Gute Fernsehunterhaltung braucht Mut



Interview:
Björn Brückerhoff    
Bild:
Claudia Jaquet / Adolf-Grimme-Institut

Uwe Kammann ist seit Mai 2005 Direktor des Adolf-Grimme-Instituts in Marl. Im Interview mit Neue Gegenwart spricht er über Qualität im deutschen Fernsehen, den Wunsch der Zuschauer nach Orientierung und die Angst der Fernsehmacher, ihre Zielgruppen mit anspruchsvollen Sendungen zu überfordern.

Neue Gegenwart: Herr Kammann, was verstehen sie unter qualitativ hochwertiger Unterhaltung im Fernsehen?


Uwe Kammann: Qualität als eine objektive Kriterien-Folie zu definieren, ist geradezu unmöglich. Zurzeit arbeiten wir im Grimme-Institut an zwei Studien zu unterschiedlichen Aspekten von Qualität im Fernsehen. Als ein wichtiges Arbeitsergebnis zeichnet sich ab: Das Verständnis von Qualität verändert sich mit der Gesellschaft, mit der Zeit, mit den Moden, mit den Bedürfnissen der Zuschauer. Trotzdem gibt es natürlich übergreifende Elemente, die sich jeweils im Diskurs herausbilden und wo sich oft schnell ein Konsens bildet. Auf die Unterhaltung bezogen könnte man etwa Innovation als Qualitätskriterium nennen,  klischeefreie Handlungen und Figuren, intelligente Dialoge, feinen Humor, Authentizität, originelle Ausgangsideen, ironische Verschiebungen von bekannten Mustern. Aber die Gratwanderung fällt gleichwohl schwer: Was ist intelligent, was authentisch, was ist feiner Humor? Bis zu welchem Punkt darf qualitativ hochwertige Unterhaltung mit Klischees spielen? Und noch ein Aspekt: Qualität wird bestimmt durch den Anspruch desjenigen, der etwas über sie herausfinden will.

AUSGABE 49
GUTES FERNSEHEN –
SCHLECHTES FERNSEHEN





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EDITORIAL VON BJÖRN BRÜCKERHOFF
INTERVIEW MIT UWE KAMMANN
UND EWIG FEHLT DER KÜPPERSBUSCH
EXPERTINNEN-INVASION AUF RTL 2
QUALITÄT, (UN-)BEKANNTE GRÖSSE
DIE VERUNGLÜCKTE LEHRPROBE
NETZER GEGEN KLOPP GEGEN VÖLLER
GESCHMACKSSACHE: KOCH-MEDITATION
WELTGESCHEHEN MIT SCHLAGOBERS
"CORDULA, DU WILLST MIT RALF..."
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Der Unterhaltungschef eines jugendlich ausgerichteten Privatsenders benutzt andere Definitionen für Qualität als derjenige, der die öffentlich-rechtlichen Vorabendserien oder die Volksmusiksparte betreut. Produzenten haben andere Ansprüche als Redakteure. Und was am Ende die Zuschauer für Qualität halten – wie will man da den gemeinsamen Nenner finden, gar genau umreißen? Sind erfolgreiche Sendungen automa-tisch qualitativ hochwertig – oder vielleicht genau das Gegenteil? Kriterien sind schwer fest-zumachen. Und doch finden die Nominierungskommissionen und Jurys beim Grimme-Preis am Ende immer Sendungen, von denen sie mehrheitlich – oft nicht ohne vorherige heftige Debatten – sagen: Sie gehören zu den besten des jeweiligen Fernsehjahrgangs. Ob Olli Dittrichs tragikomische Figur „Dittsche“ in Ingos Imbiss über die Welt und die Bild-Zeitung philosophiert, ob Christoph Maria Herbst als Chef-Ekel Bernd Stromberg mit dem Phänomen des Fremdschämens spielt oder es auch in scheinbar oberflächlichen und voll ausgeschöpften Genres wie den Musik-Castingwettbewer-ben engagierte Ausnahmen gibt wie die von Stefan Raab ins Leben

Uwe Kammann

Uwe Kammann, geboren 1948 in Bünde, seit Mai 2005 Geschäftsführer und Direktor des Adolf-Grimme-Instituts, leitete von 1984 bis 2005 den Medienfachdienst "epd Medien". Nach dem Studium der Germanistik und Romanistik arbeitete er zunächst als Redakteur bei der Rheinischen Post und wechselte 1978 zur Publikation "epd / Kirche und Rundfunk". Seit 1980 ist er dem Grimme-Institut durch Jury-Arbeit verbunden. Seine bisherige Juroren-Tätigkeit umfasst auch den Deutschen Fernsehpreis, den Fernseh-filmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, den Deutschen Kamerapreis, den Marler Video-Kunst-Preis, den Robert-Geisendörfer-Preis oder den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Kammann ist Gastautor der Fach-, Tages- und Wochenpresse (u. a. „Die Zeit“) und Autor, Diskutant, Kommentator, Moderator in Radio, Fernsehen und auf Medienkongressen. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören: „Die Schirm-Herren“ (Kiepenheuer & Witsch) und „HörWelten“ (Aufbau-Verlag). Kammann wurde mit dem Deutschen Preis für Medienpublizistik und dem Hans-Bausch-Mediapreis ausgezeichnet.

gerufene ‚Gegenveranstaltung’ namens „SSDSGPS“: All diesen Produktionen sind die Neugier und der Mut der Verantwortlichen, hervorragendes Handwerkszeug und innovative Ideen gemeinsam. Intelligente Unterhaltung ist möglich. Aber sie ist leider rar.

Neue Gegenwart: Wie stark ist die Qualität der Unterhaltung von der Zielgruppe abhängig, die angesprochen werden soll? Ist die Qualität der Fernsehunterhaltung nicht eine übergeordnete Kategorie, an der sich alle Fernsehanbieter messen lassen müssen?

Kammann:
Das kommt darauf an, um welche Zielgruppen es geht. Das Alter der Zuschauer, welche ein Anbieter vor den Fernsehschirm locken will, hat zum Beispiel sicher eher Einfluss auf die Wahl des abgebildeten Milieus, der Sprache, der Figurenkonstellation als zwingend auf die Qualität. Ähnliches dürfte für geschlechterspezifische Produktionen gelten. Anders sieht es aus, wenn der Bildungsstand oder -anspruch der Zuschauer einbezogen wird. Hier ist es schwieriger, einheitliche Standards festzulegen und einzuhalten. Am Ende soll sich das Publikum ja gut unterhalten, soll und will sich weder unter- noch überfordert fühlen.

Neue Gegenwart:
 Ist eine Angleichung der Unterhaltungsqualität und der Art der Fernsehunterhaltung auf öffentlichen-rechtlichen und privaten Sendern zu bemerken?

Kammann: Die Arten der Fernsehunterhaltung unterscheiden sich meist schon deshalb, weil ARD und ZDF im Durchschnitt ein älteres Publikum bedienen, während RTL, Sat.1, Pro Sieben und die meisten anderen Privatsender jüngere Zielgruppen ansprechen. Das aber sagt noch nichts über die Qualität aus. Die öffentlich-rechtlichen Sender sehen sich seit Jahren mit dem Vorwurf der „Pilcherisierung“ des Fernsehens ausgesetzt, finden bei Kritikern weder für die diversen Telenovelas noch für ihre Volksmusik-Offensiven Verständnis und bieten, wenn sie’s auf die jüngeren Zuschauer anlegen, zum Teil ebenso hanebüchene Soap Operas wie die Privaten. Es gibt viel Schlichtes und Schlechtes im Bereich der Unterhaltung, wir beobachten den Hang zum Seichten und Belanglosen, ohne Witz und ohne Biss. Aber in beiden Systemen können sich auch immer wieder tolle Produktionen durchsetzen, von „
Blind Date“ mit Anke Engelke und Olli Dittrich im ZDF bis zu „Stromberg“ auf Pro Sieben. Auch hier gilt der schöne Gemeinplatz: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Neue Gegenwart: Sie werden vermutlich häufig mit dem Vorurteil konfrontiert, der Grimme-Preis würde nur Sendungen auszeichnen, die „elitär“ sind, Nischen besetzen. Wie kann ein Unterhaltungsprogramm aussehen, das zugleich qualitativ hochwertig ist und eine große Zielgruppe anspricht? Oder gibt es das gar nicht?


Kammann: Doch, das gibt es schon. Sowohl der bereits genannte Casting-Wettbewerb von Stefan Raab als auch beispielsweise die Comedy-Serie „Nikola“, die vor einigen Jahren mit Mariele Millowitsch und Walter Sittler in den Hauptrollen auf RTL lief, zeigen, dass Qualität und Quote keine Gegensätze sein müssen. Oder „
Genial daneben“ und „Schillerstraße“ auf Sat.1, beide nominiert für den Grimme-Preis – das waren und sind tolle Erfolge für den Sender und gleichzeitig intelligente, gut gemachte Unterhaltungsformate. Oder „Wetten dass...?!“ als ZDF-Klassiker: ein immer noch höchst unterhaltsames Programm, das leider nie Grimme-verziert wurde. All diese Produktionen haben es geschafft, neue, manchmal auch althergebrachte und wieder aufgefrischte Konzepte zu entwickeln, die mit ihrem frechen, aber nicht derben Humor für ganz verschiedene Zuschauergruppen funktionierten. Man merkte und merkt den Machern die Begeisterung für die eigene Produktion an. Gleichzeitig kann man die gleichen Komplimente auch Sendungen machen, die eher eine treue, aber überschaubare Fangemeinde haben, von Kurt Krömer mit seiner RBB-Show bis zu „Pastewka“. Eines darf man bei der ganzen Diskussion nicht vergessen: Oft verstecken die Sender ihre Perlen in Nischen, im Spätabendprogramm, wo sie für viele normal arbeitende Zuschauer nicht zugänglich sind. Und der Mut zum ganz Ausgefallenen ist unterentwickelt.

Neue Gegenwart: Sind derartige Sendungen angesichts der bestehenden Zielgruppen realisierbar?

Kammann: Ja, immer wieder, aber es wird für beide Seiten schwieriger. Auf der einen Seite werden die Zuschauer mit einer riesigen TV-Quellmasse konfrontiert und müssen sich genau mit dem Programm beschäftigen, wenn sie etwas Gutes und für sie Passendes finden und sehen wollen. Auf der anderen Seite verändern sich die Sehgewohnheiten. Vom Familienfernsehen der Achtzigerjahre, vom elektronischen Lagerfeuer sind wir heute weit entfernt, weil in den meisten Haushalten mehrere Fernsehgeräte stehen. So treten Fußball, Krimi und Actionserie nicht mehr in familieninterne Konkurrenz, sondern werden ganz individuell geschaut. Die gegenwärtige technische Entwicklung wird diese Individualisierung noch beträchtlich steigern. Wenn das Internet es erlaubt, sich nahezu überall und jederzeit alles herunterzuladen und anzusehen, verändern sich automatisch alle Bedingungen, von der Produktion über die Programmverbreitung bis zu den Sehgewohnheiten. Alle Seiten sind betroffen, von den Machern über die Veranstalter bis zu den Zuschauern. Diese Veränderungen werden sich auch auf jedes einzelne Genre beziehen – alles wird noch stärker aufgefächert, auch im Bereich der Unterhaltung. Das muss nicht zwangsläufig  zu Lasten der Qualität gehen. Aber natürlich besteht das Risiko, dass Zeit- und Erfolgsdruck immer weiter zunehmen und die Quoten als Messlatte noch wichtiger werden als jetzt schon.

Neue Gegenwart: Was sagen Unterhaltungsprogramme aus dem Bereich „Infotainment“ wie „Du bist was Du isst“, „Liebling, wir bringen die Kinder um!“ (beide RTL 2) oder Pseudo-Wissenschaftssendungen wie „Galileo“ (Pro Sieben) über die Zielgruppe und das Qualitätsempfinden der Zielgruppe?

Kammann: Das Qualitätsempfinden ist in diesen Fällen schwer messbar. Es wird nur ermittelt, ob die Sendungen eingeschaltet wurden – aus welchen Gründen, das kann nicht festgestellt werden, es gibt auch keine ernsthaften Ansätze zur qualitativen Zuschauerforschung. Deshalb sind auch derartige Spekulationen unsinnig. Ob die Zuschauer sich wirklich hintergründige Bildung oder einfach nur ein bisschen Entspannung erhoffen, ob sie das Gesehene für qualitativ hochwertig halten oder nicht, das wissen weder die Macher noch diejenigen, die die Quoten ermitteln. Aufschlussreich wäre es ja, anstelle der genannten Sendungen einmal anspruchsvolle und preisgekrönte Produktionen auch auf den prominenten Erfolgsplätzen zu zeigen. Wie gesagt: Oft wird der Zuschauer auch gnadenlos unterfordert, aus Angst, ihn zu vergraulen. Da wird lieber der Voyeurismus hemmungslos bedient, wird der Lust an wilden dramatischen Effekten gefrönt, und am Ende ist es schwer zu entscheiden, ob unsere Gesellschaft das Fernsehprogramm hat, das sie verdient (weil es die Durchschnittswünsche spiegelt), oder ob sich vieles ändern ließe, wenn die Macher und Senderverantwortlichen mutiger wären.


Neue Gegenwart: Woher kommt der Erfolg solcher Formate?


Kammann: Es gibt viele Gründe, warum Derartiges immer wieder funktioniert. Jenseits der so eindeutigen wie platten Motive der Macher – wie mit der Spekulation auf Effektvolles Quoten-Rendite einzufahren – gibt es auch ein starkes Bedürfnis nach Orientierung. Was scheint normal, also Standard zu sein, wie leben andere, was haben sie für Probleme und wie bewältigen sie sie? Das sind Fragen, die viele Zuschauer beschäftigen. Auf der einen Seite individualisiert sich, wie gesagt, die Gesellschaft, auch bei der Wahrnehmung der Medienangebote, auf der anderen Seite zeigt sich ein Trend mit dem Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit, nach Gemeinschaft, nach Nestwärme. Deshalb boomen so viele Special-Interest-Formate, von Einrichtungs- und Lifestyle-Magazinen über Erziehungstipps à la „
Super Nanny“ bis hin zu Sendungen, die gesellschaftliche Probleme wie das des immer stärker verbreiteten Übergewichts bei Kindern und Jugendlichen thematisieren. Sie bieten die Möglichkeit, die eigene Realität zu überprüfen, eigene mit fremden Problemen zu vergleichen und möglicherweise sogar Lösungsansätze zu finden, die bislang nicht in Erwägung gezogen wurden. Solche Sendungsformen mögen gut oder schlecht produziert sein – sie sind in jedem Fall oft nah am Leben ihrer Zuschauer, sie präsentieren einen ziemlich unmittelbaren Nutzwert. Darüber sollte man nicht die Nase rümpfen, sondern genau hinschauen, wo und wie diese Beziehungen greifen.

Neue Gegenwart: Lässt sich ein Trend zum Extremen beobachten?


Kammann:
Der Trend zum Extremen ist momentan schon wieder ein wenig abgeebbt. Als RTL mit dem so genannten „Dschungelcamp“ Millionen von Zuschauern an die Bildschirme fesselte, gab’s wieder eine heftige Debatte, wie einst bei „Big Brother“, wie auch bei den Schönheits-Schnippel-Shows; RTL plante gleich ganz eifrig Formate ähnlicher Machart, mit noch größeren Schrecknissen und der gleichen Dschungel-Moderatorin. Das hat sich von ganz allein wieder gegeben, ebenso wie der Rummel um „Big Brother“ oder um die in der Tat ziemlich schrecklichen Nachmittags-Talk- und Gerichtsshows. Ganz allgemein ist es nun mal so: Sobald ein so genanntes Format funktioniert, stürzen sich viele konkurrierende Sender auf das Muster, entwickeln Kopien in verschiedenen Varianten und überschütten den Markt so lange mit dem vermeintlichen Erfolgsprodukt, bis der Zuschauer die ganze Geschichte schlicht satt hat. Innerhalb eines Genres kommt es so zu teilweise absurden Steigerungen ins Extreme, thematisch, dramaturgisch und in vielerlei anderer Hinsicht. Trotzdem gibt es an anderen Stellen des Programms weiter beachtliche bis beste Qualität zu sehen. Das gilt für einige Genres stärker als für andere, ganz vorn sind zum Beispiel Krimiserien wie „Polizeiruf 110“, „Tatort“ oder „Bella Block“, die zum Teil seit Jahrzehnten hochwertige Produktionen zeigen und trotzdem – oder gerade deshalb – Erfolgsgaranten sind. Das deutsche Fernsehprogramm gehört zum Besten, was es in Europa zu sehen gibt – man muss nur genau hinschauen und intelligent auswählen. Arte und 3sat sind schließlich keine verbotenen Seh-Territorien.

Neue Gegenwart: Mal unter uns: Sind unter ihren persönlichen Fernseh-Favoriten auch Sendungen, die nicht den höchsten Standards genügen?


Kammann: Was für eine Frage. Was man selbst gerne sieht, genügt selbstredend immer höchsten Standards. Wer beispielsweise bei Sarah Wieners Auftritten in
Kerners Kochshow nicht sofort Lust auf Pfanne und Herd verspürt, dem ist nicht zu helfen, der wird mit Fast Food nicht unter zehn Jahren bestraft.

Neue Gegenwart: Vielen Dank für das Gespräch.