, Medizin und Philosophie in Wien und Paris. Ab 1979 Gastprofessuren, u. a. an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und am College of Art and Design in Halifax (Kanada). 1982 bis 1985 war er Professor für Fotografie an der Gesamt-hochschule Kassel, 1984 bis 1989 Associate Professor for Video and Digital Arts an der State University of New York in Buffalo/New York, 1989 bis 1994 Direktor des Instituts für Neue Medien an der Städelschule in Frankfurt/Main. Peter Weibel war zudem 1986 als künstlerischer Berater, ab 1992 als künstlerischer Leiter der Ars Electronica in Linz tätig und von 1993 bis 1999 als Österreich-Komissär der Biennale von Venedig und künstlerischer Leiter der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum in Graz.
Seit 1999 leitet er das
Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe.