Es werde Europa

Überlegungen zur Vermittlung einer europäischen Identität


Text:
Michael Feuersenger, München  
Bild:
Photocase.com

In aller Herren Länder wird ein Mehr an Europa gefordert. Unterschiedlich laut zwar, aber in der Sache entschlossen. Eine Bestandsaufnahme abseits der politischen Debatten mag deutlich machen, wie vieles heute schon ganz und gar Europa ist. 

Ein Tag hat 24 Stunden, völlig unbestritten. Aber was passiert da eigentlich zwischen Aufstehen und Schlafengehen und selbst nachts, wenn jeder seine Wahrnehmung der Welt mal mehr, mal weniger deutlich im Traum verarbeitet?

Versuche einer Antwort auf diese banal anmutende Frage müssten sich letztlich äußerst komplex ausnehmen. Hätten doch handlungstheoretische, soziologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse in ihnen tragende Rollen zu spielen.     


Vielleicht geht es auch einfacher. Geht man vom Selbstverständlichen aus, wird dann Lebenswirklichkeit gestaltet. Oder sie gestaltet sich. Für rund 460 Millionen Menschen ereignet sich dabei auch und nicht zuletzt ganz konkret Europa. So viele etwa leben nämlich in den Staaten der Europäischen Union zusammen und damit in einem geographischen und politischen Raum, in dem es offenkundig schon schwer zu fallen scheint, zumindest punktuell eine gemeinsame Identität auszumachen.


Versuch einer Bestandsaufnahme

Von Paul Valéry stammt der Satz: „Unbedingt europäisch ist alles, was von drei Quellen
Athen, Rom und Jerusalem herrührt.“ Noch völlig ungeachtet der geistesgeschichtlichen Dimension dieser Aussage ist damit auch die unabgeschlossene Entwicklung ganz zentraler Bereiche menschlichen Lebens angesprochen, die moderne Gesellschaften strukturieren und in ihnen ordnende oder unterstützende Funktion haben. Medizin und Recht etwa genauso wie das mag  selbstverständlicher erscheinen politische, kirchliche und soziale Institutionen.

Zähneputzen, dass sich jemand einen Termin macht und zum Arzt geht, wenn sie oder er krank ist, dass Menschen wählen gehen und pünktlich ihre Steuererklärung einreichen
– das ist alles ungeheuer europäisch. Natürlich nicht nur, aber auch europäisch. Es sollte deutlich geworden sein, dass nicht überall Europa drauf steht, wo ein kleines oder großes Stückchen davon drinsteckt.

Von hinten durch die Brust ins Herz. Positiv gewendet

Reflexion konkreter Lebenswirklichkeit als Indikator dafür, in welchem Maße jemand oder etwas europäisch ist, ist mühsam aber nötig. Bergarbeitern oder Archäologen gleich sind die Menschen aufgefordert, sich in ihre Geschichte und Geschichten gleichsam einzugraben. Sich der vielfältigen Vernetzungen und Gemeinsamkeiten neu oder gar zum ersten Mal überhaupt bewusst zu werden. Für das zugegeben ambitionierte Projekt einer umfassenden historischen Vergewisserung über die schöpferischen Leistungen einer kulturellen Landschaft sei an dieser Stelle ausdrücklich geworben. Scheint dieses doch so etwas wie eine notwendige Vorbedingung zu sein, um einem Raum und den Menschen, die in ihm leben, ihn somit alltäglich prägen, wenigstens ein kleines Stück gemeinsamer Identität einzustiften.

Problemanzeigen

Das Anliegen ist dringend. Denn bisher kommt man kaum umher, die Diagnose zu stellen, die Europäische Union namentlich habe insgesamt eine äußerst  schlechte Presse. In der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit erscheint das im Wachsen befindliche Europa zunehmend abstrakt und damit fremd, ja fast feindlich. In diesem Zusammenhang stehen Medien in einer besonderen Verantwortung. Einmal mehr diejenigen, die es überhaupt für wert halten, durch eine kritische Würdigung Europas eine offensichtliche Leerstelle in der Berichterstattung zu korrigieren. „Die hohe Skepsis weiter Teile der Bevölkerung gegenüber Europa resultiert aus einem Mangel an Aufklärung und Information“, urteilt etwa Mathias Gierth, stellvertretender Chefredakteur des Rheinischen Merkur. Ein quantifizierbares Problem, sagt die Stimme aus der Praxis: „Gemessen an der Gesamtberichterstattung rangieren Europa-Themen immer noch im einstelligen Prozentbereich.“

Damit nicht genug. Steht Europa auf der Agenda einschlägiger Medien, präsentiert sich das, was zu verhandeln ist, fast immer in Gestalt harter Themen, nachrichtlich, kühl. Das begründet sich in der Natur der Sache. 

Wege aus der Krise

Europa in Watte zu packen und so ein Mehr an Identifikation von den Menschen, die es ihm ihr Gesicht geben, und vom politischen Raum auf den Weg zu bringen, hält Gierth für keine Lösung. Nicht nur dass das dem Selbstverständnis moderner Medien entgegenstehe, die sich gerade in pluralistischen Gesellschaften als Debattenforen begriffen. „
Es ist vielmehr Aufgabe der Medien, sich sachgerecht mit den inhaltlichen Entscheidungen wie den Entscheidungsmechanismen Brüssels auseinanderzusetzen“, sagt Gierth und kommt zu dem ermutigenden Schluss, dass „in einer kritischen Auseinandersetzung mit Europa kein Widerspruch zur Bereitschaft einer freundschaftlichen Einlassung“ auf dasselbe liege. „Im Gegenteil“. Alles Bemühen um eine möglichst lückenlose Dokumentation der Transformationsprozesse in Europa wird eben notwendig auch deren Chancen und Potentiale nicht unterbelichtet lassen oder gar verschweigen. Ein solches Bemühen ist vielmehr programmatischer Auftrag.   

Über die notwendige politische Beschäftigung mit Europa hinaus mag es sich als durchaus lohnenswert erweisen, ab und zu daran zu erinnern, dass Europa nicht zuletzt eine Wertegemeinschaft ist. Die Wertedebatte als praktischer Beitrag zum bereits als überfällig angemahnten Projekt einer umfangreichen historischen Vergewisserung über Quellen und Wurzeln des modernen Europa.

„Der Diskurs für sich ist schon ein genuin europäisches Phänomen“, bemerkt Klaus Müller, Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie in Münster. Das leuchtet sofort ein, stellt Valéry alles Europäische doch in die Tradition der größten Debattierclubs der vorchristlichen und christlichen Antike: Athen, Rom und Jerusalem. Hohe Verständigungs-potentiale und große verbindende Kraft der Werte an sich und des Sprechens über sie bestätigt Müller etwa mit Blick auf Kant, der „Werte für universalisierbar hielt“.

Eine Grundvoraussetzung einer fruchtbaren Rede über die Werte lässt sicht mit dem Philosophen Dieter Henrich vielleicht so formulieren: Dem Einzelnen muss einleuchten, dass der Gegenstand der Verhandlung unmittelbar mit ihm zu tun hat. Klaus Müller etwa setzt hier bei der „grundsätzlichen Ästhetisierbarkeit von Werten in den Medien von Bild, Ton und Text“ an. Es sei nun Aufgabe so genannter „Trägerinstitutionen von Werten, mediale Multiplikatoren für die laufenden Debatten zu sensibilisieren“, erklärt Müller. Werte dürften nicht immer nur in Imperativen formuliert werden.

Erleben als Chance

Jenes kleine Plädoyer für Europa in Gestalt dieses Beitrags versteht sich wohl zu allererst als Einladung zu einer neuen Bewusstwerdung der je eigenen Lebenswelt. Um auf diese Weise auch automatisch die Konturen dessen zu schärfen, was in ihr ganz und gar europäisch war und ist und auch fortan in sein wird. Freilich in veränderter Form, weil in Entwicklung begriffen, dynamisch. Das ist sein Ansatz. In diesen wenigen Zeilen sind viele Fässer aufgemacht worden, die bekanntlich bodenlos sind. Hier sind Themen angestoßen, über die geredet wird und über die weiter zu reden sein wird.


Auf dem Weg zu einem unbedingt wünschenswerten Mehr an europäischer Identität können abseits der Theoriediskussionen und politischen Debatten Begegnungen Brücken über Gräben der Vorbehalte schlagen. Offene Grenzen von Spanien bis Finnland, Griechenland bis Irland laden ausdrücklich dazu ein, den einen oder anderen Blick in jene Gesichter zu wagen, die die Nachbarn diesem Raum geben. Zu schauen, wo sie dem eigenen ähneln und wo nicht. Und sie sehen doch gar nicht schlecht aus, die Erfolgsaussichten für den einzelnen, auf der spannenden Suche nach kulturellen Gemeinsamkeiten fündig zu werden und dabei zugleich bemerken zu können, dass die verbreitete Angst, gar zuviel der individuellen oder lokalen, regionalen, nationalen Identität zugunsten eines zusammenwachsenden Europas preisgeben zu müssen, vielfach unbegründet ist. Ein erster Schritt, ein kleiner Fußmarsch mögen zeigen: Europa ist da.
 

AUSGABE 47
WER IST EUROPA?





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EDITORIAL VON BJÖRN BRÜCKERHOFF
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