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Blick und Bild  
Text: Heiner H. Hoier, Hamburg/Zürich     Bild: Michael Bretherton, Brisbane  

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„Es geht nicht so weiter, es ist eine
Beleidigung, eine Entstellung, eine Entleiblichung
was die Bilder mit uns machen...“

                                       
Peter Handke /  DIE  ZEIT

1.

Wenn unsere Wahrnehmung visuelle Reize nicht auswählen würde, wären wir vom unablässig auf uns einwirkenden Strom der Bilder überfordert.

Das heißt, der visuelle Mechanismus unserer Wahrnehmung arbeitet selektiv, er bevorzugt bestimmte  Reize vor anderen Reizen; und dieses geschieht in Permanenz. Der Blick initiiert, so muss es wohl sein, vorab eine vom Bewusstsein unabhängige Bewertung der uns umgebenden Wirklichkeit.

Es verwundert daher nicht, dass die funktionellen Prozesse des Selektionsverhaltens unserer Wahrnehmung das Grundmuster für die Begehrlichkeiten einer Industrie liefern, die nichts sehnlicher erstrebt, als diese Gesetze zu kennen und zu beherrschen. Sie  setzt  alles daran sie nachzuahmen und herzustellen, sie hypothetisch zu imitieren. Ihre Jagd nach Reizimitaten, die eine Wahrnehmungsattraktion simulieren, ist unerschöpflich.

Hier hat alle Medienkybernetik ihren Ursprung.

Der Wunsch, ‘richtige’  Reize, die dem Selektionsdruck der Wahrnehmung standhalten können, künstlich zu erzeugen, hat die ausgeklügelten Techniken    medialer Kommunikation hervorgebracht und perfektioniert .
Ihr industrieller Charakter widerspiegelt aber auch, woran dieser grundsätzlich gebunden ist: An den Glauben, dass die Beeinflussung des Menschen mit Hilfe der ästhetischen Modulation seiner Sinne Vorteil , Macht und ein profitables Geschäft verspricht.

Dabei mag die Aussicht auf  Profit der Anlass sein. Noch bedeutender aber ist, worauf heute alle kommunikative Instrumentalität hinausläuft - auf das Design der Wahrnehmung selbst. Es liegt in der  sensualistischen  Natur der Sache, die Wahrnehmungsregeln  durch Gewöhnung so zu verändern, dass sie sich auf manipulierte Reizmuster einlassen und sich  deren  visuelle Rhetorik angleichen. Ein solcher Affirmationsprozess verspricht langfristig einen noch größeren Gewinn, einen, der den Warencharakter unserer Wirklichkeit verabsolutiert.


2.

Der bisher  mühsam betriebene Versuch, durch immer raffiniertere ästhetische Strategien von Außen ins Innere zu gelangen, ist aber für ein, auf industrielle Ganzheitlichkeit ausgerichtetes „Kommunikations-Design“ letztlich nicht befriedigend.

Er könnte
darauf gehen alle wissenschaftlich-optimierten Strategien hin   bald von einer effizienteren Methode abgelöst werden; von einem alle Grenzen überschreitenden, endogenen Design, welches sich des Inneren des Menschen bemächtigt (1).

Der umständliche Weg der externen Beeinflussung wäre damit obsolet. Die Unberechenbarkeiten beim Selektionsverhalten unserer Wahrnehmung 
  z.B.  bei komplex und  kapitalintensiv erarbeiteten Aufmerksamkeitsstrategien verlören  mit dem von innen designten sensorischen System ihren merkantilen Schrecken.

Aber die Permanenz des Blicks und die  sensualistische Natur unserer Wahrnehmung haben uns auch ohne diese Visionen längst  zu reizabhängigen  Rezeptoren gemacht. Neben der Fähigkeit wahrer Empfindungen prädestinieren sie uns auch für mediale Verletzungen.  In der  Dialektik der Sinne ist so etwas wie unser kommunikatives Schicksal verborgen; das Schicksal ewiger Ambivalenz unseres Gefühlshaushalts. Erkenntnis und Obskurantismus liegen hier dicht beieinander. Sie zu unterscheiden
wenn dieses denn möglich ist wird die zentrale Herausforderung der  kybernetischen Moderne des Dritten Jahrtausends sein.

3.

Es wird klar, wie fragil der Umgang mit Bildern sich gestaltet. Nur die geringste  gewollte, oder ungewollte Leichtsinnigkeit  im Umgang mit ihnen, kann irreversible Folgen haben. Etwas, was im Arsenal nicht nur industrieller, sondern auch ideologischer Strategien mittlerweile einen distributiven Vorsatz hat
(2).

Die Folgen  archetypischer Bilderfahrungen, die sich zeit- und raumlos in unser Unterbewusstsein einbrennen, sprechen eine virulente Sprache. Sie  gewinnen in unserem Unterbewusstsein mehr  Realität, als alle reale Realität je für sich beanspruchen könnte. Gezielt  für den säkularen Bereich des medialen Alltags aktiviert, steigen sie wieder auf und entfalten ihre Macht über Denken und Handeln
(3).

Die Industrialisierung des Blicks
ein ungestümer Prozess der sich heute  mit der Optimierung seiner medialen Werkzeuge exponentiell beschleunigt  macht dieses Lust-  und Gefahrenpotential deutlich.

Natürlich geht die Begierde synchron mit unserem Hedonismus; der Mensch ist nicht einfach nur Opfer einer fremden Macht, er ist vielmehr Gegenstand seiner eigenen Pleonexie. Das er dabei Schaden nimmt, will ihm solange nicht einleuchten, wie er die sinnliche Erfahrung lustvoller Befriedigung
mag sie noch so anspruchslos und gefährlich sein   als etwas ‘Bestätigendes’ oder „Sensationelles“ also auch als etwas Unterhaltsames  erlebt (4).

Die libidinöse Inversion von ‘Bild’ und ‘Sinnlichkeit’ zeigt sich als eine strukturelle Verquickung physikalisch gegebener Tatsachen und ästhetischer Phänomene.

Der semiotisch komplementäre Bau von Welt und Bild, von Natur und Mensch bewirkt eine  Gleichschaltung von Physis und Phänomen. Sie ermöglicht eine Veröffentlichung des Intimen und eine Intimisierung des Öffentlichen. Die dadurch betriebene Aufhebung der  Objekt-Subjekt-Grenzen suggeriert eine Art Unmittelbarkeit, die der Wahrnehmung den Schein sinnlicher Authentizität verleiht. Alles wird zum ‘Bild’, zur Zielabsicht des Blicks. Das Bild ersetzt das Wirkliche.

Die Wirklichkeit ist dem Bild unterlegen, weil das Bild seine beweglichen Teile verfügbar und
für Absichten aller Art in der Schwebe halten kann.

Der Soziologe und Philosoph Niklas Luhmann  unterscheidet zwischen Form und Medium. Ein Medium besteht  seiner Theorie zufolge in der losen Kopplung zwischen Elementen, die keinerlei Widerstand gegen von außen auferlegte Formen leisten. Die Formen dagegen erlegen den Elementen des Mediums rigide Kopplungen auf, die wahrgenommen werden. (...) Warum also nicht die ganze Wirklichkeit als Medium betrachten?

Das eine solche These  nicht abwegig  ist, hat einen gleichsam psychophysischen Grund.

Raum, Zeit, Licht, Form, Farbe, Stoff und Bewegung 
die identischen und permutativ  miteinander verknüpften Koordinaten von Welt  und  Wahrnehmung, oszillieren zwischen der physikalischen Faktizität und der ästhetischen Phänomenologie ihrer Erscheinungsweisen, d. h., je nach Blickrichtung unserer Wahrnehmung wechseln diese ihre Präsenz und die Präferenz ihrer Wirkkräfte und bleiben dennoch stets ein Ganzes, dass uns selbst einschließt. Welt- und Bildbau changieren als 3. katalysierendes Element im energetischen Zugriff des Blicks, der so seine vektoriellen Energien ausbildet. Dabei sind es unsere visuellen Sinne, die das energetische Potenzial  für die Verknüpfungmöglichkeiten der Zeichen bereitstellt ,damit aus der abstrakt-ästhetischen Konfiguration ein Bild werden kann.

Das bedeutet nichts weniger, als das Bild und Subjekt, nicht wie angenommen, in zwei voneinander unabhängige Entitäten auseinander fallen, so als könnten wir  mittels vernünftiger Urteilskraft zwischen ‘richtigen’ und ‘falschen’ Bildern und  damit zwischen verschiedenen Formen des Wirklichen wählen. Vielmehr verbindet die Wahrnehmung sie als Summe äußerer und innerer Äquivalenz.

Wir verstehen sogleich, dass die Permanenz des  Blicks, seine, die Wirklichkeit antizipierende Natur, sich gegen ästhetische Reize nicht wehren kann, selbst wenn wir es wollten.

In kalter Berechnung dieser Aporie  machen wir aus Kommunikation eine Art Rhetorik. In der Folge dieser, auf Persuasion ausgerichteten Absicht,  rüstet sich
  massenmedial ökonomisiert   das technozide Denken und seine Industrien. (Und hier ist der Begriff „rüsten“ angebracht, denn der strategische Effekt der Bilder ist längst auch Mittel von kriegerischen Auseinandersetzungen). Der Perfektionismus ihrer Technologien, die Erweiterung ihres Wissens, bündeln sich zu Angriffsmächten auf die (noch) ambivalente Natur unserer Sinne.

‘Ästhetik’ als Methode des nützlichen Scheins, wird dadurch zum Schlüsselwort medialer Sozialität. Sie entscheidet über die Modulation unseres Wirklichkeits- und Selbstverständnisses. Um diese  letztlich widerspruchsfrei modulieren zu können, muss Wahrnehmung selbst, als Konsequenz solchen Denkens verändert werden.


4.

Es wartet das große Geschäft. Die Instrumente dafür sind gerichtet und was wir bereits heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, das ein Jahrhundert der medialen Kybernetik sein wird, auf diesem Feld erleben, ist nur der Auftakt einer  Entwicklung, die auf keine ihrer Möglichkeiten verzichten wird.

Vor dem Hintergrund einer solch profitablen Zukunft ergibt sich eine
vielleicht die letzte    selbstbestimmte Frage. Sie richtet sich auf die Glaubwürdigkeit der  industriealisierten Reize, auf deren Wahrheitsgehalt,  auf deren sittliche Statur.

Bereits Teil einer solchen Wahrheit ist, dass unsere Fragen in Wirklichkeit  weniger auf die kybernetischen Strategien, als von diesen zurück auf das Individuum selbst verweisen, um es in seinem Kommunikationsverhalten zu prüfen. Sie thematisieren die Gefährdung und die damit verbundene Verantwortung, z. B. bei der fortschreitenden Veröffentlichung des Intimen. Denn die Veröffentlichung des Intimen geht einher mit dem Ende des Subjekts. Und mit diesem Ende wäre auch jeder personale Lebensentwurf zu Ende, er wäre  dem ‘Design’ von Lebens- und Empfindungswelten geopfert.

Mit der ungewollten Preisgabe des Inneren durch die rezeptionelle Natur des ‘offenen Blicks’, machen wir uns verletzlich. Wir bezahlen quasi die Teilhabe an wahrer Empfindung mit der Beschädigung durch Rücksichtslosigkeiten des kommerziellen (oder ideologischen) Kalküls, dass sich die Emotionen unterwerfen will.

Hier finden wir die Ursprungs-Differenz von  Wirklichkeit und Wahrnehmung, die Kenntnis und Wissen nötig macht, um die Sinneseindrücke nach ihrer Glaubwürdigkeit (oder sittlichen Verantwortung) hin zu bewerten. Fehlt diese Aneignungs- Kompetenz, sind  Tür und Tor geöffnet für den instrumentellen Zugriff auf das verletzlichste, das dem Menschen wesenhaft  ist:  Die Seele. (s. Elisabeth Links hervorragenden Essay:  „Ethik des Ästhetischen“, Benteli Verlag).

Platon hat die Seele als Ort der Ideen entdeckt, hat hier die Urbilder angesiedelt die sich in der säkularen Welt als Imitate, als  nur ‘schöner Schein’ reproduzieren. Wahrheit ist nicht in den Imitaten, so seine Botschaft, sondern nur in der Idee selbst. Das auch er letztlich dazu beigetragen hat, die Sinne zu säkularisieren und das Säkulare zu mystifizieren, wusste schon sein Nachfolger Aristoteles. Er sah die Dinge „moderner“ , ohne freilich den platonischen Blick aus unserem Ausdrucks- und Wahrnehmungs-instrumentarium verbannt zu haben.

So gilt es, den Blick episthemisch mit den Ideen zu synchronisieren und sie von den merkantilen oder ideologischen Imitaten zu unterscheiden. Hier entsteht  die Arbeit an der Bewusstheit des Blicks und  der Wahrheit des Bildes.

Nur Kunst arbeitet in dieser Weise noch an vorderster Front.

Im Zeitalter technologischer Medialität geht es
wenn es überhaupt noch um etwas gehen soll um nichts mehr, als um die Frage nach der „Glaubwürdigkeit“ der Bilder, um ihren wertsetzenden Anspruch und die Frage, wie ein solcher Anspruch überhaupt noch eingelöst werden kann.   Um etwas anderes wird es nicht mehr gehen, wenn wir denn den Prozess medialer Totalisierung nicht widerstandslos ertragen wollen...

Der Autor



Bild: © Erika Froehli

Prof. Heiner H. Hoier

S
tudium an der Hochschule für Künste/Bremen. Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften (u. a.  Stern, Die Zeit, Konkret, TransAtlantik, Pardon...) und Fernsehanstalten (Radio Bremen, ZDF, ARD, NDR) Prof. a. D. Hochschule Niederrhein, Krefeld  und der  Hochschule f. angew. Wissenschaften, München. Lebt und arbeitet als Maler / Schreiber / Zeichner in Zürich und Hamburg.


 

Fußnoten

(1)
2006 holte die Forschung auf diesem Gebiet den ersten Nobelpreis. Sie bekam ihn für die Entdeckung der sog. RNA-Interferenz. Dieser Mechanismus ist in einem Organismus  für das Ausschalten einzelner Gene verantwortlich.  Zurück in den Text

(2) s. die Erpressungsversuche al-Quaidas mittels visuell vorgeführter Geiseln im Fernsehen und Internet.
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(3) Man erinnere sich der visuellen Selbstinszenierung des  Amokschützen an einer deutschen Schule.
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(4) Ein Höhepunkt dieses Vorgangs zeigte sich in den Totenkopfbildern deutscher Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Aber nicht nur das: Ihre massenmediale „Nachbearbeitung“ geschah in den Medien, die zwar sittliche Empörung vorgeben, diese aber durch ständige Widerholung selbst unterlaufen.
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