Voran, zurück?


KOMMENTAR:
THOMAS KLIEGEL
BILD: EISENMAN ARCHITECTS



Eine Außensicht der Ereignisse um Hohmann und Degussa. Wie der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez – bekannt durch seine Romane zu Juan Domingo und Eva Perón (Santa Evita, Suhrkamp 1998) – bei einem Deutschlandbesuch mit der deutschen Vergangenheit konfrontiert wird, sich an ähnlich dunkle Flecken in der Geschichte lateinamerikanischer Länder erinnert fühlt und sein Kommentar uns mahnen sollte, die Außenwirkung deutscher Vergangenheitsbewältigung im Ausland niemals zu unterschätzen (der am 15.11.2003 in La Nación erschienen ist).

„Nach so vielen Erfahrungen mit der Grausamkeit kann man nicht sicher sein, dass der Fanatismus für immer verschwunden ist und dass der Mensch moralisch besser ist als 1933, als Hitler an die Macht gelangte. Es genügt der geringste Funke der Intoleranz damit sich die Bedrohung eines weiteren Brandes manifestiert.“

Diesen Schluss zieht Martínez nach einem Besuch in Berlin in Zeiten von wirren Abgeordnetenreden zur Deutschen Einheit und dem Bau des Holocaustmahnmals mit Unterstützung von Firmen mit in dieser Hinsicht dunkelster Vergangenheit. Die Vergangenheit sei eine Tätowierung, die die Zeit nicht verwünsche, so lautet der Titel dieses Kommentars in einer der größten argentinischen Tageszeitungen. Je mehr Deutschland der Zukunft entgegengehe, desto mehr gehe es in die eigene Vergangenheit zurück. Nicht von ungefähr kommt diese Feststellung eines Ausländers, der am 30. Oktober 2003 in einem Berlin eintrifft, wo die Titelseiten deutscher Zeitungen von der „Enthüllung“ der Degussa-Vergangenheit, welche natürlich in Wirklichkeit schon immer bekannt war, beherrscht werden. Dem argentinischen Leser wird erklärt, was es mit der Vergangenheit der Firma auf sich hat, aber auch die weitere Entwicklung einer Degussa, die sich wie kaum eine andere deutsche Firma immer ihrer braunen Vergangenheit gestellt hat. Der Architekt Eisenman und Botschafter Avi Primor werden in ihrer Haltung gegen eine Verdammung des deutschen Volkes, in Erinnerung an die fatale christliche Theorie des „blutbefleckten“ jüdischen Volkes, zitiert.

Es ist für einen deutschen Leser geradezu augenfällig, wie weit der Autor ausholen muss, um seinen Adressaten den Kampf der Deutschen mit ihrer eigens auferlegten political correctness begreiflich zu machen. Doch bleibt er nicht beim ambivalenten Streit über die Degussa stehen, sondern erzählt von den Sorgen der Überlebenden und Nachkommen der Holocaustgeneration, deren schmerzliche Erinnerung durch das Aufflammen antisemitischer Gesinnungen in Deutschland immer wach gehalten wird und gelangt zum – mittlerweile fraktionslosen - Abgeordneten Hohmann.

Richtig stellt er dar, dass Hohmann jedenfalls nicht zur politischen Nomenklatur in Deutschland gehöre, allerdings betont er die Ungeheuerlichkeit der Bezeichnung des jüdischen Volkes als Tätervolk. Zwar verneint Hohmann seine provokative Frage in der Rede postwendend, dieses ist aber nicht nur in vielen deutschen Medien, sondern ebenfalls bei Martínez untergegangen. Es ist aber genauso wenig notwendig, dieser nachträglichen Verneinung irgendeine Bedeutung beizumessen, da sie für Hohmann nur die Rückzugslinie darstellte, hinter der er glaubte, sich verstecken zu können. Die Rede liefert alle Argumente für den willigen Stammtischbruder, ein Tätervolk zu entdecken, die letztendliche Verneinung ist nicht mehr als geschickte Rhetorik – er stellt seine These auf, untermauert und entwickelt sie mit angeblichen historischen Beweisen, um sie am Ende zu verneinen, was natürlich untergeht. Schon die Wortwahl Hohmanns markiert den zu erwartenden Inhalt, er spricht von Juden im Sinne einer nationenübergreifenden Gruppe, sie sind auf einmal nicht mehr Deutsche oder Russen, sondern Juden. Er stellt nicht Christen neben Juden, sondern Deutsche, als wären Religion und Nationalität ein und dasselbe und als ob es keine deutschen Juden gäbe.

Nicht ganz falsch ist die Beobachtung Martínez’, dass die Stelen eine Graffitischutzschicht nicht benötigten, wenn nicht befürchtet würde, braune Schmierer könnten mit ihren Parolen das Andenken beschädigen. Die Vergangenheit eines Landes sei immer lebendig und warte nur darauf, der Zukunft ihre Fangzähne einzuschlagen – das gelte auch für die Länder Lateinamerikas, die vielleicht nicht mit einer genauso belastenden, aber nicht weniger grausamen Vergangenheit aufwarten.

Diese Außensicht sollte uns auch noch etwas anderes lehren: jedes Hakenkreuz auf einem jüdischen Friedhof, jede Tätlichkeit gegenüber anders Denkenden, Glaubenden oder Aussehenden und jede neonazistische Parole trifft nicht nur bei unseren Nachbarn, sondern in der ganzen Welt auf sorgsame und kritische Beobachter, die unsere Vergangenheit nicht vergessen haben. Ein Bundestagsabgeordneter, der sich dessen nicht bewusst ist und dazu ernsthaft solche Äußerungen tätigt, beschädigt das Ansehen unseres Landes und seiner Bürger in enormem Ausmaße und gehört nicht dorthin, wo er sich befindet. Gut, dass die CDU reagiert hat, schade, dass es so lange gedauert hat.



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AUSGABE 35
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