ZENSUR
Die Kunst kennt
keine Tabus
KOMMENTAR:
JENS
O. BRELLE
Darf die Kunst alles? Zensur und die rechtlichen Grenzen der Erotik und
Pornografie in Kunst, Werbung und Medien. Erläutert vom
Hamburger Medienanwalt Jens Olaf Brelle.
Schenkt man Alice Schwarzer Glauben, fördert die Verbreitung von Pornografie
die Gewalt gegen Frauen und Kinder. Pornografie stellt demnach Frauen (nur
Frauen) grundsätzlich in erniedrigender Haltung dar bzw. die Pornografie an
sich ist eine demütige Handlung gegen Frauen.
Beispiele von Zensur durch Kirche und Staat: Ende des 18. Jahrhunderts
formulierte der Marquis de Sade seine Befreiungs-Philosophie und wurde dafür
geächtet. Anfang des 20. Jahrhunderts avanciert der Lustmörder zum
Lieblingsthema deutscher Avantgarde-Künstler wie George Grosz und Paul Klee.
Ende der 60er träumen die Rolling Stones vom finalen Orgasmus, als sie in
ihrem Song "Midnight Rambler" den "Würger von Boston" feiern. Mitte der 80er
macht der Österreicher Falco mit "Jeanny" den Lustmord zum Disco-Hit und
sorgt für einen Skandal. Auch die Berliner Ärzte machten wegen ihres Songs
„Geschwisterliebe“ Bekanntschaft mit der Staatsanwaltschaft und dürfen den
Text seither nicht mehr live performen. Der Stern sorgte mit einem
Nackt-Cover für einen Medienskandal.
Noch heute mokieren sich Modedesigner der alten Schule über nackte Models
auf den Laufstegen und in der Werbung: „Heute muss man schon einen nackten
Hintern zeigen, wenn man nur eine Handtasche bewerben will“, sagt
Mode-Veteran Giorgio Armani. Er findet es einfach nur vulgär, dass Frauen in
Modekampagnen zunehmend Softporno-Darstellerinnen ähnelten.
Doch oder gerade deshalb
gilt heute umso mehr: „Sex sells“. Nicht nur in der Mode. Auch auf
Zeitschriften- und Plattencovern, in der Werbung, im Fernsehen, im Kino und
letztlich in der Kunst präsentiert sich genüsslich jede Form der Nacktheit.
Und es kommt gut an.
In den Kunstgalerien vergnügt sich die Szene mit Tony Ward an primären
Geschlechtsteilen entblößter Frauen.
Terry Richardsons "Too Much" zeigt gänzlich unzensierte Fotos:
Hochglanz-Modewelt vs. Schmuddelästhetik. Die Perfomance-Künstlerin
Andrea Fraser hat in ihrem Video Sex mit einem Kunstsammler. Und lässt sich
das von ihm als Auftragsarbeit bezahlen. 60 Minuten, ungeschnitten, ohne
Ton. Das soll nicht erotisch sein und auch kein Porno. Es geht Fraser um die
Vermarktung: Sex gegen Geld oder Kunst gegen Geld. Ihr Tenor: „Nicht
der Künstler bestimmt, was Kunst ist, sondern die Kritiker, Sammler und
Kunsthändler.“ Die Ausstellung „Cum Shots" von Ashkan Sahihi zeigt das, was
in jedem Pornofilm Abschluss und Höhepunkt der Interaktion ist: Cum Shots.
Allerdings ohne den sonst üblichen Vorlauf.
Fazit: Nackte Haut, Sex
und Pornografie in Kunst, Werbung und Medien „schocken“ die Gesellschaft
heute keineswegs mehr.
Im Gegenteil: Die moderne Gesellschaft entblößt sich selbst. Geradezu
zwanghaft. Und nicht nur den Körper. In Talkshows (Bärbel Schäfer & Co.) und
„Autobiografien“ (Becker, Bohlen, Naddel...) stellen die Menschen ihr
innerstes Seelenleben der Öffentlichkeit zur Schau. Zensur? Nein.
Dennoch wird Pornografie als Tabu behandelt. Veraltete Definitionen,
Moralvorstellungen und Gesetze vermitteln ein Zerrbild moderner Kultur und
Medienwirtschaft.
Wie definiert das Gesetz (§ 184 StGB) Pornografie? „Als pornografisch ist
eine Darstellung anzusehen, wenn sie unter Ausklammerung aller sonstigen
menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher, anreißerischer
Weise in den Vordergrund rückt und ihre Gesamttendenz ausschließlich oder
überwiegend auf das lüsterne Interesse des Betrachters an sexuellen Dingen
abzielt". Pornografie ist die betonte Hervorhebung der Geschlechtsorgane,
z.B. durch Vergrößerung oder durch starkes Spreizen der Schenkel. Als
Faustregel sollen etwa dienen: Bei der Frau die Sichtbarkeit der
Schamlippen, beim Mann die Sichtbarkeit des erigierten Penis (Richtwert der
Rechtsprechung: etwa ab einem 45 Grad-Winkel).
Keine Pornografie ist dagegen das Zeigen von bloßer Nacktheit oder
Darstellung von sexuellen Stellungen ohne Sichtbarkeit der Geschlechtsteile.
Daraus folgt: sog. Nudistenbilder sind im allgemeinen keine Pornografie.
Auch wissenschaftliche Werke gelten von vorneherein als nicht pornografisch.
Dagegen kann nach dem Gesetz ein Kunstwerk als pornografisch eingestuft
werden. Logisch?
Nein, denn mittlerweile darf selbst Premiere in Deutschland einen
"Telemediendienst für Vollerotik" anbieten. Das Programm wurde dabei als
Mediendienst eingestuft. Das Gesetz verbietet grundsätzlich Pornokanäle im
Fernsehen. Nur als Mediendienst dürfen nicht nur erotische, sondern auch
pornografische Inhalte angeboten werden. Mediendienste sind eine
Gesetzeslücke, die dieses Problem umgehen. Konsequent?
Nein, eher ein brillantes Beispiel für gesellschaftliche Verlogenheit,
veraltete Moralvorstellungen und überholte Gesetze.
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