Grenzenlos



Text:
Sarah Klumps
Illustration:
Kristina Schneider für Neue Gegenwart

„Equipe sept heure, allez, allez!“, ruft Isabel durch den Newsroom der Redaktion. Sogleich machen sich sieben Journalisten aus sieben Ländern hastig auf den Weg in den Sichtraum. Auch ich gehe im Laufschritt auf die kleine Kammer zu, in dem drei Monitore stehen. Wir gehören zum Team der Redakteure, das heute Morgen um sieben Uhr seine Schicht begonnen hat. Wer zu spät kommt, verpasst den Beitrag. Und das wäre fatal, denn um das Material herum bauen wir hier im französischen Ecully nahe Lyon im Stundentakt unsere Beiträge. Luca, mein Kollege aus Italien, fragt auf Französisch, worum es überhaupt geht. Dabei rollt er das „R“ ganz gewaltig. Doch das stört bei EuroNews niemanden. Keiner spricht am Chemin des Mouilles Nummer 60 perfekt Französisch. Außer den Franzosen. Und sie bestehen darauf, dass wir ihre Landessprache sprechen. Eigentlich gehört auch Englisch zur offiziellen Sprache des Senders, jedoch besteht diese Regel lediglich auf dem Papier. Unser Europa, mache ich mir Mut, fängt bei der Sprache an. Und so werfe ich mit optimistischer Miene meiner spanischen Kollegin heftige Brocken Französisch vor die Füße. Grenzen gibt es bei EuroNews kaum.

Isabel ist wie immer gut organisiert. Die „C-v-Döse“, wie wir deutschen Journalisten die weiblichen Chefs vom Dienst nennen, drückt meinen Kollegen aus Portugal, Spanien, England, Frankreich, Italien, Russland und mir, der Praktikantin aus Allemagne, einen Packen Meldungen in die Hand. Thema: Die Vogelgrippe auf Rügen. Eine kurze Einweisung ins „sujet“, den Sachverhalt, dann MAZ ab: Die Bilder laufen über den Monitor. Ich kritzele die Timecodes der wichtigsten Stellen auf mein Papier. Oh la la, bei einsdreiundzwanzig aufpassen, da sind einige verendete Schwäne zu sehen und Männer in weißen Sicherheitsanzügen. Ich beratschlage mich kurz mit Elena aus Russland, frage sie, was sie am wichtigstem findet. Dann flitze ich an meinen Platz zurück. Alle Nationen sitzen wild durcheinander vor ihren Computern im Newsroom. Grenzen gibt es bei EuroNews kaum.

Hinter mir sitzt Stefan Grobe. Er ist der Leiter des deutschsprachigen Dienstes bei EuroNews und arbeitet hier seit zehn Jahren. Wie man Nachrichten macht, hat er bei den Agenturen dpa und AFP gelernt. Dann ging er mit seiner Frau nach Lyon. Fünf Kinder haben die beiden. Junge Europäer. Weg von hier wollen sie nicht mehr. „Wir duzen uns hier alle.“ Damit begrüßte mich Stefan am ersten Tag meines Praktikums. Grenzen gibt es bei EuroNews kaum. Sie scheinen aus den Köpfen der Redakteure verschwunden zu sein. Ich habe das gute Gefühl, mitten in Europa zu sein.

„Viele denken, EuroNews sei eine riesige Dolmetscherbank. Dabei sind die Stücke nicht identisch, wenn auch die Bilder dieselben sind“, sagt Stefan. Jeder stelle das Thema in seiner Sprache anders dar. Das wird mir bewusst, als ich mit meinem Text zum Mischen gehe. Stefan setzt den Rotstift an. Und ich gehe zurück an meinen Computer. Noch mal das Ganze. Als ich dann in der kleinen Kabine sitze, wo wir unsere Texte einsprechen, bekomme ich eine Gänsehaut. Europäische Journalistin zu sein, macht Spaß. Den fertigen Beitrag lasse ich mir von Eric auf eine Videokassette überspielen, als Arbeitsprobe.

Wie viele Praktikanten hier wohl schon ein- und ausgegangen sind, seit EuroNews 1992 auf Sendung ging, frage ich mich. Sicher genau so viele wie momentan hier an Personal beschäftigt ist. Insgesamt 250 Redakteure, Techniker und Verwalter gibt es. Zwei davon geben sich gerade lautstark zur Begrüßung einen Kuss, erst einen auf die linke, dann einen auf die rechte Wange. Grenzen gibt es bei EuroNews kaum. „Das gilt auch für das Verbreitungsgebiet“, erklärt mir Renate. Die Österreicherin ist in der Verwaltung tätig und tippt auf das druckfrische Faltblatt. „Wir erreichen 187 Millionen Haushalte in 119 Ländern.“ Ich bin baff: EuroNews könnte ich also auch gucken, wenn ich in den USA Urlaub mache, in Lateinamerika Spanisch lerne oder in Russland meine Bekannte besuche. Einen Haken hat die Sache. Zwar kennen 68 Prozent der Deutschen den Sender. Doch lediglich etwa eine halbe Million Menschen schauten täglich im dritten Quartal des vergangenen Jahres EuroNews. Und wieder die Hälfte davon waren „Erwachsene mit überdurchschnittlichem Einkommen“. Ein Elitesender also? Ich frage bei Stefan nach. „Die meisten Sender in Deutschland behandeln Europathemen stiefmütterlich“, sagt er. „Wir bringen genau diese Themen. Aber unser Problem ist, dass uns nur wenige Haushalte sehen können.“ EuroNews kann man zum großen Teil terrestrisch oder per Satellit empfangen. Daher also die geringe Einschaltquote, verglichen mit der der ARD und des ZDF, etwa.

Trotzdem arbeiten meine Kollegen und ich mit Begeisterung. Viele fangen morgens um neun an und gehen nicht vor sieben Uhr abends. „Ich wollte gern im Ausland als Journalistin arbeiten“, sagt Margitta. „Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, nach Deutschland zurück zu gehen, ist es nicht der richtige Zeitpunkt.“ Das Gehalt ist schnell weg, bei den hohen Mieten in Lyon. Ein kleiner Wermutstropfen, das gibt sie zu. Aber ihre Augen leuchten, als wir über Margittas Arbeit plaudern. „Bei anderen Sendern kann nicht jeder so schnell längere Live-Kommentare machen. Bei EuroNews kommt das viel häufiger vor.“ Tiago, ein portugiesischer Redakteur, ruft seine Equipe in den Sichtraum. Ein Beitrag zur umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie der EU steht auf der Agenda. „Die EU betrifft uns als Bürger der Mitgliedsstaaten alle. Viele Menschen können nur schwer begreifen, wie sehr die Union mit ihren Gesetzen unseren Alltag beeinflusst“, sagt Margitta, während sie in einem Stapel von Papier blättert. Sie gebe sich Mühe, bei ihrer Berichterstattung den  Verbraucheraspekt einzubeziehen. „Nicht immer nur: Die EU kostet Geld. Europa geht uns alle was an.“ Damit will die Journalistin die Grenzen in den Köpfen der Menschen abbauen. Grenzen gibt es bei EuroNews ohnehin kaum.

Auch nicht beim Heiraten. Später am Tag finde ich heraus, dass EuroNews-Ehen sehr beliebt sind und schaue einem gut aussehenden Italiener tief in die Augen. Doch zum Heiraten ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. „Equipe sept heure, allez, allez!“, ruft Isabel. Und wieder sprinte ich.

 

AUSGABE 47
WER IST EUROPA?





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EDITORIAL VON BJÖRN BRÜCKERHOFF
LOBEND ERWÄHNT: NEUE GEGENWART
BAUSTELLENBESUCH ZU BABEL
ES WERDE EUROPA
NEGATIV IST POSITIV
WIE EUROPÄISCH IST DAS DEUTSCHE KINO?
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