BEZIEHUNGSKOMÖDIEN UND DIE SPASSGESELLSCHAFT
Die Bewegte
Nation
TEXT:
JONS
MAREK SCHIEMANN
BILD: PHOTOCASE.DE
Zur Zeit ist die Aufregung
wieder mal groß. Dabei geht es gar nicht mal um die geplanten Verschärfungen
der Sicherheit, wie zum Beispiel Retinascanner, digitaler Fingerabdruck und
Videoüberwachungen öffentlicher Plätze. Es geht um einen anderen Big
Brother. Nämlich um die gleichnamige Sendung, die zum wiederholtem Male auf
RTL 2 läuft. Eine Kandidatin namens Sandra wurde nach öffentlichem Druck aus
dem Container geworfen, weil sie ein kleines Kind hat und sich im
Fernsehknast naturgemäß nicht darum kümmern kann. So schallte es im
Blätterwald „Rabenmutter“, die Politikerherde blökte am lautesten und die
kirchlichen Schäfer wollten das Lamm heimholen. Nach den Gründen der
Kandidatin ihren Sohn bei Oma zu lassen und in den Container zu ziehen,
wurde nicht gefragt. Vielleicht ist es ganz simpel: in dieser
kinderfeindlichen Gesellschaft brauchte sie höchstwahrscheinlich Geld.
Offensichtlich wurde eine Grenze überschritten. Kinder sollen nicht
instrumentalisiert werden. Außer es betrifft natürlich die Politik und die
Wirtschaft. Jetzt aber war Schluss mit lustig.
Privates in die Öffentlichkeit zu bringen ist dabei ein uraltes Thema der
Literatur. Die in Prosaform dargestellten Gefühle und Handlungen von
Protagonisten sind in aller erster Linie „privat“. Literatur dient nicht nur
der Zerstreuung, sondern auch der Reflexion. Und Reflexion ist privat.
Zumindest vom Ursprung her.
In den letzten Jahren wurde aber jedes kleine Zipfelchen in die
Öffentlichkeit gezerrt. In unserer so genannten
Spaßgesellschaft, die seit den Anschlägen vom 11. September und der
Wirtschaftskrise im Verfall begriffen ist, ohne dass irgendjemand weiß,
wohin die Reise gehen wird, war man angepassterweise fröhlich und ließ
Probleme zu Hause. Erfolg war messbar an der Unfähigkeit feste Bindungen
einzugehen. Man konnte nur auffallen, wenn man sich verweigerte.
Paradoxerweise wurde man dadurch ignoriert und fiel erst recht nicht auf. So
musste zwangsläufig jedes Extrem ausprobiert werden, natürlich möglichst
öffentlich, um in der allgemeinen Hysterie aufzufallen und jeder Trend war
schon wieder out, bevor man ihn festmachen konnte. Was Wunder, dass alles
extremer wurde und unsere Gesellschaft immer dekadenter.
Die Sehnsucht aufzufallen, trieb die Leute massenweise in die Talkshows,
machte Freizeitstress zum Statussymbol und ließ Ultraschallfotos von Babys
in der Presse verbreiten. Insofern war das Kind bei
„Big Brother“ nichts neues.
Ein deutliches Spiegelbild dieser gesellschaftlichen Strukturen waren die
Beziehungskomödien der neunziger Jahre. Auf humoristische Weise wurde die
Beziehungsunfähigkeit dargestellt und jeder Ansatz von Romantik
unter Fäkalwitzen begraben.
Waren die deutschen Komödien wie
„Der bewegte Mann“ und „Stadtgespräch“ noch bestimmt von der Reifung und der
Selbstfindung der Protagonisten, behandelten sie die Figuren liebevoll. Aber
bindungsunfähig waren sie alle. Ebenso wie in „Vier Hochzeiten und ein
Todesfall“, der aber gerade dieses thematisierte. Die
Bestrebungen und (sexuellen) Nöte gerade Jugendlicher wurden exaltiert in
Filmen wie „Verrückt nach Mary“, „American Pie“ und „Scary Movie“ auf das
Korn genommen. Die Aufregung über die explizite Thematisierung der
Sexualität beschränkte sich weitgehend auf das puritanisch prüde Amerika.
Durch die Lächerlichmachung der Akteure wurde gleichzeitig deren sexuelles
Streben kritisiert und als verwerflich dargestellt.
Ein Richtungswechsel stellt spätestens der große Erfolg von „Die fabelhafte
Welt der Amelie“ dar und wird durch neuere Filme wie zum Beispiel „Unterwegs
nach Cold Mountain“ fortgeführt. Denn
nun, nach dem großem Erwachen und Sektkater, wird die Romantik wieder
entdeckt und damit die Sehnsucht nach Geborgenheit, Rückzug und etwas
Festem, das der Fels in der Brandung sein soll.
ZUM
SEITENANFANG
|
AUSGABE 37
SCHWERPUNKT DAS ÖFFENTLICHE PRIVATE
STARTSEITE
EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
INTERVIEW MIT JENS O.
BRELLE
MOMA IN BERLIN
DIE KULISSENSCHIEBER
FÜNF FRAGEN - ZEHN
ANTWORTEN
DIE BEWEGTE NATION
DARF DIE KUNST ALLES?
MAMA IST DOCH DIE BESTE
DIE EWIGE WIEDERHOLUNG
HYBRIDFORMATE SIND TRUMPF
RÜCKSICHT BEIM TELEFONIEREN
EHRE, WEM EHRE GEBÜHRT
NUR BARES IST WAHRES
ALLE AUSGABEN IM ARCHIV
DAS REGISTER
ÜBER DIE GEGENWART
IMPRESSUM
|