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Presse

Was von der Zukunft geblieben ist

1997: Zukunftsvision World Wide Web und die Wirklichkeit

Text: Thomas Roessing    Bild: Hannes Leitlein/Photocase.com  

 

Seit 15 Jahren gibt es das World Wide Web, doch erst in den vergangenen zehn Jahren hat es sich zu einem Massenmedium entwickelt, das aus dem Alltag der meisten Menschen in den Industrieländern nicht mehr wegzudenken ist. Die Vielfalt der technischen Entwicklungen seit Ende der 90er-Jahre, aber auch die Moden, Klassiker und Sünden des Web-Designs kann jeder Online-Nutzer mit Hilfe des Internet Archive selbst nachvollziehen. Dort sind beispielsweise die erste Startseite von Google aus dem Jahr 1998 („Might-work-some-of-the-time-prototype“), die ersten Gehversuche der deutschsprachigen Wikipedia von 2002 („Wir haben bereits 5183 Artikel“) und die Anfänge von YouTube aus dem Jahre 2005 zu besichtigen.

In die Zeit von 1998 bis 2008 fallen aber nicht nur Veränderungen des Gesichts des Webs durch technische Neuerungen. Mancher Online-Nutzer erinnert sich sicherlich noch an die privaten Homepages aus frühen Homepagebaukästen, die voller blinkender Gif-Grafiken und greller Laufschriften waren; eventuell empfindet er die moderneren Voll-Flash-Installationen einiger heutiger Web-Auftritte als nicht weniger hyperaktiv.

Mit dem Aufstieg und Fall der Dot.com-Manie 2000 und 2001 und dem weit vorsichtigeren Boom jener Online-Dienste, die gemeinhin mit dem Schlagwort Web 2.0 bezeichnet werden, waren die letzten zehn Jahre auch wirtschaftlich für das Internet und seine Macher eine bewegte Zeit. Und in der Folge der geplatzten Dot.com-Blase musste auch die Gesellschaft im Real Life erfahren, welches Gewicht das Internet inzwischen gewonnen hatte.

Gesellschaftliche Fragen der „Datenautobahn“ beschäftigten von Anfang an Politiker, Philosophen und Wissenschaftler. Wie so oft, wenn ein neues Medium immer populärer wird, ruft es neben manchmal überzogener Euphorie auch Ängste und Befürchtungen hervor – die freilich ebenfalls oft nicht realistisch sind. Zehn Jahre vielfältiger Entwicklung des World Wide Web sind ein geeigneter Anlass, ein Zwischenfazit zu ziehen. Welche Utopien sind gescheitert, welche Lebenslügen enttarnt worden? Welche Hoffnungen haben sich erfüllt, welche unerwarteten Geschenke hat das Netz seinen Nutzern gemacht?

Die Kommunikationswissenschaftlerin Margot Berghaus formulierte im Jahr 1997 „Sieben Thesen und ein Fazit“ zu der Frage „Was macht Multimedia mit Menschen, was machen Menschen mit Multimedia?" (Berghaus 1997
).

Dabei umfasst der Multimediabegriff zwar mehr als das World Wide Web, rückblickend betrachtet sind die Thesen jedoch vor allem darauf anwendbar: „CD-ROM und CDi“ erreichten nie die Verbreitung, die das WWW heute hat, „interaktives Fernsehen mit Settop-Box“ ist immer noch kein Massenmedium geworden und „Computersimulationen, Virtual Reality usw.“ sind heute vielfach integraler Bestandteil des World Wide Web und nicht auf externe Anwendungen wie Spielkonsolen beschränkt.


Medienkonkurrenz

Aus der ersten Berghaus-These stammt der Satz „Nach dem Fernseh-Zeitalter kommt das Multimedia-Zeitalter“ (Berghaus 1997: 74) – eine Annahme, die Medienforscher direkt zur Frage der substituierenden Mediennutzung führt: Sehen Menschen weniger fern, weil sie das Internet nutzen? Die Frage ist nur differenziert zu beantworten. Bestimmte, vor allem jüngere Online-Nutzer-Typen wie „Junge Wilde“ und „Zielstrebige Trendsetter“ gaben in der ARD/ZDF-Online-Studie an, dass sie ihren Fernsehkonsum reduziert hätten (sehen aber auch Printmedien und das Radio von dieser Substitution betroffen). Die Wahrnehmung der Internetnutzer wird dabei durch Daten zur tatsächlichen Nutzungsdauer gestützt: Wer ein beschränktes Zeitbudget für die Mediennutzung hat, muss seine Online-Zeit von anderen Medien abziehen (Oehmichen/Schröter 2007: 416f.). Davon ist in vielen Fällen besonders das Fernsehen betroffen, stellte es doch früher einen besonders großen Teil der für die Mediennutzung aufgewandten Zeit. Gleichwohl verfällt das Fernsehen nicht in Bedeutungslosigkeit, ist bislang nicht vom Internet völlig verdrängt worden. Global betrachtet sehen Onlinenutzer sogar etwas mehr fern als Nichtnutzer (van Eimeren/Frees 2007: 376). Der von Margot Berghaus erwartete Zeitenwechsel deutet sich also zwar weiterhin an, ist aber noch lange nicht vollzogen.

Die Frage, ob das überhaupt jemals geschehen wird, führt zur zweiten These aus dem Jahr 1997: „Multimedia verdrängt nicht das Fernsehen und die anderen ‚alten‘ Medien. Die ‚alten‘ werden zu einer Steuerungs-, Orientierungs- und Zulieferungsinstanz für die ‚neuen‘ Medien“ (Berghaus 1997: 75). Dieser als Riepl’sches Gesetz bekannt gewordenen Annahme zum Trotz wurden in der Vergangenheit immer wieder Kommunikationsmittel zur Ablösung durch elektronische Kommunikation vorgeschlagen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Pläne für das „papierlose Büro“ oder die Überlegung, E-Books mit geeigneten mobilen Lesegeräten könnten das klassische Buch verdrängen. Der Tatsache zum Trotz, dass elektronische Bücher heutzutage in den verschiedensten Formaten durchaus
eine Rolle für den Interessierten spielen, beweist ein Blick in eine beliebige Bahnhofsbuchhandlung, dass das klassische Buch keineswegs ausgedient hat. Und ein Blick in beliebiges Büro zeigt, dass Papierlosigkeit auch im Jahre 2008 noch immer Utopie ist.


Mitmach-Web?

Die zunehmende Verfügbarkeit von Online-Kommunikation verändert jedoch nicht nur die Medienlandschaft, sondern auch ihre Nutzer. Angesichts der Entwicklungen in dem Bereich, der mit dem Schlagwort Web 2.0 assoziiert wird, scheint Berghaus‘ These aus dem Jahr 1997 durchaus zutreffend zu sein: „Das traditionelle Massenmedienmodell gilt nicht mehr: „‘Sender‘, ‚Medium‘ und ‚Empfänger‘ (‚Publikum‘) werden demontiert“ (Berghaus 1997: 77). „Mitmach-Web“ und Web 2.0 sind in aller Munde, der Rezipient scheint endgültig den Schritt zum Kommunikator getan zu haben: Blogs, Wikipedia, Medienplattformen wie Youtube und Produktbewertungsseiten leben vom Engagement der Nutzer, User-Generated-Content ist zentrales Merkmal des Phänomens hinter dem Schlagwort Web 2.0 (Kilian/Hass/Walsh 2008). Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass nicht nur das Schlagwort
einen Entwicklungssprung vorgaukelt, der sich in Wirklichkeit lediglich als eine kontinuierliche Entwicklung darstellt. Auch die Bedeutung der von Nutzern bereitgestellten Inhalte wirkt wie durch die Lupe der YouTube-Euphorie vergrößert. Nur ein geringer Teil der Nutzer der Web 2.0-Plattformen trägt selbst etwas bei: sieben Prozent bei Videoportalen, 25 Prozent bei Weblogs, sechs Prozent bei Wikipedia (laut ARD/ZDF-Onlinestudie, Gscheidle/Fisch 2007: 401), der Löwenanteil der Nutzer besteht weiterhin aus klassischen Nur-Rezipienten, „Lurkern“ im Jargon des Internet. Es ist nicht einmal sicher, dass der Anteil der aktiven Nutzer heute höher ist als vor zehn Jahren: Homepage-Baukästen, Web-Chats und das Usenet erlaubten damals schon jedem Internetnutzer selbst etwas zum Netzinhalt beizutragen; durch die ebenfalls mit dem Begriff Web 2.0 bezeichneten technischen Weiterentwicklungen wie AJAX (Asynchronous Javascript and XML, baut beispielsweise baut auf dem schon lange etablierten Java-Script auf) ist es lediglich für die breite Masse der heute aktiven Anwender leichter geworden, sich im Internet zu verewigen.


Grenzen

Die erste Generation der deutschen Internetnutzer war noch eine technisch versierte, junge, männliche, gut gebildete Informationselite (van Eimeren/Frees 2007). Angesichts dessen formulierte Margot Berghaus im Jahr 1997 ihre Befürchtungen – aber auch ihre Hoffnungen – hinsichtlich der Wirkung des Internet auf gesellschaftliche Grenzen: „Eine Grenze zwischen Jung und alt wird errichtet“, „Eine Grenze zwischen Männern und Frauen wird errichtet“; aber auch „Die Grenze zwischen sozialem Oben und Unten wird abgeflacht“ (Berghaus 1997: 80f.). Und in Teilen der Politikwissenschaft wurden Ende der 90er-Jahre Visionen umfassender politischer Partizipation propagiert, E-Democracy, Habermas'scher Elitediskurs für alle.

Einiges davon hat sich bewahrheitet, manches ist inzwischen überwunden und anderes hat sich als Utopie entpuppt. Der einige Jahre vorherrschende Unterschied bei der Online-Nutzung durch Männer und Frauen ist deutlich kleiner geworden: 1998 war der Anteil der männlichen Online-Nutzer fast dreimal größer als der der weiblichen Nutzer (15,7 zu 5,6 Prozent), 2007 liegen die Männer zwar immer noch vorn, führen aber nur noch mit einem Anteil von 68,9 Prozent gegenüber den Frauen (56,9 Prozent) (Van Eimeren/Frees 2007: 364). Eine deutliche Mehrheit von Männern und Frauen ist online. Auch ältere Menschen finden zunehmend Zugang zum Netz (Van Eimeren/Frees 2007: 363f.) – wobei man freilich bedenken muss, dass auch Internetnutzer altern und sich das WWW mit dem Älterwerden ehemals junger Nutzergenerationen automatisch zu einem „Alte-Leute-Medium“ entwickeln wird. Vormals bestehende soziale Grenzen – verursacht vor allem durch hohe Kosten für die Online-Nutzung – sind durch Breitband-Flatrates entschärft worden. Dabei bleibt jedoch die Tatsache, dass geringe Bildung immer noch hoch mit Nichtnutzung des Internet korreliert (Gerhards/Mende 2007: 380) als Problem bestehen. Nicht erfüllt haben sich dagegen die Träume von totaler E-Partizipation mündiger Web-Nutzer: Das Internet dient den meisten zwar überwiegend zur Information (van Eimeren/Frees 2007: 368.), ist aber schon rein inhaltlich kein rein politisches Medium.



Fazit


In zehn Jahren hat sich im World Wide Web vieles geändert, manches rasant, anderes nur allmählich. Das Web hat die Medienlandschaft gewandelt aber nicht revolutioniert, es hat aus Rezipienten Kommunikatoren gemacht, wenn auch nicht in dem Ausmaß, das der Hype um Web 2.0 nahe legt. Das WWW erreicht heute mehr Menschen und seine Nutzer zeigen immer weniger soziale Unterschiede, wenngleich die Be- und Entgrenzungstendenzen auch in diesem Bereich nicht so hart ausgefallen sind, wie Ende der 90er-Jahre von manchem erwartet. Die Entwicklung geht weiter und vielleicht hat die Gesellschaft ja vom semantischen Web („3.0“) oder von
IPv6, das die Einbindung aller erdenklichen Alltagsgegenstände ins Internet ermöglicht, die revolutionäre Entwicklung zu erwarten, die eigentlich schon für Web 1.0 und Web 2.0 vorhergesehen worden war.

Der Autor




Dr. Thomas Roessing, Jahrgang 1973, studierte in Mainz Publizistikwissenschaft, Politikwissenschaft und Strafrecht. 2000 bis 2001 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt VIROR (Virtuelle Hochschule Oberrhein) an der Universität Mannheim. Seit 2002 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und EDV-Beauftragter am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. 2007 wurde er mit einer Arbeit über empirische Methoden und Analysestrategien für die Forschung zur Theorie der Schweigespirale promoviert. Er ist Herausgeber des Sammelbandes "Politik und Kommunikation -- interdisziplinär betrachtet"; seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Methodenlehre und Online-Kommunikation.




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Literatur


Berghaus, Margot (1997): Was macht Multimedia mit Menschen, machen Menschen mit Multimedia? Sieben Thesen und ein Fazit. In: Peter Ludes / Andreas Werner (Hrsg.): Multimedia-Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag. S. 73-85.

Gerhards, Maria; Mende, Annette (2007): Offliner 2007: Zunehmend distanzierter, aber gelassener Blick aufs Internet. In: Media Perspektiven 8/2007, S. 379-392.

Gscheidle, Christoph; Fisch, Martin (2007): Onliner 2007: Das „Mitmach-Netz“ im Breitbandzeitalter. In: Media Perspektiven 8/2007, S. 393-405.

Kilian, Thomas; Hass, Bertold H.; Walsh, Gianfranco (2008): Grundlagen des Web 2.0. In: Bertold H. Hass / Gianfranco Walsh / Thomas Kilian (Hrsg.): Web 2.0. Neue Perspektiven für Marketing und Medien. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag. S. 3-21.

Oehmichen, Ekkehardt; Schröter, Christian (2007): Zur typologischen Struktur medienübergreifender Nutzungsmuster. In: Media Perspektiven 8/2007, S. 406-421.

van Eimeren, Birgit; Frees, Beate (007): Internetnutzung zwischen Pragmatismus und YouTube-Euphorie. In: Media Perspektiven 8/2007, S. 362-378.