gerufene ‚Gegenveranstaltung’ namens „SSDSGPS“: All diesen Produktionen sind die Neugier und der Mut der Verantwortlichen,
hervorragendes Handwerkszeug und innovative Ideen gemeinsam. Intelligente
Unterhaltung ist möglich. Aber sie ist leider rar.
Neue Gegenwart: Wie stark ist die Qualität der
Unterhaltung von der Zielgruppe abhängig, die angesprochen werden soll? Ist die Qualität der Fernsehunterhaltung
nicht eine übergeordnete Kategorie, an
der sich alle Fernsehanbieter messen lassen müssen?
Kammann: Das kommt darauf an, um welche
Zielgruppen es geht. Das Alter der Zuschauer, welche ein Anbieter vor den
Fernsehschirm locken will, hat zum Beispiel sicher eher Einfluss auf die
Wahl des abgebildeten Milieus, der Sprache, der Figurenkonstellation als
zwingend auf die Qualität. Ähnliches dürfte für geschlechterspezifische
Produktionen gelten. Anders sieht es aus, wenn der Bildungsstand oder
-anspruch der Zuschauer einbezogen wird. Hier ist es schwieriger,
einheitliche Standards festzulegen und einzuhalten. Am Ende soll sich das
Publikum ja gut unterhalten, soll und will sich weder unter- noch überfordert
fühlen.
Neue Gegenwart: Ist
eine Angleichung der Unterhaltungsqualität und der Art der
Fernsehunterhaltung auf öffentlichen-rechtlichen und privaten Sendern zu
bemerken?
Kammann: Die
Arten der Fernsehunterhaltung unterscheiden sich meist schon deshalb, weil
ARD und ZDF im Durchschnitt ein älteres Publikum bedienen, während RTL,
Sat.1, Pro Sieben und die meisten anderen Privatsender jüngere Zielgruppen
ansprechen. Das aber sagt noch nichts über die Qualität aus. Die
öffentlich-rechtlichen Sender sehen sich seit Jahren mit dem Vorwurf der
„Pilcherisierung“ des Fernsehens ausgesetzt, finden bei Kritikern weder für
die diversen Telenovelas noch für ihre Volksmusik-Offensiven Verständnis und
bieten, wenn sie’s auf die jüngeren Zuschauer anlegen, zum Teil ebenso
hanebüchene Soap Operas wie die Privaten. Es gibt viel Schlichtes und
Schlechtes im Bereich der Unterhaltung, wir beobachten den Hang zum Seichten
und Belanglosen, ohne Witz und ohne Biss. Aber in beiden Systemen können
sich auch immer wieder tolle Produktionen durchsetzen, von „Blind Date“ mit
Anke Engelke und Olli Dittrich im ZDF bis zu „Stromberg“ auf Pro Sieben.
Auch hier gilt der schöne Gemeinplatz: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Neue Gegenwart:
Sie werden vermutlich häufig mit dem Vorurteil konfrontiert, der
Grimme-Preis würde nur Sendungen auszeichnen, die „elitär“ sind, Nischen
besetzen. Wie kann ein Unterhaltungsprogramm aussehen, das zugleich
qualitativ hochwertig ist und eine große Zielgruppe anspricht? Oder gibt es
das gar nicht?
Kammann: Doch, das gibt es schon. Sowohl der bereits genannte
Casting-Wettbewerb von Stefan Raab als auch beispielsweise die Comedy-Serie
„Nikola“, die vor einigen Jahren mit Mariele Millowitsch und Walter Sittler
in den Hauptrollen auf RTL lief, zeigen, dass Qualität und Quote keine
Gegensätze sein müssen. Oder „Genial daneben“ und „Schillerstraße“ auf
Sat.1, beide nominiert für den Grimme-Preis – das waren und sind tolle
Erfolge für den Sender und gleichzeitig intelligente, gut gemachte
Unterhaltungsformate. Oder „Wetten dass...?!“ als ZDF-Klassiker: ein immer
noch höchst unterhaltsames Programm, das leider nie Grimme-verziert wurde.
All diese Produktionen haben es geschafft, neue, manchmal auch
althergebrachte und wieder aufgefrischte Konzepte zu entwickeln, die mit
ihrem frechen, aber nicht derben Humor für ganz verschiedene
Zuschauergruppen funktionierten. Man merkte und merkt den Machern die
Begeisterung für die eigene Produktion an. Gleichzeitig kann man die
gleichen Komplimente auch Sendungen machen, die eher eine treue, aber
überschaubare Fangemeinde haben, von
Kurt Krömer mit seiner RBB-Show bis zu
„Pastewka“. Eines darf man bei der ganzen Diskussion nicht vergessen: Oft
verstecken die Sender ihre Perlen in Nischen, im Spätabendprogramm, wo sie
für viele normal arbeitende Zuschauer nicht zugänglich sind. Und der Mut zum
ganz Ausgefallenen ist unterentwickelt.
Neue Gegenwart: Sind derartige Sendungen angesichts der bestehenden
Zielgruppen realisierbar?
Kammann: Ja, immer wieder, aber es wird für beide Seiten schwieriger. Auf
der einen Seite werden die Zuschauer mit einer riesigen TV-Quellmasse
konfrontiert und müssen sich genau mit dem Programm beschäftigen, wenn sie
etwas Gutes und für sie Passendes finden und sehen wollen. Auf der anderen
Seite verändern sich die Sehgewohnheiten. Vom Familienfernsehen der
Achtzigerjahre, vom elektronischen Lagerfeuer sind wir heute weit entfernt,
weil in den meisten Haushalten mehrere Fernsehgeräte stehen. So treten
Fußball, Krimi und Actionserie nicht mehr in familieninterne Konkurrenz,
sondern werden ganz individuell geschaut. Die gegenwärtige technische
Entwicklung wird diese Individualisierung noch beträchtlich steigern. Wenn
das Internet es erlaubt, sich nahezu überall und jederzeit alles
herunterzuladen und anzusehen, verändern sich automatisch alle Bedingungen,
von der Produktion über die Programmverbreitung bis zu den Sehgewohnheiten.
Alle Seiten sind betroffen, von den Machern über die Veranstalter bis zu den
Zuschauern. Diese Veränderungen werden sich auch auf jedes einzelne Genre
beziehen – alles wird noch stärker aufgefächert, auch im Bereich der
Unterhaltung. Das muss nicht zwangsläufig zu Lasten der Qualität gehen.
Aber natürlich besteht das Risiko, dass Zeit- und Erfolgsdruck immer weiter
zunehmen und die Quoten als Messlatte noch wichtiger werden als jetzt schon.
Neue
Gegenwart: Was sagen Unterhaltungsprogramme aus dem Bereich „Infotainment“
wie „Du bist was Du isst“, „Liebling, wir bringen die Kinder um!“ (beide RTL
2) oder Pseudo-Wissenschaftssendungen wie „Galileo“ (Pro Sieben) über die
Zielgruppe und das Qualitätsempfinden der Zielgruppe?
Kammann: Das Qualitätsempfinden ist in diesen Fällen schwer messbar. Es wird
nur ermittelt, ob die Sendungen eingeschaltet wurden – aus welchen Gründen,
das kann nicht festgestellt werden, es gibt auch keine ernsthaften Ansätze
zur qualitativen Zuschauerforschung. Deshalb sind auch derartige
Spekulationen unsinnig. Ob die Zuschauer sich wirklich hintergründige
Bildung oder einfach nur ein bisschen Entspannung erhoffen, ob sie das
Gesehene für qualitativ hochwertig halten oder nicht, das wissen weder die
Macher noch diejenigen, die die Quoten ermitteln. Aufschlussreich wäre es
ja, anstelle der genannten Sendungen einmal anspruchsvolle und preisgekrönte
Produktionen auch auf den prominenten Erfolgsplätzen zu zeigen. Wie gesagt:
Oft wird der Zuschauer auch gnadenlos unterfordert, aus Angst, ihn zu
vergraulen. Da wird lieber der Voyeurismus hemmungslos bedient, wird der
Lust an wilden dramatischen Effekten gefrönt, und am Ende ist es schwer zu
entscheiden, ob unsere Gesellschaft das Fernsehprogramm hat, das sie
verdient (weil es die Durchschnittswünsche spiegelt), oder ob sich vieles
ändern ließe, wenn die Macher und Senderverantwortlichen mutiger wären.
Neue Gegenwart: Woher kommt der Erfolg solcher Formate?
Kammann: Es gibt viele Gründe, warum Derartiges immer wieder funktioniert.
Jenseits der so eindeutigen wie platten Motive der Macher – wie mit der
Spekulation auf Effektvolles Quoten-Rendite einzufahren – gibt es auch ein
starkes Bedürfnis nach Orientierung. Was scheint normal, also Standard zu
sein, wie leben andere, was haben sie für Probleme und wie bewältigen sie
sie? Das sind Fragen, die viele Zuschauer beschäftigen. Auf der einen Seite
individualisiert sich, wie gesagt, die Gesellschaft, auch bei der
Wahrnehmung der Medienangebote, auf der anderen Seite zeigt sich ein Trend
mit dem Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit, nach Gemeinschaft, nach
Nestwärme. Deshalb boomen so viele Special-Interest-Formate, von
Einrichtungs- und Lifestyle-Magazinen über Erziehungstipps à la „Super
Nanny“ bis hin zu Sendungen, die gesellschaftliche Probleme wie das des
immer stärker verbreiteten Übergewichts bei Kindern und Jugendlichen
thematisieren. Sie bieten die Möglichkeit, die eigene Realität zu
überprüfen, eigene mit fremden Problemen zu vergleichen und möglicherweise
sogar Lösungsansätze zu finden, die bislang nicht in Erwägung gezogen
wurden. Solche Sendungsformen mögen gut oder schlecht produziert sein – sie
sind in jedem Fall oft nah am Leben ihrer Zuschauer, sie präsentieren einen
ziemlich unmittelbaren Nutzwert. Darüber sollte man nicht die Nase rümpfen,
sondern genau hinschauen, wo und wie diese Beziehungen greifen.
Neue Gegenwart: Lässt sich ein Trend zum Extremen beobachten?
Kammann:
Der Trend zum Extremen ist momentan schon wieder
ein wenig abgeebbt. Als RTL mit dem so genannten
„Dschungelcamp“
Millionen von Zuschauern an die Bildschirme fesselte, gab’s wieder eine
heftige Debatte, wie einst bei „Big Brother“, wie auch bei den
Schönheits-Schnippel-Shows; RTL plante gleich ganz eifrig Formate ähnlicher
Machart, mit noch größeren Schrecknissen und der gleichen
Dschungel-Moderatorin. Das hat sich von ganz allein wieder gegeben, ebenso
wie der Rummel um „Big Brother“ oder um die in der Tat ziemlich
schrecklichen Nachmittags-Talk- und Gerichtsshows. Ganz allgemein ist es nun
mal so: Sobald ein so genanntes Format funktioniert, stürzen sich viele
konkurrierende Sender auf das Muster, entwickeln Kopien in verschiedenen
Varianten und überschütten den Markt so lange mit dem vermeintlichen
Erfolgsprodukt, bis der Zuschauer die ganze Geschichte schlicht satt hat.
Innerhalb eines Genres kommt es so zu teilweise absurden Steigerungen ins
Extreme, thematisch, dramaturgisch und in vielerlei anderer Hinsicht.
Trotzdem gibt es an anderen Stellen des Programms weiter beachtliche bis
beste Qualität zu sehen. Das gilt für einige Genres stärker als für andere,
ganz vorn sind zum Beispiel Krimiserien wie „Polizeiruf
110“, „Tatort“
oder „Bella
Block“, die zum Teil seit Jahrzehnten hochwertige Produktionen
zeigen und trotzdem – oder gerade deshalb – Erfolgsgaranten sind. Das
deutsche Fernsehprogramm gehört zum Besten, was es in Europa zu sehen gibt –
man muss nur genau hinschauen und intelligent auswählen. Arte und 3sat sind
schließlich keine verbotenen Seh-Territorien.
Neue Gegenwart: Mal unter uns: Sind unter ihren persönlichen
Fernseh-Favoriten auch Sendungen, die nicht den höchsten Standards genügen?
Kammann: Was für eine Frage. Was man selbst gerne sieht, genügt selbstredend
immer höchsten Standards. Wer beispielsweise bei Sarah Wieners Auftritten in
Kerners Kochshow nicht sofort Lust auf Pfanne und Herd verspürt, dem ist
nicht zu helfen, der wird mit Fast Food nicht unter zehn Jahren bestraft.
Neue
Gegenwart: Vielen Dank für das Gespräch. |