"Echter Journalismus wird in Deutschland
nur von wenigen Sites geleistet"


INTERVIEW:
BJÖRN BRÜCKERHOFF
BILD:
DER SPIEGEL


Mathias Müller von Blumencron ist Chefredakteur von Spiegel Online, Deutschlands meistgenutzter Nachrichten-Plattform. Er hat in Hamburg Jura studiert und absolvierte die Henri-Nannen-Schule. Nach Stationen als Redakteur bei Capital in Köln und als Korrespondent der Wirtschaftswoche in Zürich und in Berlin, arbeitet er seit 1992 beim Spiegel. Erst als Redakteur, dann als stellvertretender Ressortleiter. Als Spiegel-Korrespondent in Washington und in New York hatte er die Gelegenheit, den amerikanischen Journalismus kennen zu lernen. Die Gegenwart sprach mit ihm über deutschen und amerikanischen Onlinejournalismus, Patriotismus und Panikmache.


Herr Müller von Blumencron, ganz allgemein: w
as prägt Ihrer Meinung nach das Amerikabild der Deutschen?


Mathias Müller von Blumencron: Hollywood, Vorurteile, Unkenntnis – leider.

Sie haben in den USA viel über die damals aufkeimende New Economy geschrieben. Spiegel Online ist beispielsweise im Vergleich zu CNN.com völlig anders strukturiert. Wo liegen Ihrer Meinung nach die wesentlichen Unterschiede zwischen amerikanischem und deutschem Online-Journalismus? Gibt es Tendenzen einer Angleichung?

Müller von Blumencron: Leider sind uns die führenden amerikanischen und auch britischen Sites (etwa Guardian) ein Stück voraus – auch die Spanier sind übrigens sehr stark. Die Werbeeinnahmen der US-Sites sind gewaltig, teilweise sind sie über zehnmal so hoch wie bei uns. Dementsprechend sind ihre Ressourcen größer: Mehr Redakteure, mehr Reporter vor Ort, tiefere Recherche, mehr interaktive Grafiken. Echter Journalismus wird in Deutschland nur von ganz wenigen Sites geleistet.
Das Layout ist Geschmackssache: In den USA dominiert die First-Screen-Philosophie: Alles Wichtige auf den ersten Blick. Bei uns rechnen wir damit, dass die Leser eine Seite herunterscrollen. Beides scheint zu funktionieren.


Wie unterscheiden sich Ihrer Meinung nach die Lesegewohnheiten amerikanischer Rezipienten gegenüber den Gewohnheiten der Deutschen?

Müller von Blumencron: Ich glaube nicht, dass es große Unterschiede gibt. Der Leser liest, was er interessant findet und wenn ihn eine Geschichte fesselt, dann hält er durch, auch wenn das Stück ziemlich lang ist. Anders als viele in Deutschland meinen, besteht die USA nicht nur aus TV-Zappern: In Zeitungen wie der New York Times erscheinen oft weitaus längere und auch besser recherchierte Geschichten als in deutschen Tageszeitungen, deren Redaktionen viel kleiner sind als die der führenden US-Blätter. Dazu kommt, dass investigative Recherche leider nicht zu den Tugenden gehört, die in Deutschland besonders gepflegt werden. Bei vielen der lieblosen Routinemeldungen, mit denen hierzulande Zeitungen ihre Seiten füllen, würde sich ein anspruchsvoller Leser zu Recht fragen, warum er weiter lesen soll.

Haben Sie den Eindruck, dass die Amerikaner nach dem 11. September enger zusammengerückt sind? Oder ist das eine Medieninszensierung?

Müller von Blumencron: Stellen Sie sich vor, Terroristen hätten zwei Flugzeuge in die Deutsche-Bank-Türme in Frankfurt geflogen und Tausende in den Tod gerissen. Das hätte dieses Land dramatisch verändert und so ist es auch in Amerika geschehen. Die Amerikaner sind ein ganzes Stück patriotischer geworden, zumindest für eine Weile. Auf der anderen Seite hat Präsident Bush das Land polarisiert wie lange kein Politiker vor ihm. Die Amerikaner lieben oder hassen ihn, dazwischen gibt es wenig. Das ist ungewöhnlich für ein Land, dessen Politiker oft Kompromisse jenseits der Parteilinien suchen.

Ist die aktuelle Berichterstattung im Hinblick auf mögliche Terroranschläge und „Verbindungen zu Al Quaida“ oftmals Panikmache?

Müller von Blumencron: Die Sicherheitsbehörden sind sehr vorsichtig geworden. Zu Recht wurde ihnen vorgehalten, dass im Vorfeld des 11. September etliche Hinweise auf eine bevorstehende Katastrophe ignoriert wurden. Natürlich werden Warnungen dann von einigen Medien unverantwortlich hochgejazzt – aber sollten die Behörden deshalb darauf verzichten?

Und wie schätzen Sie anhand der Berichterstattung die Sicherheitslage in den USA ein?

Müller von Blumencron:  Ähnlich wie in Deutschland: Fanatiker kennen keine Grenzen.

In jüngerer Zeit häufen sich Katastrophenmeldungen, die zunächst mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden. Oft erscheint bei Spiegel Online zuerst eine Eilmeldung mit einem Kurztext. Später wird die Meldung dann erweitert und vertieft. Ist hier vor allem wichtig, über die Aktualität viele Klicks zu erzielen?

Müller von Blumencron:  Was heißt „zunächst“? Es gibt derzeit viel mehr Terroranschläge als beispielsweise vor zehn Jahren. Die Welt wird nicht dadurch friedlicher, dass man nicht darüber berichtet. Wir sind ein aktuelles Nachrichtenmedium. Ereignet sich etwas Dramatisches, bringen wir die erste Meldung darüber so schnell es geht auf die Seite. Ist noch nicht genau klar, ob es sich beispielsweise um einen Anschlag oder ein Unglück handelt, teilen wir das dem Leser mit. Das hat überhaupt nichts mit der Jagd nach Klicks zu tun, sondern mit unserem Selbstverständnis. Wir informieren den Leser kontinuierlich über die Entwicklung. Wir sagen ihm, was wir wissen – und was wir nicht wissen. Genau das erwarten die Nutzer von uns.

Und welche amerikanischen Medien lesen Sie selbst regelmäßig?

Müller von Blumencron:  New York Times, Washington Post und Wall Street Journal gehören zur morgendlichen Online-Pflicht-Lektüre. Gute Reportagen etwa aus dem New Yorker sind dann etwas für ruhigere Stunden.



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