Die Schönheit des Schrecklichen
bei Christian Kracht







Text:
Philipp Laage   Bild: Christian Kracht


 

„Es war die erste Nacht ohne das ferne Artilleriefeuer, es war die ganze Nacht still. Der Hund schlief auf dem steinernen Fußboden, und ich hörte seinen unregelmäßigen Atem. Er zuckte mit den Pfoten, manchmal träumte ihm wohl. Ich lag im grauwollenen Nachthemd auf dem Holzbett, zerdrückte die Flöhe und das andere Getier, das mir auf der Haut herumlief, und rauchte Zigaretten. Die Laken waren schmutzig, und das Kissen roch nach Menschentalg,
so konnte ich nicht schlafen.“

Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten


Kein Jahr ist es her, da erschien der neue Roman von Christian Kracht, einem der eigenwilligsten Literaten der Gegenwart. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten kann als der finale Teil einer Trilogie betrachtet werden. Das Buch folgte gewissermaßen als logische Weiterentwicklung auf die Werke Faserland und 1979. Die inhaltliche Konstante liegt darin, dass die Protagonisten aller drei Romane versuchen, auf einem mehr oder weniger erfolgreichen Weg der bodenlosen Sinnentleertheit ihres Daseins zu entgehen. Das jüngste Werk macht dabei keine Ausnahme.

Der Kontext in Kürze: Die Schweiz existiert als kommunistischer Sowjetstaat, der mit England und Deutschland im Krieg liegt, während ganz Afrika zu militärischen Zwecken kolonialisiert wurde. Inmitten dieses alternativen, kontrafaktischen Ablaufs der Geschichte macht sich ein Neu-Berner Kommissar auf die Suche nach einem gewissen Oberst Brazhinsky, um einen Mord aufzudecken. Die Einleitung des Romans nimmt den Leser bereits ganz für sich ein. Er stößt auf eine erhabene, poetische Sprache, ernsthaft zeitlos, von epischer Tragweite wie der Titel selbst, fast biblisch, könnte man meinen. Gleichwohl schildert Kracht oftmals abstoßende, hässliche und grausame Szenen. Liegt hier im Schrecklichen eine Schönheit verborgen oder beißen sich Inhalt und Form ganz bewusst? Wer Kracht kennt, weiß – hier ist so schnell keine einfache Antwort bei der Hand. Schließlich zeichnet sich der Autor dadurch aus, seine Kunst eben nicht zu erklären und lieber in eine ironische Vagheit abzudriften, statt das Kind beim Namen zu nennen. Die Darstellung des Schrecklichen in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ist aber keine Ausnahme. Sie taucht in allen Werken Christian Krachts auf. Um sich ihr zu nähern, empfiehlt sich ein Blick auf das verbindende Element der Romane – Sinnentleertheit und verzweifelte Sinnsuche.
 

„Dann lächelt er und verdreht die Augen, so, daß nur noch das Weiße zu sehen ist, und dann kriegt er so einen Ausdruck vollkommener Zufriedenheit im Gesicht, und dann sackt sein Kopf nach vorne, und die Haare fallen ihm in die Stirn. Auf seiner beigen Hose ist ein bisschen Kotze. Nadja zieht sich die Nadel aus dem Knöchel, sieht dann hoch und fängt an zu wimmern, aber sie sieht mich auch nicht. Im Inneren der Spritze, die sie in der Hand hält, schlängelt sich ein ganz dünner Faden durch die helle Flüssigkeit.“

Faserland


Christian Krachts erster Roman, Faserland, erschien Mitte der Neunziger und beschreibt die Reise eines jungen, vermögenden Mannes durch ganz Deutschland, der scheinbar immer wieder von Banalitäten angestoßen wird. Dabei gerät er von einer Feier zur nächsten, von Rausch zu Rausch und ist von steter kollektiver Zugrunderichtung seiner gutbetuchten Umwelt umgeben. Das Ende der Reise: Selbstmord. Der Protagonist schildert die fatalen Ereignisse teilnahmslos und distanziert, scheint immer weit weg vom Geschehen zu sein und beobachtet rein analytisch, so als würde er die Beschaffenheit eines Möbelstücks beschreiben. Hin und wieder ergreift ihn Erregung, aber nie Empathie. Seinen suizidgefährdeten Bekannten etwa lässt er alleine am Steg stehen, in dem Wissen, ihn nie wieder zu sehen.

Ein großer Irrtum bezüglich Faserland liegt darin, Kracht anhand der entrückten Sprache Ironie zu unterstellen. Was in dem Roman beschrieben wird, ist todtraurig. Es gelingt den Beteiligten nicht, ihr Leben mit Sinn zu füllen. In einem Kosmos aus Markenwahn, Abgrenzungszwang und ästhetischen Trivialitäten flüchten die Menschen in den Rausch, an dem sie zugrunde gehen. Was ist daran schön? Nichts. Die Sprache ist es auch nicht, sie ist nüchtern assoziativ, weniger klar als die präzise Ausdrucksweise der Folgeromane. Aber die Teilnahmslosigkeit, die in ihr zum Ausdruck kommt, macht die Kritik an der gesellschaftlichen Wohlstandsverwahrlosung erst sichtbar. Der Leser „hört hin“, wenn man so will. Schönheit wird in Faserland nicht in der Sprache zum Thema, wohl aber in den Standpunkten des Handelnden. Ästhetischer Anspruch – man denke an die oft erwähnte Barbourjacke – und Inhalt klaffen weit auseinander. Menschen werden ästhetisch bewertet; was sich aber wirklich abspielt, hat mit Schönheit nichts zu tun. So gesehen fällt Faserland ein wenig heraus. Die Schrecklichkeit ist hier noch nicht schön, aber eben auch nicht mehr schlimm. Das Sinnvakuum kann nicht gefüllt werden, vielmehr eskalieren die Ereignisse in einem fortlaufenden Strudel aus selbstzerstörerischer Teilnahmslosigkeit. Ein zweiter Versuch wird dann in Krachts 1979 unternommen. Spätestens damit hat sich Kracht von seiner Rolle als Wappenträger der Popliteratur entfernt.


„Ich blickte kurz in den Saal. Der Gestank war unglaublich. Es roch nach Abfall. Im Saal lagen vielleicht dreißig Männer auf zwanzig Betten. Die Wände waren mit Kot und Blut beschmiert. Überall standen große Blecheimer herum, über deren Ränder beschmutze Mullbinden hingen. Einigen Männern fehlte ein Teil des Gesichts, andere ließen ihre Armstümpfe über die Bettkante hängen, eingewickelt in dunkelbraun verfärbte Bandagen.“

1979


Der Protagonist besucht mit seinem Lebensgefährten eine High-Society-Party im Teheran des Jahres 1979 – kurz vor der islamischen Revolution. Wegen gesundheitlicher Probleme und massivem Alkoholkonsum verstirbt der Begleiter aber in der gleichen Nacht in einem mit dahinsiechenden Kranken überfüllten Raum eines drittklassigen Krankenhauses. Der Erzähler, eines wesentlichen sinnstiftenden Stützpfeilers seines Lebens beraubt, macht sich auf Anraten eines ominösen Mavrocordato daraufhin auf den Weg nach Tibet, um dort den heiligen Berg Kailash aufzusuchen und zu umrunden. Schließlich wird er gefangen genommen und stirbt in einem chinesischen Gefangenenlager.

1979 erschien kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center, was zu allerlei Spekulationen über die Absichten Krachts führte. Eine Auseinandersetzung mit diktatorischen Staatsformen findet aber nur bedingt statt, zentral ist weiterhin die Sinnentleertheit des Daseins und ihre Überwindung. Dass diese Überwindung nicht gelingt, sondern pervertiert stattfindet, zeigt sich dadurch, dass der Protagonist in den menschenunwürdigen Bedingungen des Lagers scheinbar seinen Frieden findet. Er legt sich alles zum Guten aus – selbst, dass er Maden auf seinem eigenen Kot züchtet, um daraus eine Proteinquelle zu generieren. Die Abscheulichkeit seines Zugrundegehens wird vom Handelnden als Befreiung, als schönes Erlebnis wahrgenommen. Die Lagerroutine formt sich zur absoluten Sinnstruktur des Gefangenen. Wieder begegnet dem Leser jene Schönheit des Schrecklichen, und auch die Sprache nähert sich dem klaren, reinen Stil an, der in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten seine Vollendung findet. Die verzweifelte Sinnsuche endet für den Protagonisten nur zum Schein. Dass der Niedergang als so reinigend empfunden wird, mögen manche als Ironie auslegen. Tatsächlich zeigt sich aber nur auf erschütternde Weise ein falscher, verzerrter Weg aus der inneren Entleertheit, die alle Reisenden bei Kracht einholt. Der Irrtum wird nicht zuletzt durch den Kontrast aus versprachlichter, empfundener Schönheit und abscheulicher Realität deutlich. Ein Kontrast, der den Leser fragt: Ist dieser Weg zur Sinnerfüllung nicht vollkommen absurd? Natürlich – sogar so absurd, dass er bisweilen zum Schmunzeln anregt.
 

„Alle zwei Wochen gab es eine freiwillige Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“

1979


„Weniger später erlosch die Elektrizität, die Maschinen verstummten, die Schiffe fuhren die Häfen nicht mehr an, die Eisenbahnzüge verharrten bewegungs- und führerlos auf den Gleisen, Müll und Abfälle wurden nicht mehr eingesammelt, die Schulen blieben leer, und bereits nach kürzester Zeit wuchsen schon die ersten Schlingpflanzen die Mauern der Gebäude empor, und der Architekt, nachdem er eine ganze Nacht alleine durch seine dunkle und menschenleere Schweizer Stadt gelaufen war, warf frühmorgens das Ende eines Seils über eine von ihm selbst entworfene, stählerne Straßenlaterne und erhängte sich, bevor die afrikanische Sonne zu heiß wurde. […] Er hing ein paar Tage, dann aßen Hyänen seine Füße.“

Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten


Es ist tatsächlich so etwas wie eine Exodus-Geschichte, wenn Kracht nun schreibt, dass die afrikanischen Einwohner in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, einer stillen Völkerwanderung gleich, zurückkehren in die Dörfer, hinaus aus den „am Reißbrett geplanten“ Städten ihrer fremdländischen Herren. Freiheit und Selbstbestimmung treten an die Stelle von Unterdrückung und Imperialismus. Die Sinnentleertheit des Krieges, den ja tatsächlich niemand mehr zu durchblicken scheint, wird aufgehoben.

Das letzte Erzählwerk ist die Synthese der Vorgängerromane. Wo die Sinnsuche in Faserland gänzlich fehlschlägt und in 1979 nur in ihrer pervertierten Form gelingt, kann sie nun aufgegeben werden – wenngleich sie nun in einen größeren, universell-zivilisatorischen Rahmen gestellt wird. Doch auch der Weg dorthin ist mit allerlei schrecklichen Szenerien gespickt. Aber es scheint am Ende des letzten Romans, dass all dieses Leid nötig war, um einen sinnstiftenden Frieden für die Menschen zu erlangen. Karl Rosenkranz schrieb 1853 in Die Ästhetik des Hässlichen, dass die Hässlichkeit immer nur in relativem Bezug zur Schönheit existiert. Und so bedingt die Fähigkeit, das Leid zu erkennen, wohl auch erst die Fähigkeit, das Schöne zu erkennen. Zu diesem Schluss könnte der Leser kommen, wenn sich Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten am Ende in einer insgesamt sprachlich ergreifend-schönen Utopia auflöst. Bezeichnenderweise schildert der letzte Satz des Romans dennoch eine Grausamkeit.

Welche Rolle spielt nun bei Kracht diese nüchterne Sprache, mit der er immer wieder all das Schreckliche, all das Leid beschreibt, welche Bedeutung hat es für sein zentrales Motiv der Sinnfindung? Sinn zu finden für sein Leben, im Zustand der Rastlosigkeit wie jene der Reisenden in den Romanen, so scheint es, ist mit einer Wahrnehmung des Leids verknüpft. Dies ist eine Erkenntnis, die weniger für die fiktiven Protagonisten gilt, sondern für den Leser. Ein Ausweg aus jener inneren Leere gelingt bei den Romanakteuren schließlich nur in einem Fall. Kracht sieht sich selbst, das hat er einmal gesagt, als Moralist. Nur kann sich die Moral und die zutiefst humanistische Überzeugung, die in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zutage tritt, vielleicht nur beim Leser entfalten, wenn sie eben nicht moralisch daherkommt – sondern nüchtern, desinteressiert, fast schon auf eine sarkastische Art und Weise komisch. Genau so funktionierte schon die Gesellschaftskritik in Faserland. Das erklärt auch, warum Kracht so häufig Ironie unterstellt wird. Die Komik ist aber allenfalls Mittel zum Zweck. Denn wer will schon abstreiten, dass wir, die wir Mord, Tod, Ekel und Abscheu jederzeit per Knopfdruck im Internet einsehen können, nicht abgestumpft sind gegenüber den schrecklichen Dingen, die uns umgeben? Kracht mag das selbst auch so sehen oder nicht. Er bleibt als Schriftsteller wie als Person ebenso ungreifbar wie große Teile seiner Kunst. Die Frage, ob der Mensch durch die stetig wachsende Reiz- und Informationsflut schon so abgestumpft ist, dass er die Sichtung des Leids verlernt hat, beantworte sich doch für jeden Menschen, der nicht ein Insekt ist, von selbst. Soviel sagt er immerhin selbst - und damit schon eine ganze Menge.



Ausgabe 58
Balsam fürs Volk





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Der Autor



Philipp Laage, Jahrgang 1987, studiert Kommunikations- wissenschaft und BWL an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster und arbeitet als freier Journalist für den dpa-Themendienst in Hamburg.



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