1960 legten die Politikwissenschaftler Angus Campbell, Philipp Converse,
Warren Miller und Donald Stokes ein einflussreiches Modell zur Analyse von
Wahlentscheidungen vor. Neben langfristigen Parteienbindungen – die als
Parteienidentifikation bezeichnet wurden – seien politische Persönlichkeiten
und Themen wahlentscheidend. Heute kommt wohl insbesondere letzten beiden
Faktoren des sog. „Ann-Arbor-Modells“ große Bedeutung zu. Langfristige
Loyalitäten und Parteibindungen sind im Zuge gesellschaftlicher
Transformationsprozesse der Nachkriegszeit nicht vollends verschwunden, aber
wesentlich brüchiger geworden. Auch die deutschen Parteien – allen voran die
SPD, die vielen immer noch als „Partei der kleinen Leute“ gilt – waren
ursprünglich Broker der Interessen fest umrissener Milieus und
identifizierbarer gesellschaftlicher Gruppen. Heute können die großen
Parteien fast nicht anders, als „catch-all-parties“ (Otto Kirchheimer) zu
sein, bei denen die Maximierung von Wählerstimmen aus allen
gesellschaftlichen Schichten oben auf dem Programm steht.
Wenn das unbekannte Wesen Wähler dann die Wahlkabine betritt, wurden im
Vorfeld eher selten Programme miteinander verglichen. Auch hat der Wähler
eher selten eine dezidierte Leistungsbilanzierung der Regierungsparteien in
den Politikfeldern Haushalt, Finanzen und innere Sicherheit vorgenommen. Das
hat nicht unbedingt mit Desinteresse und der oft zitierten
Politikverdrossenheit zu tun, eher aber mit jener Komplexität, die
politische Praxis heute grundsätzlich ausmacht. Nicht nur die berüchtigte
Gesundheitsreform wäre ein Beispiel für jene Politikfelder, in denen sich
selbst ausgewiesene Experten nur mit Mühe einen Überblick verschaffen
können. Der „Durchschnittsbürger“ aber, dessen Alltag und Freizeit sich oft
im politikfernen Bereich abspielt, zieht bei der Bewertung von Parteien und
deren Kandidaten verständlicherweise jene Informationen heran, die ihm
kurzfristig verfügbar sind. So zumindest sehen es die Wahlforscher. Es
handelt es sich dabei häufig um einzelne politische Themen, denen der Wähler
persönlich zum Zeitpunkt der Wahl eine hohe Bedeutung beimisst.
Wissenschaftler sprechen von einer Art inneren Rangfolge wichtiger Themen
und bezeichnen diese als Agenda. Im Licht dieser persönlichen Agenda
relevanter und weniger relevanter Themen werden Kandidaten und Parteien, die
zur Wahl stehen, bewertet. Dies hat wichtige Implikationen. Beschäftigt
viele Menschen – etwa nach einem Terroranschlag – das Thema der inneren
Sicherheit, werden sie Parteien und ihre Repräsentanten zumindest auch
danach bewerten, ob sie sich im Themenfeld innere Sicherheit als kompetent
erweisen.
Weil diese Themenprioritäten also heute bei Wahlentscheidungen ganz offenbar
eine wichtige Rolle spielen, setzt sich die Wissenschaft schon seit längerer
Zeit mit der Frage auseinander, wie diese Themenrangfolge, oder
„Publikumsagenda“ eigentlich zustande kommt. Obwohl politische Parteien
sicher zu jenen Gruppen gehören, die ein unmittelbares Interesse an der
Formung der öffentlichen Meinung haben, standen und stehen nicht sie,
sondern die Medien im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.
1972
legten die Kommunikationswissenschaftler McCombs und Shaw eine wegweisende
Arbeit vor. Ihre „Chapel Hill“-Studie zeigte sehr große Übereinstimmungen
zwischen der Agenda der Medien und der Agenda der Wähler. Viele
Nachfolgerstudien kamen zu ähnlichen Ergebnissen: offenbar bestimmen die
Medien tatsächlich bis zu einem bestimmten Grad, was Menschen wichtig ist,
welche Themen in der Bevölkerung große Bedeutung haben.
„Alles was wir von der Welt wissen, wissen wir aus den Medien“ lautet ein
oft bemühtes Zitat des Soziologen Niklas Luhmann. In der Tat spielen die
Medien in der Welt- und also auch in der Politikwahrnehmung eine entscheidende
Rolle. Sie bauen an dem mit, was wir als politische Wirklichkeit empfinden.
Nur wenige Menschen haben aus erster Hand einen Einblick in den
„Politikbetrieb“, und auch diese Einsichten beschränken sich in der Regel
auf lokal-regionale Bereiche und eingegrenzte Fachgebiete. Begriffe wie
Mediendemokratie, die längst selbstverständlich zur Beschreibung unserer
Gegenwart benutzt werden, tragen dem Umstand Rechnung, dass die Medien
längst vom Chronisten aufgestiegen sind zu einer eigenen Größe im Spiel der
Politik, auf die sich andere Akteure – unter ihnen vor allem die Parteien –
einstellen müssen.
Das betrifft auch das Agenda-Setting durch die Parteien. Einerseits besteht
für sie ein großer Anreiz, gerade im Vorfeld von Wahlen die Komplexität und
Widersprüchlichkeit der politischen Wirklichkeit zu reduzieren, ein
geeignetes Thema auszuwählen und in der Öffentlichkeit zu positionieren. Das
Ziel ist es dabei, ein Thema zu finden, über das Menschen sprechen, dass die
eigene Partei in günstigem Licht erscheinen lässt und das Menschen im
Idealfall kurzfristig dazu motiviert, dass entsprechende Kreuz zu setzen.
Anderseits führt dieser Weg zur Agenda der Menschen offenbar nur über die
Agenda der Medien.
Grundsätzlich ist die Politik, so schreibt der Politikwissenschaftler Ulrich
Sarcinelli, „auf die Publizität durch die allgemein zugänglichen
Massenmedien angewiesen“. Gewiss verfügen die Parteien auch über eigene
Medien. Trotz sinkender Auflagen werden z. B. im Monat rund 500.000 Exemplare
des „Vorwärts“ verteilt. Was die Verbreitung betrifft, rangiert das
SPD-Parteiorgan damit noch vor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Dennoch
beschränkt sich der Leserkreis auf die Basis der eigenen Partei. Ansonsten
fehlt es den Parteien nach Expertenmeinung oft an den Mitteln, über die
eigene Klientel hinaus eine direkte Wählerkommunikation aufzubauen und auf
Dauer zu stellen, die sich von den „störenden Einflüssen“ der Medien
unabhängig macht.
Da Parteien sich ihrer Umwelt anpassen müssen, um dauerhaft zu überleben,
ist auch die Bedeutungszunahme der Massenmedien an den Parteiorganisationen
nicht spurlos vorüber gegangen. Sie haben darauf mit einer internen
Professionalisierung reagiert, die neben einer grundsätzlichen Aufwertung
der Parteiführung (zulasten der Basis) auch eine Professionalisierung der
Kommunikation nach innen und nach außen betrifft. Press Relations, Public
Relations, Public Affairs – all dies sind für Parteien längst keine
Fremdwörter mehr. Vor allem zum Fernsehen und zu den Printmedien, zum
„publizistischen System“ als Gatekeeper der öffentlichen Meinung, haben
Parteien längst „marktförmige Beziehungen“ etabliert, wie die
Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann und Stefan Marschall anmerken. „In
den Parteiorganisationen sind Stellen eingerichtet und über die Jahre hinweg
ausgebaut worden, deren primäre Aufgabe darin besteht, Journalisten zu
betreuen. Öffentlichkeitsarbeit als modernes Kommunikationsmanagement gehört
zum Repertoire eines jeden politischen Akteurs, ob Individuum oder
Organisation“.
Wirft man einen Blick in die einschlägige Literatur, so findet sich in
Büchern über politische Öffentlichkeitsarbeit, Wahlkampf und
Kampagnenplanung oftmals auch ein Kapitel zum Bereich „Themenmanagement“.
Diese Kommunikationsstrategie zielt im Wesentlichen darauf ab, die
Medienagenda zu beeinflussen und über diesen „Umweg“ die Vorstellungen des
Elektorats zu prägen. Der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider
unterscheidet dabei drei Basistechniken. Beim aktiven Setzen der politischen
Tagesordnung – Agenda-Setting – werde versucht, jene Themen in die
Medienberichterstattung zu lancieren oder dort zu halten, bei denen entweder
die eigene Partei bzw. der eigene Kandidat von der Bevölkerung als kompetent
angesehen werden oder bei denen die Bevölkerung bei der gegnerischen Partei
und dem gegnerischen Kandidaten Defizite wahrnimmt. Beim Agenda-Cutting
gelte es, jene Themen aus der Medienberichterstattung fernzuhalten oder sie
von dort verschwinden zu lassen, bei denen entweder die eigene Partei bzw.
der eigene Kandidat von der Bevölkerung nicht als kompetent angesehen werden
oder die Bevölkerung der gegnerischen Partei und dem gegnerischen Kandidaten
größere Problemlösungsfähigkeit zuschreibt. Drittens beschreibt
Brettschneider auch noch Agenda-Surfing. Wenn man das in der
Medienberichterstattung existierende Themen-Set nicht beeinflussen könne –
Stichwörter: Elbe-Flut oder Irakkrieg –, dann werde laut Brettschneider
versucht, dieses Themen-Set zum eigenen Vorteil zu nutzen.
Aber was ist überhaupt ein „gutes“ Issue, oder ein „Gewinnerthema“, wie der
Politikberater Marco Althaus formuliert? Spezialisten aus dem Bereich
politischer Kommunikation haben hier allerhand Kriterien formuliert. Ganz
gewiss muss sich ein potenziell geeignetes Thema einerseits an den
berühmt-berüchtigten Nachrichtenfaktoren orientieren. Ist das Thema aktuell
und relevant, lässt es sich gut personalisieren, können an ihm Konflikte
dargestellt werden, so hat es eher eine Chance, bei Nachrichtenagenturen,
TV-Stationen und Radiosendern Gehör zu finden. Auf der anderen Seite gilt
es, ein Thema zu finden, an dem sich die durch Bürger zugewiesenen
Problemlösungskompetenzen der Parteien anschaulich demonstrieren lassen.
Parteien verfügen trotz schleichendem Profilverlust im Zeitalter der großen
Koalition immer noch über recht typische Kompetenzprofile in der Wahrnehmung
der Bürger. So ist die CDU noch eher die Partei, die Kompetenzen in den
Bereichen Wirtschaft und innere Sicherheit aufweist, während die Felder
Sozialpolitik und Umwelt traditionell von der SPD abgedeckt werden.
Demoskopische Institute ermitteln diese Kompetenzen regelmäßig und Parteien
wiederum nutzen diese Erkenntnisse für ihre strategische Ausrichtung.
Wie eingangs bereits kurz angerissen, ist die Arbeit an der Medienagenda –
und damit die Arbeit an der Publikumsagenda für Parteien von großer
Bedeutung. Dominierende Themen in den Medien sind auch die Themen, in deren
Licht Kandidaten und Parteien von den Wählern betrachtet werden. „There is a
relationship between patterns of news coverage and the criteria with which
the public evaluates politicians”, meint der Kommunikationsforscher Shanto
Iyengar. In den 1980er Jahren legte der Stanford-Professor zusammen mit
Kollegen Studien vor, die zeigten, dass die mediale Konzentration auf
spezielle Themen im Wahlkampf indirekt so genannte „Priming-Effekte“ auf das
Image eines Kandidaten zur Folge haben können. Bei der Einschätzung von
Kandidaten oder Parteien beziehen sich die Menschen nicht auf ihr gesamtes
Wissen, sondern auf das, was ihnen besonders leicht einfällt. Wird also in
den Medien zu Wahlkampfzeiten intensiv über das Thema Arbeitslosigkeit
berichtet, so wird eine Partei bzw. ihr Personal durch die „Themenbrille“
Arbeitslosigkeit bewertet.
In der politischen Praxis findet Agenda-Setting in ungezählten alltäglichen
Austauschprozessen zwischen politischem und publizistischen System, zwischen
Politikern, deren Beauftragten und Journalisten statt. Dabei kommt den
Parteien zugute, dass auch die „Gegenseite“, die Medienvertreter, insgesamt
auf gute Kontakte in die Politik hinein angewiesen sind. So profitieren alle
von einer gewissen Reziprozität. „Der Journalist, der die Nähe zu
Machteliten sucht, tauscht seine Dienste als Instrument, das beim Setzen der
Medienagenda behilflich ist, gegen Status und exklusive Informationen ein“.
Dergestalt fasst der Politikwissenschaftler Wolfgang Eichhorn die
alltägliche Dynamik des Agenda-Setting zusammen. „Aber der journalistische
Alltag besteht nicht nur aus direkten Kontakten zu Informationsquellen, ein
Großteil des Inputs ist der Output des Systems subsidiären Journalismus’,
von Öffentlichkeitsabteilungen von Unternehmen, Verwaltungen,
Interessengruppen. Dieser Input ist meist schon vorstrukturiert, optimiert
in Richtung dessen, was PR-Leute – häufig selbst Journalisten – als
berichtenswert ansehen. Medienexterne Akteure versuchen also, mediale
Agendas über direkte Kontakte und über eine geeignete Vorstrukturierung des
Inputs der Medien zu steuern“.
Wer Begriffe wie „Issue-Management“ im Zusammenhang mit Parteien gebraucht,
geht zumindest implizit davon aus, dass Parteien tatsächlich in der Lage
sind, ihnen „passende“ Themen strategisch auf der Medien-Agenda zu lancieren
und damit auch die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Entspringt aber
diese Vorstellung nicht doch den Machbarkeitsphantasien des professionellen
Politikmarketing? Die Kommunikationswissenschaftlerin Christiane Eilders hat
zusammen mit einigen Kollegen den Bundestagswahlkampf 2002 untersucht. Die
Autoren bestätigen in dieser Studie prinzipiell die These der „starken
Medien“. Die rivalisierenden Parteien versuchen zu Wahlkampfzeiten die
jeweils ohnehin bestimmenden Themen zu besetzen, sie „surfen auf der
medialen Agenda“. Hingegen sei das eigenständige Agenda-Building bei allen
Parteien nur mäßig erfolgreich.
Was aber ist gewonnen, wenn ein (vermeintliches) Gewinnerthema, mit oder
ohne Hilfe der Medien, tatsächlich oben auf der medialen Agenda gelandet
ist? Schauen wir dazu nach Hessen. Im Vorfeld des Landtagswahlkampfes 2008
verringerte sich der Abstand zwischen Ministerpräsident Roland Koch und
seiner CDU zur Herausforderin Andrea Ypsilanti. Nun musste, ganz im Sinne
moderner Wahlkampfführung und Issue-Management ein Thema gefunden werden,
dass der hessischen CDU wieder etwas Luft verschaffen konnte. Während die
CDU im Nachbarland Niedersachsen (nicht zuletzt durch die Popularität des
Landesvaters) den sicheren Abstand zur SPD durch eine Wahlkampfkommunikation
der ruhigen Hand ins Ziel rettete, wählte Koch einen Weg, der für amtierende
Ministerpräsidenten eher unüblich ist. Um die Themenhoheit in Hessen
(wieder) zu gewinnen, setzte man konfrontativ auf das Thema Jugend- und
Ausländergewalt, hinter dem sich das „Megathema“ innere Sicherheit verbarg.
Mit dem Kampf für einen Mindestlohn hatte sich zuvor bereits die hessische
SPD mit einem durchaus zugkräftigen Thema in Stellung gebracht.
Ein trauriger Zufall wollte es, dass ein Münchner Rentner Opfer eines
brutalen Überfalls durch zwei Jugendliche mit Migrationshintergrund wurde.
Die Medien griffen den Zwischenfall auf, auch weil eine Überwachungskamera
die Attacke festgehalten hatte, es demnach medial verwertbares Bildmaterial
gab. In den Worten von Brettschneider und Eilders ließe sich nun durchaus
sagen, dass die hessische CDU geschickt auf eine bereits anrollende
Themenwelle aufsprang und diese dann „absurfte“. Tatsächlich stand bei
vielen Medien schon vor dem Hessenwahlkampf das Thema Jugendgewalt auf der
Agenda. Im Berliner Tagesspiegel erschienen z. B. 2007 in regelmäßigen
Abständen Artikel über Jugendgewalt in der Bundeshauptstadt. So konnte Koch
zwar nicht „gegen“ die existierende Medienagenda durchdringen, bemächtige
sich aber findig eines Themas, dass bereits auf der Medienagenda stand, und
schaffte es durch immer neue Beiträge, dass Thema Jugendgewalt oben auf der
Aufmerksamkeits- und Relevanzskala zu halten.
Zweifellos war diese Kommunikationsstrategie mit der Hoffnung auf
Priming-Effekte verknüpft: Dominierte bei den Wählern das Thema innere
Sicherheit auch noch zur Wahl, erhofften sich die CDU-Strategen einen
taktischen Vorteil, weil dieser Bereich eben traditionell zu den
Kompetenzthemen der CDU gehört. Da das Thema Jugendgewalt tatsächlich in
aller Munde war, schien die CDU erfolgreiches Agenda-Setting betrieben zu
haben. Fast zwei Drittel der Hessen gaben in Umfragen der
Meinungsforschungsinstitute an, dass Roland Koch „ein wichtiges Thema
angesprochen“ habe. Gleichsam hatte man auch in Sachen Agenda-Cutting
Erfolg. Das SPD-Kernthema soziale Gerechtigkeit, in Gestalt des
Mindestlohnes, konnte nicht nur Hessen-, sondern bundesweit von der Agenda
geschoben werden. Dabei aber blieb es nicht.
„Anfangs“, notierte Bernd Gäbler im Berliner Tagesspiegel, „wirkte Kochs
Kampagne auch gut synchronisiert mit den Themen der ‚Bild-Zeitung’. Dann
aber fiel das Thema ins Stimmengewirr des Medienpluralismus. Alle
diskutierten. Jeder hatte eine Meinung“. So mochte Koch vielleicht im
Verbund mit einigen Medien „sein“ Thema an die Spitze der medialen
Themenrangliste gehievt haben. Dann aber, so Gäbler weiter, „musste er
herabsteigen vom Thron einer überlegenen Position mitten hinein ins
Schlachtgetümmel“. Und dort traten die Medien auf den Plan. Je länger über
das Thema berichtet wurde, desto mehr wurden Programme und Wahlversprechen
analysiert, Gewaltstatistiken in Hessen nachgeprüft und die Entwicklung
öffentlicher Ausgaben im Bereich Polizei rekonstruiert. Damit war die Büchse
der Pandora geöffnet. Rasch tauchten erste Meldungen auf, nach denen die
Jugendgewalt in Hessen am stärksten angestiegen sei, dass die
Landesregierung unter CDU-Führung im Polizeibereich massive Kürzungen
vorgenommen habe. Der politische Konkurrent unterstützte diese Lesart
natürlich.
So kam es schließlich, wie der Meinungsforscher Richard Hilmer von Infratest
Dimap schon vor der Wahl vermutet hatte: der Einthemenwahlkampf rund um
Jugend- und Ausländerkriminalität erwies sich als riskant und kostete Koch
beinahe die Mehrheit. Wie angesprochen zeigten Meinungsumfragen zwar kurz
vor der Wahl, dass eine Mehrheit der Befragten das Thema relevant fand.
Gleichsam aber befanden 65 Prozent der Befragten, dass die Lösungsvorschläge
der Hessen-CDU „nicht die richtigen" seien. Und sogar 82 Prozent waren der
Ansicht, dass Koch "erst mal seine eigenen Hausaufgaben in Hessen machen und
dafür sorgen sollte, dass es dort schneller zu Gerichtsurteilen kommt". Mit
36,8 Prozent der Stimmen blieb die hessische CDU dann zwar denkbar knapp
stärkste Kraft, musste aber im Vergleich zur Wahl 2003 erdrutschartige
Verluste hinnehmen. Und dies obwohl die CDU mit „ihrem“ Thema Jugendgewalt
den Wahlkampf geprägt hatte, während die Unterschriftenaktion der Konkurrenz
zum Thema Mindestlohn in der Öffentlichkeit kaum stattfand.
Hatte die hessische CDU auf das falsche Thema gesetzt? Eine erste Lektion
mag wie folgt lauten: auch Kompetenzthemen können polarisieren und damit
nicht nur die eigene Klientel zum Gang an die Wahlurne mobilisieren. Im
Licht erster Wahlanalysen wurde zweitens deutlich, dass sich die
Themenagenda der Wähler schnell wandeln kann. Bei den tatsächlichen
Wahlentscheidungen waren die Themen Arbeitslosigkeit und Bildungspolitik in
Hessen offensichtlich wichtiger gewesen, als es ursprünglich in
Vorfelderhebungen den Anschein hatte. Hier freilich stehen die Spin-Doctors
aller Parteien vor einer großen Herausforderung. Wie kann eine
Kommunikationsstrategie, die eigentlich von langer Hand vorbereitet werden
muss, auf solche heute typischen, kurzfristigen Präferenz- und
Einstellungsveränderungen der Wählerschaft reagieren? Drittens zeigte sich,
dass die Kompetenzwerte der hessischen CDU im Themenfeld innere Sicherheit
gerade während der heißen Wahlkampfphase gelitten hatten. War diese
Entwicklung nicht auch Ursache der medialen Dauerdurchleuchtung des Themas
Jugendkriminalität? Viertens lässt sich im Sinne des Politikwissenschaftlers
Bernhard Cohen – „[The press] may not be successful much of the time in
telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its
readers what to think about” – festhalten, dass Parteien vielleicht Themen
setzen können, aber nicht darüber bestimmen, wie dieses Thema von den Medien
und den Menschen schließlich ausgelegt wird. Hier machen sich Begriffe wie
Themenmanagement in Handbüchern der Polit-PR sicher gut, suggerieren jedoch
eine gezielte Beeinflussbarkeit der öffentlichen Meinung, die so nicht
gegeben scheint.
Ein Thema auf die mediale Tagesordnung zu befördern und auf der
Relevanzskala nach oben zu bringen, ist schließlich nur der erste Schritt
für politische Parteien. Weiterhin muss es darum gehen, das Thema
kontinuierlich mit einem bestimmten, für Parteien förderlichen
Bedeutungsrahmen zu versehen. Dieser Prozess wird im Fachjargon oft als „second-level
agenda-setting“ oder auch „framing“ bezeichnet. Hier vollzieht sich ein
immerwährender Kampf um Deutungshoheit, zwischen Parteien, „den“ Medien und
auch anderen Interessengruppen. Es geht dabei um die diskursive Durchsetzung
von Problemdefinitionen, kausalen Interpretationen, es geht um
moralisch-normative Beurteilungen und „angemessene“ Lösungsmöglichkeiten
politischer Probleme. Ob diese Praxen in einer plural-komplexen
Mediengesellschaft durch Parteien strategisch unter Kontrolle gebracht
werden können, ist diskutabel. Aus Sicht der Parteien und ihrer Strategen
mag dies bedauerlich sein, für eine Demokratie nicht unbedingt. Aber das ist
nun wieder ein anderes Thema. |
Der Autor
Christian
Junge
Geboren am 17. Oktober 1975. Sozialwissenschaftler. Studium der
Soziologie, Politikwissenschaft und Europäischen Ethnologie /
Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, der University of
Manchester und der Universität Konstanz. Derzeit Doktorand an der
Georg-August-Universität Göttingen und wissenschaftlicher Mitarbeiter im
Deutschen Bundestag.
Zuletzt Visiting Scientist am Department of Political Sciences der Columbia
University, New York; seit 2005 Promotionsstipendiat der
Konrad-Adenauer-Stiftung.
Letzte
Veröffentlichung: „Parteien in Berlin“ zusammen mit Jakob Lempp.
|
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