Ausgabe 60
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Die erste Internet-Partei –
Warum es die AfD wurde und nicht die
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Die erste Internet-Partei –
Warum es die AfD wurde und nicht die Piraten –
Eine Erkundung

Text: Bernd Gäbler    Bild (oben): Max DeRoin (CC0)

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Über Neue Gegenwart
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Die Piraten – Aufstieg und Fall
Mit 8,7 Prozent zogen die Piraten im Jahr 2011 auf Anhieb in das Berliner Abgeordnetenhaus ein. Den abrupten Erfolg hatte kaum ein politischer Beobachter vorausgesehen. Der Einzug in das Landesparlament war eine Überraschung. Der Berliner Wahlkampf dieser fünf Jahre zuvor, im Jahr 2006, gegründeten Partei wirkte auf viele ungewöhnlich. Statt einer professionellen Kampagne wirkten Plakate und Forderungskataloge wie selbstgebastelt. So eine Anmutung kannte man eher von Wahlen zu einem Studentenparlament als aus dem politischen Wettbewerb zum Einzug in ein Landesparlament. Ähnlich wie beim allerersten Einzug von Abgeordneten der Grünen in ein deutsches Parlament wirkten die frischgebackenen Abgeordneten der Piraten im Parlament zunächst wie Fremdkörper. Das machte aber zugleich deren Reiz aus. Sie wurden in Talkshows eingeladen, einige stiegen fast zu Medienstars auf. Tatsächlich war die Zusammensetzung der Fraktion recht disparat. Zu den eher skurrilen Erscheinungen gehörte auch der vorübergehende Geschäftsführer der Piraten, Johannes Ponader, der bei dem sonntäglichen Polit-Talk von Günter Jauch einen eigenartigen Auftritt in Sandalen hinlegte. Es gab weitere etwas „schräge“ Figuren, auch wenn sich die Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus insgesamt als Kohorte recht unterschiedlicher Talente erwies. Später – nach dem Niedergang der Piraten – diffundierten sie in verschiedene Formationen hinein: von der FDP bis zu den Linken. Frauen wie Katharina Nocun, Marina Weisband, Anke Domscheit-Berg und Julia Schramm brachten es zu einiger Berühmtheit, traten publizistisch hervor oder zu den Linken über. Zwei ehemalige Parteivorsitzende, Sebastian Nerz und Bernd Schlömer, wechselten zur FDP. Christopher Lauer heuerte vorübergehend beim Springer-Verlag an und wurde SPD-Mitglied. Martin Delius, der den Flughafen-Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus souverän leitete, wechselte zur Partei „die Linke“. Pech hatten die Piraten mit dem einzigen prominenten Parteiübertritt. Der SPD-Internetexperte Jörg Tauss wurde wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften angeklagt und im Jahr 2010 auch verurteilt.

Im Jahr 2012 aber setzte sich der Siegeszug der Piraten nach dem Wahlerfolg in Berlin zunächst noch fort. Auch in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Schleswig-Holstein zogen die Piraten in die Landtage ein. Einige Politikwissenschaftler sahen darin auch ein Indiz dafür, dass das Parteiensystem doch labiler war als es nach außen hin schien, dass Erschütterungen und Verschiebungen schon jederzeit möglich zu sein schienen. Erst die Europawahl im Jahr 2014, bei der die Piraten es auf gerade noch 1,4 Prozent der Stimmen brachte, zeigte an, dass die Piraten sich nicht dauerhaft etablieren konnten, sondern der Höhenflug dieser ungewöhnlichen Partei nur von kurzer Dauer war.

Es gibt einige wenige ausführliche politikwissenschaftliche Studien zu den Piraten (vgl. Blumberg 2010; Bieber/Leggewie 2012; Niedermayer 2013). Meist sind sie schon in der Zeit ihres kurzen Höhenflugs entstanden, ausführliche wissenschaftliche Betrachtungen von Auf- und Abstieg gibt es kaum, dafür aber einige interessante journalistische Arbeiten (vgl. Wagner 2012). Letztlich sind sich alle Beobachter darin einig, dass die Piraten mit dem Ziel antraten, die erste Internet-Partei zu werden und auch besonders starke ad hoc-Attraktion auf die jungen „digital natives“ ausübten, die sich „im Netz zuhause fühlten“, aber am Ende scheiterten, weil es dieser Partei nicht gelungen ist, über diese Klientel hinaus Ausstrahlungskraft zu gewinnen. Letztlich ist es trotz großer interner Diskussionsfreude auch nicht gelungen, ein auch nur halbwegs konzises Programm auf die Beine zu stellen.

So wie einst die Grünen die Ökologie als neues, umfassendes Politikfeld entdeckt und zum Schlüsselpunkt ihres Wirkens gemacht hatten, wollten die Piraten „das Internet“ als neues, zentrales gesellschaftliches „Cleavage“ erkannt haben und sowohl als Zentralgegenstand wie als Mittel ihrer Politik nutzen. Sie versuchten Technik-Euphorie, die das Internet als völlig neuartigen Möglichkeitsraum der menschlichen Kommunikation zu erproben trachtete, mit einem liberalen, bürgerrechtlichen Ansatz, der vor allem auf Datenschutz ausgerichtet war, zu verknüpfen. Alle konkreten politischen Forderungen bewegten sich im Kräftedreieck von Datenschutz, neuer Partizipation und Transparenz. Diese Vokabel wurde von den Piraten fast bis an die Grenze zur Karikatur strapaziert. Mit den daraus resultierenden Ansprüchen an eine neue Offenheit und Durchsichtigkeit politischer Beratungen und Entscheidungen hat sich die junge Partei aber bald selbst völlig überfordert. Ihr ist es nicht gelungen, den Anspruch auf Transparenz mit einer zivilisierten Debattenkultur zu verbinden. Laut und heftig wurde gestritten, Beschimpfungen waren an der Tagesordnung, manche Abgeordnete fielen online hauptsächlich durch ausgiebige intime Geständnisse auf – kurz: Viele Diskussionen liefen völlig aus dem Ruder. Sie waren wenig dazu angetan, sich mit einer stabilen Anhängerschaft fest zu etablieren.

Es gab lange und detailreiche Beratungen zu einer Fülle von Einzelforderungen, die vom kostenlosen öffentlichen Nahverkehr bis zum kostenlosen W-Lan für alle reichte. Ein klares sozialpolitisches Profil erwuchs daraus aber nie. Es gelang nicht, einen Bezug zum Arbeitsleben der meisten Menschen herzustellen. Letztlich blieb die Partei eine Ansammlung von Freaks und Spezialisten. Vor allem aber durchliefen viele Beratungen immer wieder dieselben Schleifen. Für die gewünschte Partizipation und ausufernde innerparteiliche Demokratie hatten sich die Piraten als große Neuerung eine Online-Kommunikation mithilfe einer eigens entwickelten Software und Plattform geschaffen: „Liquid Democracy“. So sollte die Demokratie quasi „verflüssigt“ und dadurch permanent werden. Diese neue technische Möglichkeit war aber in der Partei, die ein basisdemokratisches Selbstverständnis pflegte, wenig eingebunden in klare Strukturen. Sollte nun online ein permanenter Mitglieder-Parteitag stattfinden? Oder sind Delegiertenkonferenzen nicht doch praktikabler? Welche Kompetenz und Entscheidungsgewalt sollen Vorstände haben, wenn sie der andauernden Online-Kontrolle unterliegen? Würde die Permanenz und Universalität der Mitsprache via Internet nicht erst recht einen tiefen Graben zwischen Aktivisten und einfachen Parteimitgliedern aufreißen? Solche Fragen bleiben ungeklärt. Hinzu kam, dass sich die Partei auch rasch verzettelte. Sie pflegte als erste Partei eine ausgedehnte Gender-Debatte, in der die Toleranz gegenüber poly-amorösen Beziehungen ebenso eine Rolle spielte wie die geschlechtsneutrale Bezeichnung der eigenen Mitglieder als „Eichhörnchen“. Eine Massenpartei kann man so nicht werden. Die Piraten verloren den Kontakt zu den Wählern, die sie repräsentieren wollten.

Ausschlaggebend für den kurzen Erfolg und jähen Absturz aber war wohl das widersprüchliche Verhältnis zum zentralen Gegenstand ihrer Politik: Das Internet sollte für die Politik der Piraten das zentrale Terrain sein. Das wollten sie „entern“, erobern, für Partizipation und Transparenz nutzen. Generell plädierten die Piraten für Datenschutz und verteidigten die Urheberrechte, verstanden sich als „sozialliberale Bürgerrechtspartei“, wollten zugleich aber das Netz – so wie es sich aktuelle darstellte - als Medium der eigenen Beratung und Beschlussfassung umfassend nutzen. Damals gab es zwar noch nicht die ironische Klage von Sascha Lobo, dass das Internet „kaputt“ sei, aber Kritiker wie Shoshana Zuboff, Evgeny Morozov, Jaron Lanier, Geert Lovink, Peter Glaser und auch Frank Schirrmacher hatten einen intellektuellen Diskurs über die „smarte neue Welt“, und die „Bedeutung der digitalen Technik für die Freiheit der Menschen“ (Morozov 2013) längst begonnen.

An diese Debatten fanden die Piraten nie rechten Anschluss. Dafür waren sie letztlich einerseits zu technik-optimistisch und andererseits politisch zu basisdemokratisch-naiv. So schafften die Piraten es nie, ein durchdachtes Programm zu entwickeln, wie die großen US-High-Tec-Konzerne reguliert werden sollten, ob und wie die so genannte GAFA-Ökonomie einzuhegen sei, wie also das Internet verändert werden müsse, damit es tatsächlich als neues Instrument der demokratischen Partizipation universell genutzt werden könne. Daran sind sie letztlich gescheitert. Ihnen freundlich Gesinnte werden die Piraten so als einen gut gemeinten Versuch, das Internet zum Zentralgegenstand des Politischen zu machen, in Erinnerung behalten. Andere werden ihr Versagen härter kritisieren: Als durch eigene Unfähigkeit vergebene Chance, eine zentrale Zukunftsfrage rechtzeitig zu thematisieren und dadurch das traditionelle Parteiensystem womöglich etwas aufzubrechen.

Die AfD als „erste Internetpartei“
Der Journalist Justus Bender, der für die FAZ die AfD beobachtet, war der erste, der die Verallgemeinerung wagte, dass die AfD die „erste Internetpartei“ in Deutschland sei. Das mag überraschen, aber die Empirie spricht für diese Beurteilung. Schauen wir uns ein paar Beispiele an:

Am 22. März 2018 fand die erste Bundestagsdebatte nach der Regierungserklärung der neu gebildeten Großen Koalition statt. Auf Facebook spiegelte sie sich so: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erzielte 92.000 Views und 13.300 Interaktionen. Fünfstellige Abrufzahlen erreichten ebenfalls FDP-Chef Christian Lindner (44.000) der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch (16.500) und die fraktionslose Rednerin Frauke Petry (16.000). Die SPD-Chefin Andrea Nahles brachte es auf 1.300 Abrufe – und eindeutige Spitzenreiterin mit 131.000 Views uns 17.700 Interaktionen war die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel.

Am 19. April 2018 veröffentliche der Mediendienst meedia.de ein Politiker-Ranking nach Facebook-Interaktionen der vorangegangenen 30 Tage:
1. Alice Weidel: 421.400
2. Jörg Meuthen: 329.500
3. Sahra Wagenknecht: 314.400
4. Gregor Gysi: 97.000

Dann folgen Angela Merkel und Beatrix von Storch. FDP-Chef Christian Lindner belegt Platz 9; als erste SPD-Politikerin belegt Familienministerin Franziska Giffey den Rang 16, kein einziger Politiker der Grünen ist auf den ersten 25 Rängen vertreten.

Hinter den hohen Raten der Abrufe und Interaktionen bei Alice Weidel und Jörg Meuthen verbirgt sich natürlich keineswegs ein entsprechend dominanter politischer Einfluss der AfD, sondern lediglich ein großer Online-Aktivismus der Anhänger dieser Partei. Durch Vernetzung ist es möglich, Scheinriesen zu erzeugen.

Der Netz-Aktivismus von AfDlern hat wiederum gar nichts damit zu tun, dass die AfD etwa bestrebt ist, das Internet, die Online-Kommunikation oder überhaupt die Digitalisierung zu einem der zentralen Gegenstände ihres politischen Wirkens zu machen. Ganz im Gegenteil: Im mittlerweile legendär gewordenen ZDF-Sommerinterview mit Thomas Walde am 12.08.2018 musste der Fraktionsvorsitzende der AfD im Deutschen Bundestag, Alexander Gauland, bekennen, dass er davon nun überhaupt nichts verstehe. Forderungen oder Bestrebungen der AfD auf diesem Feld wusste er auch nicht zu benennen. Man könnte auch formulieren, die AfD ist zur ersten deutschen Internetpartei geworden, weil zu diesem Medium selbst ein völlig unkritisches, ja naives Verhältnis pflegt. Sie nutzt alles, was es online gibt – von Facebook bis Twitter, Youtube, Streaming-Dienste und interne „Whatsapp“-Gruppen – einfach so, wie sie sich darbieten, für die eigenen propagandistischen Zwecke.

Dabei macht sie sich Effekte zu Nutze, die insbesondere den so genannten Sozialen Medien inhärent sind. Der Kern ist dabei: Es gibt so viele medial vermittelte Inhalte wie noch nie, „Social Media“ weckt aber die Illusion, es finde gar keine mediale Vermittlung statt, sondern eine unmittelbare, direkte, persönliche – also folglich „unverfälschte“ – Kommunikation.

Die AfD wurde im Jahr 2013 von einigen, meist älteren Herren gegründet, die sich vor allem der Politik der Euro-Rettung widersetzten. Einige Wirtschaftsprofessoren waren ebenso dabei wie ehemalige Redakteure der FAZ um Konrad Adam, der ehemalige Manager Hans Olaf Henkel stieß bald dazu, der Parteivorsitzende Bernd Lucke wurde als originelle Stimme in Talkshows eingeladen. Mit der Flüchtlingswelle des Jahres 2015 erhielt die Partei einen weiteren Schub an Zuspruch und Mitgliederzuwachs. Sie wechselte das Führungspersonal aus und veränderte auch das politische Profil. Die AfD radikalisierte sich, rückte immer weiter nach rechts und kann heute als rechts, nationalistisch und auch als „populistisch“ charakterisiert werden. Im Herbst 2017 zog sie in den Deutschen Bundestag ein, wo sie die stärkste Oppositionspartei wurde und ist mittlerweile auch flächendeckend in allen Landtagen vertreten. Sie wurde zur am schnellsten wachsenden und in Wahlen erfolgreichen parteipolitischen Neugründung.

Über den „Populismus“ haben Politikwissenschaftler wie Frank Decker, Karin Priester, Cas Mudde oder Jan-Werner Müller schon seit längerem geforscht. Dirk Jörke und Veith Selk haben die „Theorien des Populismus“ bilanziert. Bei allen unterschiedlichen Nuancierungen ist für den Populismus typisch, dass er für sich reklamiert, die authentische Stimme eines homogen gedachten Volkes zu sein, die sich gegen die abgehobenen und selbstherrlichen Eliten erhebt. Daraus resultiert das skeptische bis ablehnende Verhältnis solcher politischen Formationen zu allen intermediären Instanzen der Gesellschaft. Dazu zählen sie auch redaktionell geführte Medien, deren Auswahl und Orientierungsabsichten sie als per se manipulativ, gesteuert, selbstbezogen, als elitär und korrupt oder schlicht als „Fake News“ denunzieren. Donald Trump geht sogar soweit, die von ihm als „Fake News“ bezeichneten traditionellen Medien, wie die TV-Sender CNN oder die Traditionszeitung New York Times als „Feinde des Volkes“ zu bezeichnen. Soweit geht die AfD in Deutschland nicht, spricht aber von der „Lügen-“ oder „Lückenpresse“ und „Staatsfunk“. Insbesondere das gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunksystem ist ihr ein Dorn im Auge. So versah die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel die Idee der AfD, einen eigenen Newsroom ihrer Bundestagsfraktion einzurichten mit dem eingängigen Spruch, die Menschen sollten in Zukunft eben „AfD statt ARD“ sehen. Der Skepsis und Ablehnung gegenüber dem Prinzip Redaktion setzt die AfD ein eigenes mediales Umfeld entgegen, das de facto der Eigen-Propaganda dient, aber gerne als alternatives journalistisches Angebot ausgegeben wird.

Welche Effekte, die den „neuen Medien“ inhärent sind, macht sich nun die AfD besonders zu Nutze? Es gibt das Bonmot von Marshall McLuhan: „Das Medium ist die Botschaft.“ Es war vielleicht nie ganz richtig, verwies aber darauf, dass es nie eine völlige Unabhängigkeit der medial vermittelten Inhalte von den Medien, durch die sie vermittelt wurden, gegeben hat. Heute – im Zeitalter von „social media“ kann man das McLuhan-Wort abwandeln zur Aussage: „Das Medium radikalisiert die Botschaft“.

Dies gilt insbesondere für Twitter. Gegenüber Facebook und Google ist Twitter zwar ein ökonomischer Zwerg, die Twitter-Kommunikation ist aber kurz, knapp und schnell, emotional, persönlich und preiswert. Twitter zwingt zu pointierter Sprache, was im besten Fall zu einem Wettbewerb an Originalität führt, aber es auch zum idealen Medium für digitale Wutbürger macht. Typisch sind Feststellungen, Aussagesätze und Bekenntnisse. Twitter ist nicht angelegt auf Dialog und Austausch, basiert nicht auf der Kulturtechnik der allmählichen Verfertigung der Gedanken, sondern fördert das schroffe Gegeneinander von Positionen, eine hemmungslose Sprache und die Eskalation von Konflikten. Hier kann man fluchen, beleidigen und schimpfen – und immer schon sofort ganz genau Bescheid wissen. Am 7. April 2018 meldete die erste Nachrichtenagentur um 16 Uhr 39, dass in Münster ein Fahrzeug in eine Menschenmenge gefahren sei. Nur 13 Minuten später schrieb die AfD-Politikerin Beatrix von Storch auf Twitter zu dieser Meldung den Satz: „Wir schaffen das!“, versehen mit einem fluchenden Emoji mit rotem Kopf. Der Rückzug in die sofort und lauthals verkündete Selbstbestätigung ist die dunkle Seite der Vernetzung.

Noch wissen wir nicht genau, was die Signaturen des Neuen sind, wie sehr das Internet, dieses Hypermedium, das alle anderen Medien zu verschlucken scheint, unser Denken und kommunikatives Handeln verändern wird. Aber klar ist, dass es traditionelle „gatekeeper“ entautorisiert, traditionelle Machtgefüge durch eine Fülle „neuer Persuasionstechniken“ (Neuberger 2018) erschüttert und die institutionelle Ordnung der öffentlichen Kommunikation in Frage stellt. Die Piraten haben unter anderen daraus sehr optimistisch auf das Demokratisierungspotential der Internet-Kommunikation geschaut. Und in der Tat werden ja die Räume der Kommunikation potenziell immer größer. Nur führt das auch sofort zur Gegenbewegung, dass das „Wir“ der Sich-Austauschenden immer enger wird. „Weltkurzsichtigkeit“, so nannte Miriam Meckel die Kehrseite der universellen Vernetzung. Auch Kleinstgruppen mit hochspezialisierten Hobbys, ausgefallenen Krankheiten oder besonderen Bedürfnissen können sich mittlerweile finden und austauschen, die Vernetzung lockt ihre User aber auch immer wieder hinein in einen Tunnel, in dem er nur noch sieht, was dem eigenen Koordinatensystem entspricht. Sascha Lobo hat in seinem Vortrag auf der re:publica 2018 von einem „sehr verführerischen Angebot“ gesprochen, das das Netz für „anfällige Menschen“ bereithalte: „Wir lösen Deine Probleme durch Abschottung von Andersartigkeit.“ (Lobo 2018) Durch eigene Aktivität, durch seine likes und shares, fühlt sich der User meist positiv gestimmt. Zu genre aber sucht und findet er nur jene Gruppen und Informationen, durch die er sich selbst bestätigt sieht.

Da alle Dokumente und Daten digitalisiert vorliegen, kann mit ihnen etwas geschehen, das früher nur mit größtem Aufwand möglich war. Sie sind gewissermaßen leicht und luftig, beweglich und bearbeitbar geworden. Sie lassen sich zerlegen in Bruchstücke, entbündeln, auf Atome fokussieren und remixen. Neuberger nennt dies den „Kollaps der Kontexte“ (Neuberger 2018: 36); Pörksen eine permanente „Entkontextualisierung der Inhalte“ (Pörksen 2018: 140) und führt aus, dass die Plattformen gerade darauf angelegt sind, radikal den Individualerfolg von Informationspartikeln zu fördern, die alarmierend sind und höchste Aufmerksamkeit erregen.

Diesen Netzwerk-Effekt macht sich die AfD immer wieder zu Nutze. Man zerlegt jedes Dokument in Informationsbröckchen und belegt es vorab mit einer Bewertung. „Alice Weidel (AfD) klärt die dummen Hühner von Rot-Grün über die Sharia auf“ - das ist dann zum Beispiel der Titel eines kurzes Youtube-Stückes, das einen Mini-Ausschnitt aus einer Talkshow zeigt. Eine Erwiderung, Gegenargumente oder ein verbaler Austausch kommen natürlich nicht vor. Genauso hält es die AfD mit ihrer Darstellung der Bundestagsdebatten. Es sind Propaganda-Schnipsel ohne Kontext, die nur auf Bestätigung abzielen.

Schlimmer noch und auch immer wieder angewendet wird das Mittel bewusster Falschinformation, die letztlich immer nur Ressentiments aktiviert. Ein Beispiel dafür ist die frei erfundene Meldung, dass Claudia Roth ein Alkoholverbot für die Zeit des Ramadan gefordert habe. Danach schwappen dann zuverlässig Erregungswellen durch das Internet und Dementis kommen gar nicht so schnell hinterher, wie sich solche Fälschungen verbreiten.

Das ist das mediale Zuhause der AfD. Darin hat sich die Partei zugleich wohlig und hochgradig aktiv eingerichtet. Als Alternative zu redaktionell geführten Medien nutzt die AfD die Schattenseiten des Netzes als Emotions- und Erregungsmaschinerie. Darum wurden nicht die anarchistischen Utopisten der Piraten, sondern die nationalistischen Populisten der AfD zur ersten Partei des Internet.

Gefördert wird von ihren schnellen „Influencern“ ein Sofortismus der Meinungsbildung. Bedient wird eine Gier nach Bestätigung der bereits vorhandenen Vorurteile mittels einer permanenten Entkontextualisierung von Inhalten. Das schafft Scheinriesen und verzerrt Relevanz. So entsteht eine Struktur von wütender Kommunikation, die mit der Idee einer politisch informierten Öffentlichkeit nichts mehr gemein hat. Denn diese setzt auf Argumente, auf deren zivilen Austausch und die positive Filtersouveränität des freien Bürgers.




Literatur



Gäbler, Bernd (2018): AfD und Medien. Studie der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt a. M.


Zu den Piraten:

Bieber, Christoph; Leggewie, Claus (Hrsg.) (2012): Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena. Bielefeld: Transkript.

Blumberg, Fabian (2010): Partei der „digital natives“? Eine Analyse der Genese und Etablierungschancen der Piratenpartei. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Neumann, Tobias (2011): Die Piratenpartei Deutschland. Entwicklung und Selbstverständnis. Berlin: Contumax.

Niedermayer, Oskar (Hrsg.) (2013): Die Piratenpartei. Wiesbaden: Springer.

Wagner, Marie Katharina (2012): Die Piraten. Von einem Lebensgefühl zum Machtfaktor. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.


Zum Populismus:

Decker, Frank (Hrg.) (2006): Populismus, Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv. Wiesbaden:

Priester, Karin (2007): Populismus, Historische und aktuelle Erscheinungsformen. Frankfurt a. M.:

Mudde, Cas; Kaltwasser, Cristóbal Rovira (XXX): Populism. A very short Introduction. Oxford:

Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Berlin:


Zum Internet:

Lobo, Sascha (2018): Pop und Anti-Pop. Vortrag auf der re:publica.

Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. München:

Neuberger, Christoph (2018): Entfesselte Kontext. In: Kursbuch 195, September, S. 31 – 52

Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a. M./New York: Campus.

Morozov, Evgeny (2013): Smarte neue Welt, Digitale Technik und die Freiheit des Menschen. Ort: Blessing.

Zu den von Frank Schirrmacher initiierten Diskursen vgl. Augstein, Jakob (Hrsg.) (2017): Reclaim Autonomy. Selbstermächtigung in der digitalen Weltordnung. Berlin: Suhrkamp.

Der Autor



Prof. Bernd Gäbler lehrt in Bielefeld Journalistik und Kommunikations-wissenschaft; arbeitete früher in vielen Fernsehredaktionen und war von 2001 bis 2005 Leiter des Adolf Grimme Instituts in Marl. Seine aktuelle Studie für die Otto Brenner-Stiftung: AfD und Medien. Erfahrungen und Lehren für die Praxis.