Relaunch mit Mensch
Text:
Daniel Kruse
Bilder:
Christof Wolff (l.),
Anita Back (r.)
„Führend in Beton
seit 1972“. Kein leichter Einstieg in den Text, aber solide. Man meint, der
Verfasser kennt sein Handwerk. Aber „Online since 1985“? Mit Tradition
werben im Gewerbe, wo sonst kein Stein auf dem anderen bleibt? Den Hinweis
auf die Geschichte kann sich
The
Well erlauben, nach Angaben des ebenso historischen
Wired
Magazins die „einflussreichste Online Community der Welt“. Die
gediegenen Mitglieder des Whole Earth ´Lectronic Link haben „Geschäfte
gegründet, sich ver- und entliebt, Fehden gepflegt, ‘kickass vacations’
unternommen oder ihr Leben einfach gegenseitig bereichert“, erklärt das
Archiv der Seite süffig.
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AUSGABE 46
DAS SOZIALE NETZ
STARTSEITE
EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
RELAUNCH MIT MENSCH
MENSCH UND MEDIEN
DAS STARBUCKS-PRINZIP
OFFLINE NICHT VERFÜGBAR
WER IST CHAD KROSKI?
KLEINE
TELEFONREVOLUTION
RETTET DIE NERVEN
NICHTS ALS GESPENSTER
KLAUEN ERLAUBT
ZUM THEMA IN ÄLTEREN
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20 Jahre später bleibt alles anders: Business-Clubs, Dating-Börsen,
Mitfahrzentralen – nun braucht man sehr viele Internetseiten, um das Gleiche
zu tun. Die Gemeinde hat für diesen Zustand des immer intensiveren
Austauschs jedoch einen Begriff gefunden, der Großes ahnen lässt: Die
frühere Heimat anonymer Chatter wird zum handfesten „Social Web“. So sehr
menschelt es im Netz, das manche es gar – hinsetzen, Luft holen – „Web
2.0“ nennen. Dann geht es also nicht um neue Bausteine. Dann wackelt das
Fundament. |
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Doch wie sehen die Säulen dieses „zweiten Internets“ aus? Und warum werden
scheinbar ursprüngliche Funktionen des Web nun als bahnbrechender Umschwung
erklärt? Der Journalist
Mario
Sixtus hat das Phänomen unter anderem für Die Zeit, brand eins und den
MIT Technology Review erklärt. Aus seinen Erkenntnissen lassen sich folgende
Charakteristika lesen, die das Web 2.0 definieren:
1. Social Software:
Egal ob Fakten, Fotos oder Musik – neue Technologien ermöglichen den
leichten Austausch von Daten, ohne dabei Fachwissen vorauszusetzen.
Bekanntes Beispiel ist die Online-Enzyklopädie
Wikipedia,
dank zahlreicher freiwilliger Autoren das inzwischen größte Lexikon der
Erde. Der Clou: Jeder darf die Wiki-Seiten erstellen, korrigieren oder
ergänzen. Das Angebot dieser simpel zu bedienenden Tools, mit denen die
Grenze zwischen Konsumenten und Produzenten verwischt, ist rasant gewachsen.
2. Echte Menschen: „batman76“ und „catwoman80“ waren
gestern. Der Austausch zwischen Menschen findet nicht länger anonym in
schmierigen Chats statt. Freizügig werden heute private Fotos, Kontaktdaten
oder ganze Lebensläufe ins Netz gestellt. Wer sich online präsentiert,
erhofft sich auch in der realen Welt des „Meatspace“ Vorteile. Wo früher
Nerds in ihre Web-Welten abtauchten, stellen heute Experten aller Art ihre
Kenntnisse online dar.
3. (Gem)Einsam stark: Basis der Bewegung ist eine
Social Software namens Weblog, oder kurz: Blog. Meist von nur einem Autor
betreut, behandeln diese einfach und kostenlos zu erstellenden Websites mehr
oder minder massentaugliche Themen. Doch auch ein Journal über Zierfische
dürfte seine Anhänger finden. Denn die Blogosphäre ist hochgradig verlinkt.
Ein winziger Anstoß kann so zum medialen Lauffeuer werden. Die Krisen-PR von
Unternehmen und Politik muss neu gedacht werden.
Für Sony BMG kam jede Hilfe zu spät. Ein Blogger veröffentlichte die
Entdeckung von Spyware auf dem Album „Get Right with the Man“. Im Stile von
Hackern verschaffte sich die Musiktochter der Japaner damit Zugang zu
privaten Rechnern. In satten 255 Kommentaren werden CD und Konzern nun beim
Online-Bestelldienst Amazon zerrissen. „Die Nachricht eines Einzelnen war
innerhalb von drei Tagen um den ganzen Globus gegangen“, stellt Sixtus fest.
Das Faszinierende für ihn: „Jedes dieser Mikromedien hat in einem derart
verdichteten Web das Potential zum Agenda-Setting.“ Eine Meinungsdemokratie
also, in der die Themen nicht von Redaktionen geschaffen, sondern mit jeder
Kettenmail, jedem Link und Kommentar real an Bedeutung gewinnen. Nicht erst
seit der geplanten Übernahme der ProSiebenSat.1 AG durch Axel Springer steht
die Meinungsmacht der Massenmedien in der Kritik. Wolf Schneider, ehemals
Verlagsleiter beim
Stern, Chefredakteur der Welt sowie langjähriger Leiter der
Henri-Nannen-Schule,
erinnerte auf dem
Journalistentag in Bochum an die unsägliche Hysterie um das Thema BSE. Ohne
einen einzigen menschlichen Todesfall als Argument, hätten damals deutsche
Medien die Fleischindustrie zu Grunde geschrieben. Müssen Journalisten nun
umgekehrt auf die Trends aus der Blogosphäre reagieren? „Sie sollten es“,
rät Mario Sixtus.
Da erscheint es konsequent, wenn der
Weblog-Verlag
Spreeblick allein auf Blogs setzt. Geschäftsführer Johnny
Haeusler erklärt: „Die Weblogs eignen sich hervorragend, um Nischenthemen zu
besetzen. Wir müssen nicht wie die Online-Ableger von Zeitungen alles
bieten.“ Acht Portale inklusive spreeblick.com beherbergt Haeusler unter
seinem Dach. Die neuesten Gewächse nennen sich "500 Beine" (Literatur) und
"Popnutten" (Musik). Der Mediendesigner, ehemalige Rundfunkmoderator und
Rockmusiker ist damit einer der ersten in Deutschland, der den Schritt in
die Wirtschaftlichkeit tut: „Die Mehrzahl der Blogs werden derzeit als Hobby
betrieben, wir aber wollen die nächste Stufe erreichen.“ Das soll mit
klassischer Werbung und Sponsoren funktionieren. Dazu aber braucht es eine
belegbare Anzahl von Lesern. Und noch nicht jeder User kann mit den
kleinteiligen Menüs und unkommentierten Überschriften umgehen. „Wie jedes
neue Medium braucht es auch hier eine Eingewöhnungszeit. Blogs sind speziell
für viel und chronologischen Content geschaffen, ältere Inhalte schieben
sich schnell in den Hintergrund“, erläutert Haeusler. Die Spreeblick-Seite
bekam erst Ende November ein schlichteres Design, damit auch Nicht-Bloggern
der Einstieg leicht fällt. „In den USA, aber auch in England und Frankreich
sind Blogs bereits erfolgreicher, dort herrscht offenbar eine andere
Diskurs-Kultur“, sagt er. Trotzdem glaubt der Berliner auch für Deutschland
an ein Web 2.0, mit dem sich Geld verdienen lässt: „Konsumenten wie
Unternehmer konzentrieren sich nun auf das Wesentliche. Die Projekte im
Social Web sind spannender, realistischer und werden ohne den Hype der New
Economy auskommen.“
Auch Haeusler kann auf die Macht der Maus-zu-Maus-Propaganda setzen. Die
Schwerpunkte im Netz werden nicht länger von unsichtbaren Algorithmen
gesetzt. Menschen empfehlen oder warnen vor relevanten Inhalten, vermitteln
passende Kontakte oder ihren Musikgeschmack. Sie schaffen online
Verbindungen, die nun auch offline Bestand und nicht selten beruflichen
Nutzen haben. Das Motto von The Well scheint sich zu erfüllen: Die ganze
Welt nur einen Link entfernt. |