Die Piraten –
Aufstieg und Fall
Mit 8,7 Prozent zogen die Piraten im Jahr 2011 auf Anhieb in das Berliner
Abgeordnetenhaus ein. Den abrupten Erfolg hatte kaum ein politischer
Beobachter vorausgesehen. Der Einzug in das Landesparlament war eine
Überraschung. Der Berliner Wahlkampf dieser fünf Jahre zuvor, im Jahr 2006,
gegründeten Partei wirkte auf viele ungewöhnlich. Statt einer
professionellen Kampagne wirkten Plakate und Forderungskataloge wie
selbstgebastelt. So eine Anmutung kannte man eher von Wahlen zu einem
Studentenparlament als aus dem politischen Wettbewerb zum Einzug in ein
Landesparlament. Ähnlich wie beim allerersten Einzug von Abgeordneten der
Grünen in ein deutsches Parlament wirkten die frischgebackenen Abgeordneten
der Piraten im Parlament zunächst wie Fremdkörper. Das machte aber zugleich
deren Reiz aus. Sie wurden in Talkshows eingeladen, einige stiegen fast zu
Medienstars auf. Tatsächlich war die Zusammensetzung der Fraktion recht
disparat. Zu den eher skurrilen Erscheinungen gehörte auch der
vorübergehende Geschäftsführer der Piraten, Johannes Ponader, der bei dem
sonntäglichen Polit-Talk von Günter Jauch einen eigenartigen Auftritt in
Sandalen hinlegte. Es gab weitere etwas „schräge“ Figuren, auch wenn sich
die Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus insgesamt als Kohorte recht
unterschiedlicher Talente erwies. Später – nach dem Niedergang der Piraten –
diffundierten sie in verschiedene Formationen hinein: von der FDP bis zu den
Linken. Frauen wie Katharina Nocun, Marina Weisband, Anke Domscheit-Berg und
Julia Schramm brachten es zu einiger Berühmtheit, traten publizistisch
hervor oder zu den Linken über. Zwei ehemalige Parteivorsitzende, Sebastian
Nerz und Bernd Schlömer, wechselten zur FDP. Christopher Lauer heuerte
vorübergehend beim Springer-Verlag an und wurde SPD-Mitglied. Martin Delius,
der den Flughafen-Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus
souverän leitete, wechselte zur Partei „die Linke“. Pech hatten die Piraten
mit dem einzigen prominenten Parteiübertritt. Der SPD-Internetexperte Jörg
Tauss wurde wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften angeklagt
und im Jahr 2010 auch verurteilt.
Im Jahr 2012 aber setzte sich der Siegeszug der Piraten nach dem Wahlerfolg
in Berlin zunächst noch fort. Auch in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und
in Schleswig-Holstein zogen die Piraten in die Landtage ein. Einige
Politikwissenschaftler sahen darin auch ein Indiz dafür, dass das
Parteiensystem doch labiler war als es nach außen hin schien, dass
Erschütterungen und Verschiebungen schon jederzeit möglich zu sein schienen.
Erst die Europawahl im Jahr 2014, bei der die Piraten es auf gerade noch 1,4
Prozent der Stimmen brachte, zeigte an, dass die Piraten sich nicht
dauerhaft etablieren konnten, sondern der Höhenflug dieser ungewöhnlichen
Partei nur von kurzer Dauer war.
Es gibt einige wenige ausführliche politikwissenschaftliche Studien zu den
Piraten (vgl. Blumberg 2010; Bieber/Leggewie 2012; Niedermayer 2013). Meist sind
sie schon in der Zeit ihres kurzen Höhenflugs entstanden, ausführliche
wissenschaftliche Betrachtungen von Auf- und Abstieg gibt es kaum, dafür
aber einige interessante journalistische Arbeiten (vgl. Wagner 2012). Letztlich
sind sich alle Beobachter darin einig, dass die Piraten mit dem Ziel
antraten, die erste Internet-Partei zu werden und auch besonders starke ad hoc-Attraktion auf die jungen „digital natives“ ausübten, die sich „im Netz
zuhause fühlten“, aber am Ende scheiterten, weil es dieser Partei nicht
gelungen ist, über diese Klientel hinaus Ausstrahlungskraft zu gewinnen.
Letztlich ist es trotz großer interner Diskussionsfreude auch nicht
gelungen, ein auch nur halbwegs konzises Programm auf die Beine zu stellen.
So wie einst die Grünen die Ökologie als neues, umfassendes Politikfeld
entdeckt und zum Schlüsselpunkt ihres Wirkens gemacht hatten, wollten die
Piraten „das Internet“ als neues, zentrales gesellschaftliches „Cleavage“
erkannt haben und sowohl als Zentralgegenstand wie als Mittel ihrer Politik
nutzen. Sie versuchten Technik-Euphorie, die das Internet als völlig
neuartigen Möglichkeitsraum der menschlichen Kommunikation zu erproben
trachtete, mit einem liberalen, bürgerrechtlichen Ansatz, der vor allem auf
Datenschutz ausgerichtet war, zu verknüpfen. Alle konkreten politischen
Forderungen bewegten sich im Kräftedreieck von Datenschutz, neuer
Partizipation und Transparenz. Diese Vokabel wurde von den Piraten fast bis
an die Grenze zur Karikatur strapaziert. Mit den daraus resultierenden
Ansprüchen an eine neue Offenheit und Durchsichtigkeit politischer
Beratungen und Entscheidungen hat sich die junge Partei aber bald selbst
völlig überfordert. Ihr ist es nicht gelungen, den Anspruch auf Transparenz
mit einer zivilisierten Debattenkultur zu verbinden. Laut und heftig wurde
gestritten, Beschimpfungen waren an der Tagesordnung, manche Abgeordnete
fielen online hauptsächlich durch ausgiebige intime Geständnisse auf – kurz:
Viele Diskussionen liefen völlig aus dem Ruder. Sie waren wenig dazu
angetan, sich mit einer stabilen Anhängerschaft fest zu etablieren.
Es gab lange und detailreiche Beratungen zu einer Fülle von
Einzelforderungen, die vom kostenlosen öffentlichen Nahverkehr bis zum
kostenlosen W-Lan für alle reichte. Ein klares sozialpolitisches Profil
erwuchs daraus aber nie. Es gelang nicht, einen Bezug zum Arbeitsleben der
meisten Menschen herzustellen. Letztlich blieb die Partei eine Ansammlung
von Freaks und Spezialisten. Vor allem aber durchliefen viele Beratungen
immer wieder dieselben Schleifen. Für die gewünschte Partizipation und
ausufernde innerparteiliche Demokratie hatten sich die Piraten als große
Neuerung eine Online-Kommunikation mithilfe einer eigens entwickelten
Software und Plattform geschaffen: „Liquid Democracy“. So sollte die
Demokratie quasi „verflüssigt“ und dadurch permanent werden. Diese neue
technische Möglichkeit war aber in der Partei, die ein basisdemokratisches
Selbstverständnis pflegte, wenig eingebunden in klare Strukturen. Sollte nun
online ein permanenter Mitglieder-Parteitag stattfinden? Oder sind
Delegiertenkonferenzen nicht doch praktikabler? Welche Kompetenz und
Entscheidungsgewalt sollen Vorstände haben, wenn sie der andauernden
Online-Kontrolle unterliegen? Würde die Permanenz und Universalität der
Mitsprache via Internet nicht erst recht einen tiefen Graben zwischen
Aktivisten und einfachen Parteimitgliedern aufreißen? Solche Fragen bleiben
ungeklärt. Hinzu kam, dass sich die Partei auch rasch verzettelte. Sie
pflegte als erste Partei eine ausgedehnte Gender-Debatte, in der die
Toleranz gegenüber poly-amorösen Beziehungen ebenso eine Rolle spielte wie
die geschlechtsneutrale Bezeichnung der eigenen Mitglieder als
„Eichhörnchen“. Eine Massenpartei kann man so nicht werden. Die Piraten
verloren den Kontakt zu den Wählern, die sie repräsentieren wollten.
Ausschlaggebend für den kurzen Erfolg und jähen Absturz aber war wohl das
widersprüchliche Verhältnis zum zentralen Gegenstand ihrer Politik: Das
Internet sollte für die Politik der Piraten das zentrale Terrain sein. Das
wollten sie „entern“, erobern, für Partizipation und Transparenz nutzen.
Generell plädierten die Piraten für Datenschutz und verteidigten die
Urheberrechte, verstanden sich als „sozialliberale Bürgerrechtspartei“,
wollten zugleich aber das Netz – so wie es sich aktuelle darstellte - als
Medium der eigenen Beratung und Beschlussfassung umfassend nutzen.
Damals gab es zwar noch nicht die ironische Klage von Sascha Lobo, dass das
Internet „kaputt“ sei, aber Kritiker wie Shoshana Zuboff, Evgeny Morozov,
Jaron Lanier, Geert Lovink, Peter Glaser und auch Frank Schirrmacher hatten
einen intellektuellen Diskurs über die „smarte neue Welt“, und die
„Bedeutung der digitalen Technik für die Freiheit der Menschen“ (Morozov
2013) längst begonnen.
An diese Debatten fanden die Piraten nie rechten Anschluss. Dafür waren sie
letztlich einerseits zu technik-optimistisch und andererseits politisch zu
basisdemokratisch-naiv. So schafften die Piraten es nie, ein durchdachtes
Programm zu entwickeln, wie die großen US-High-Tec-Konzerne reguliert werden
sollten, ob und wie die so genannte GAFA-Ökonomie einzuhegen sei, wie also
das Internet verändert werden müsse, damit es tatsächlich als neues
Instrument der demokratischen Partizipation universell genutzt werden könne.
Daran sind sie letztlich gescheitert. Ihnen freundlich Gesinnte werden die
Piraten so als einen gut gemeinten Versuch, das Internet zum
Zentralgegenstand des Politischen zu machen, in Erinnerung behalten. Andere
werden ihr Versagen härter kritisieren: Als durch eigene Unfähigkeit
vergebene Chance, eine zentrale Zukunftsfrage rechtzeitig zu thematisieren
und dadurch das traditionelle Parteiensystem womöglich etwas aufzubrechen.
Die AfD als „erste Internetpartei“
Der Journalist Justus Bender, der für die FAZ die AfD beobachtet, war der
erste, der die Verallgemeinerung wagte, dass die AfD die „erste
Internetpartei“ in Deutschland sei. Das mag überraschen, aber die Empirie
spricht für diese Beurteilung. Schauen wir uns ein paar Beispiele an:
Am 22. März 2018 fand die erste Bundestagsdebatte nach der
Regierungserklärung der neu gebildeten Großen Koalition statt. Auf Facebook
spiegelte sie sich so: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erzielte
92.000 Views und 13.300 Interaktionen. Fünfstellige Abrufzahlen erreichten
ebenfalls FDP-Chef Christian Lindner (44.000) der Fraktionschef der Linken,
Dietmar Bartsch (16.500) und die fraktionslose Rednerin Frauke Petry
(16.000). Die SPD-Chefin Andrea Nahles brachte es auf 1.300 Abrufe – und
eindeutige Spitzenreiterin mit 131.000 Views uns 17.700 Interaktionen war
die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel.
Am 19. April 2018 veröffentliche der Mediendienst meedia.de ein
Politiker-Ranking nach Facebook-Interaktionen der vorangegangenen 30 Tage:
1. Alice Weidel: 421.400
2. Jörg Meuthen: 329.500
3. Sahra Wagenknecht: 314.400
4. Gregor Gysi: 97.000
Dann folgen Angela Merkel und Beatrix von Storch. FDP-Chef Christian Lindner
belegt Platz 9; als erste SPD-Politikerin belegt Familienministerin
Franziska Giffey den Rang 16, kein einziger Politiker der Grünen ist auf den
ersten 25 Rängen vertreten.
Hinter den hohen Raten der Abrufe und Interaktionen bei Alice Weidel und
Jörg Meuthen verbirgt sich natürlich keineswegs ein entsprechend dominanter
politischer Einfluss der AfD, sondern lediglich ein großer Online-Aktivismus
der Anhänger dieser Partei. Durch Vernetzung ist es möglich, Scheinriesen zu
erzeugen.
Der Netz-Aktivismus von AfDlern hat wiederum gar nichts damit zu tun, dass
die AfD etwa bestrebt ist, das Internet, die Online-Kommunikation oder
überhaupt die Digitalisierung zu einem der zentralen Gegenstände ihres
politischen Wirkens zu machen. Ganz im Gegenteil: Im mittlerweile legendär
gewordenen ZDF-Sommerinterview mit Thomas Walde am 12.08.2018 musste der
Fraktionsvorsitzende der AfD im Deutschen Bundestag, Alexander Gauland,
bekennen, dass er davon nun überhaupt nichts verstehe. Forderungen oder
Bestrebungen der AfD auf diesem Feld wusste er auch nicht zu benennen. Man
könnte auch formulieren, die AfD ist zur ersten deutschen Internetpartei
geworden, weil zu diesem Medium selbst ein völlig unkritisches, ja naives
Verhältnis pflegt. Sie nutzt alles, was es online gibt – von Facebook bis
Twitter, Youtube, Streaming-Dienste und interne „Whatsapp“-Gruppen – einfach
so, wie sie sich darbieten, für die eigenen propagandistischen Zwecke.
Dabei macht sie sich Effekte zu Nutze, die insbesondere den so genannten
Sozialen Medien inhärent sind. Der Kern ist dabei: Es gibt so viele medial
vermittelte Inhalte wie noch nie, „Social Media“ weckt aber die Illusion, es
finde gar keine mediale Vermittlung statt, sondern eine unmittelbare,
direkte, persönliche – also folglich „unverfälschte“ – Kommunikation.
Die AfD wurde im Jahr 2013 von einigen, meist älteren Herren gegründet, die
sich vor allem der Politik der Euro-Rettung widersetzten. Einige
Wirtschaftsprofessoren waren ebenso dabei wie ehemalige Redakteure der FAZ
um Konrad Adam, der ehemalige Manager Hans Olaf Henkel stieß bald dazu, der
Parteivorsitzende Bernd Lucke wurde als originelle Stimme in Talkshows
eingeladen. Mit der Flüchtlingswelle des Jahres 2015 erhielt die Partei
einen weiteren Schub an Zuspruch und Mitgliederzuwachs. Sie wechselte das
Führungspersonal aus und veränderte auch das politische Profil. Die AfD
radikalisierte sich, rückte immer weiter nach rechts und kann heute als
rechts, nationalistisch und auch als „populistisch“ charakterisiert werden.
Im Herbst 2017 zog sie in den Deutschen Bundestag ein, wo sie die stärkste
Oppositionspartei wurde und ist mittlerweile auch flächendeckend in allen
Landtagen vertreten. Sie wurde zur am schnellsten wachsenden und in Wahlen
erfolgreichen parteipolitischen Neugründung.
Über den „Populismus“ haben Politikwissenschaftler wie Frank Decker, Karin
Priester, Cas Mudde oder Jan-Werner Müller schon seit längerem geforscht.
Dirk Jörke und Veith Selk haben die „Theorien des Populismus“ bilanziert.
Bei allen unterschiedlichen Nuancierungen ist für den Populismus typisch,
dass er für sich reklamiert, die authentische Stimme eines homogen gedachten
Volkes zu sein, die sich gegen die abgehobenen und selbstherrlichen Eliten
erhebt. Daraus resultiert das skeptische bis ablehnende Verhältnis solcher
politischen Formationen zu allen intermediären Instanzen der Gesellschaft.
Dazu zählen sie auch redaktionell geführte Medien, deren Auswahl und
Orientierungsabsichten sie als per se manipulativ, gesteuert, selbstbezogen,
als elitär und korrupt oder schlicht als „Fake News“ denunzieren. Donald
Trump geht sogar soweit, die von ihm als „Fake News“ bezeichneten
traditionellen Medien, wie die TV-Sender CNN oder die Traditionszeitung New
York Times als „Feinde des Volkes“ zu bezeichnen. Soweit geht die AfD in
Deutschland nicht, spricht aber von der „Lügen-“ oder „Lückenpresse“ und
„Staatsfunk“. Insbesondere das gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche
Rundfunksystem ist ihr ein Dorn im Auge. So versah die Fraktionsvorsitzende
Alice Weidel die Idee der AfD, einen eigenen Newsroom ihrer
Bundestagsfraktion einzurichten mit dem eingängigen Spruch, die Menschen
sollten in Zukunft eben „AfD statt ARD“ sehen. Der Skepsis und Ablehnung
gegenüber dem Prinzip Redaktion setzt die AfD ein eigenes mediales Umfeld
entgegen, das de facto der Eigen-Propaganda dient, aber gerne als
alternatives journalistisches Angebot ausgegeben wird.
Welche Effekte, die den „neuen Medien“ inhärent sind, macht sich nun die AfD
besonders zu Nutze? Es gibt das Bonmot von Marshall McLuhan: „Das Medium ist
die Botschaft.“ Es war vielleicht nie ganz richtig, verwies aber darauf,
dass es nie eine völlige Unabhängigkeit der medial vermittelten Inhalte von
den Medien, durch die sie vermittelt wurden, gegeben hat. Heute – im
Zeitalter von „social media“ kann man das McLuhan-Wort abwandeln zur
Aussage: „Das Medium radikalisiert die Botschaft“.
Dies gilt insbesondere für Twitter. Gegenüber Facebook und Google ist
Twitter zwar ein ökonomischer Zwerg, die Twitter-Kommunikation ist aber
kurz, knapp und schnell, emotional, persönlich und preiswert. Twitter zwingt
zu pointierter Sprache, was im besten Fall zu einem Wettbewerb an
Originalität führt, aber es auch zum idealen Medium für digitale Wutbürger
macht. Typisch sind Feststellungen, Aussagesätze und Bekenntnisse. Twitter
ist nicht angelegt auf Dialog und Austausch, basiert nicht auf der
Kulturtechnik der allmählichen Verfertigung der Gedanken, sondern fördert
das schroffe Gegeneinander von Positionen, eine hemmungslose Sprache und die
Eskalation von Konflikten. Hier kann man fluchen, beleidigen und schimpfen –
und immer schon sofort ganz genau Bescheid wissen. Am 7. April 2018 meldete
die erste Nachrichtenagentur um 16 Uhr 39, dass in Münster ein Fahrzeug in
eine Menschenmenge gefahren sei. Nur 13 Minuten später schrieb die
AfD-Politikerin Beatrix von Storch auf Twitter zu dieser Meldung den Satz:
„Wir schaffen das!“, versehen mit einem fluchenden Emoji mit rotem Kopf. Der
Rückzug in die sofort und lauthals verkündete Selbstbestätigung ist die
dunkle Seite der Vernetzung.
Noch wissen wir nicht genau, was die Signaturen des Neuen sind, wie sehr das
Internet, dieses Hypermedium, das alle anderen Medien zu verschlucken
scheint, unser Denken und kommunikatives Handeln verändern wird. Aber klar
ist, dass es traditionelle „gatekeeper“ entautorisiert, traditionelle
Machtgefüge durch eine Fülle „neuer Persuasionstechniken“ (Neuberger 2018)
erschüttert und die institutionelle Ordnung der öffentlichen Kommunikation
in Frage stellt. Die Piraten haben unter anderen daraus sehr optimistisch
auf das Demokratisierungspotential der Internet-Kommunikation geschaut. Und
in der Tat werden ja die Räume der Kommunikation potenziell immer größer.
Nur führt das auch sofort zur Gegenbewegung, dass das „Wir“ der Sich-Austauschenden immer enger wird. „Weltkurzsichtigkeit“, so nannte
Miriam Meckel die Kehrseite der universellen Vernetzung. Auch Kleinstgruppen
mit hochspezialisierten Hobbys, ausgefallenen Krankheiten oder besonderen
Bedürfnissen können sich mittlerweile finden und austauschen, die Vernetzung
lockt ihre User aber auch immer wieder hinein in einen Tunnel, in dem er nur
noch sieht, was dem eigenen Koordinatensystem entspricht. Sascha Lobo hat in
seinem Vortrag auf der re:publica 2018 von einem „sehr verführerischen
Angebot“ gesprochen, das das Netz für „anfällige Menschen“ bereithalte: „Wir
lösen Deine Probleme durch Abschottung von Andersartigkeit.“ (Lobo 2018)
Durch eigene Aktivität, durch seine likes und shares, fühlt sich der User
meist positiv gestimmt. Zu genre aber sucht und findet er nur jene Gruppen
und Informationen, durch die er sich selbst bestätigt sieht.
Da alle Dokumente und Daten digitalisiert vorliegen, kann mit ihnen etwas
geschehen, das früher nur mit größtem Aufwand möglich war. Sie sind
gewissermaßen leicht und luftig, beweglich und bearbeitbar geworden. Sie
lassen sich zerlegen in Bruchstücke, entbündeln, auf Atome fokussieren und
remixen. Neuberger nennt dies den „Kollaps der Kontexte“ (Neuberger 2018:
36); Pörksen eine permanente „Entkontextualisierung der Inhalte“ (Pörksen
2018: 140) und führt aus, dass die Plattformen gerade darauf angelegt
sind, radikal den Individualerfolg von Informationspartikeln zu fördern, die
alarmierend sind und höchste Aufmerksamkeit erregen.
Diesen Netzwerk-Effekt macht sich die AfD immer wieder zu Nutze. Man zerlegt
jedes Dokument in Informationsbröckchen und belegt es vorab mit einer
Bewertung. „Alice Weidel (AfD) klärt die dummen Hühner von Rot-Grün über die
Sharia auf“ - das ist dann zum Beispiel der Titel eines kurzes
Youtube-Stückes, das einen Mini-Ausschnitt aus einer Talkshow zeigt. Eine
Erwiderung, Gegenargumente oder ein verbaler Austausch kommen natürlich
nicht vor. Genauso hält es die AfD mit ihrer Darstellung der
Bundestagsdebatten. Es sind Propaganda-Schnipsel ohne Kontext, die nur auf
Bestätigung abzielen.
Schlimmer noch und auch immer wieder angewendet wird das Mittel bewusster
Falschinformation, die letztlich immer nur Ressentiments aktiviert. Ein
Beispiel dafür ist die frei erfundene Meldung, dass Claudia Roth ein
Alkoholverbot für die Zeit des Ramadan gefordert habe. Danach schwappen dann
zuverlässig Erregungswellen durch das Internet und Dementis kommen gar nicht
so schnell hinterher, wie sich solche Fälschungen verbreiten.
Das ist das mediale Zuhause der AfD. Darin hat sich die Partei zugleich
wohlig und hochgradig aktiv eingerichtet. Als Alternative zu redaktionell
geführten Medien nutzt die AfD die Schattenseiten des Netzes als Emotions-
und Erregungsmaschinerie. Darum wurden nicht die anarchistischen Utopisten
der Piraten, sondern die nationalistischen Populisten der AfD zur ersten
Partei des Internet.
Gefördert wird von ihren schnellen „Influencern“ ein Sofortismus der
Meinungsbildung. Bedient wird eine Gier nach Bestätigung der bereits
vorhandenen Vorurteile mittels einer permanenten Entkontextualisierung von
Inhalten. Das schafft Scheinriesen und verzerrt Relevanz. So entsteht eine
Struktur von wütender Kommunikation, die mit der Idee einer politisch
informierten Öffentlichkeit nichts mehr gemein hat. Denn diese setzt auf
Argumente, auf deren zivilen Austausch und die positive Filtersouveränität
des freien Bürgers.
Literatur
Gäbler, Bernd (2018): AfD und Medien. Studie der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt a. M.
Zu den Piraten:
Bieber, Christoph; Leggewie, Claus (Hrsg.) (2012): Unter Piraten. Erkundungen in
einer neuen politischen Arena. Bielefeld: Transkript.
Blumberg, Fabian (2010): Partei der „digital natives“? Eine Analyse der
Genese und Etablierungschancen der Piratenpartei. Berlin:
Konrad-Adenauer-Stiftung.
Neumann,
Tobias (2011): Die Piratenpartei Deutschland. Entwicklung und
Selbstverständnis. Berlin: Contumax.
Niedermayer,
Oskar (Hrsg.) (2013): Die Piratenpartei. Wiesbaden: Springer.
Wagner,
Marie Katharina (2012): Die Piraten. Von einem Lebensgefühl zum Machtfaktor.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Zum Populismus:
Decker, Frank (Hrg.) (2006): Populismus, Gefahr für die Demokratie oder nützliches
Korrektiv. Wiesbaden:
Priester, Karin (2007): Populismus, Historische und aktuelle Erscheinungsformen.
Frankfurt a. M.:
Mudde, Cas; Kaltwasser, Cristóbal Rovira (XXX): Populism. A very short
Introduction. Oxford:
Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Berlin:
Zum Internet:
Lobo, Sascha (2018): Pop und Anti-Pop. Vortrag auf der re:publica.
Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. München:
Neuberger, Christoph (2018): Entfesselte Kontext. In: Kursbuch 195, September,
S. 31 – 52
Zuboff,
Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a.
M./New York: Campus.
Morozov,
Evgeny (2013): Smarte neue Welt, Digitale Technik und die Freiheit des
Menschen. Ort: Blessing.
Zu den von Frank Schirrmacher initiierten Diskursen vgl. Augstein, Jakob (Hrsg.)
(2017): Reclaim Autonomy. Selbstermächtigung in der digitalen Weltordnung.
Berlin: Suhrkamp. |
Der Autor
Prof. Bernd Gäbler lehrt in Bielefeld Journalistik und Kommunikations-wissenschaft;
arbeitete früher in vielen Fernsehredaktionen und war von 2001 bis 2005
Leiter des Adolf Grimme Instituts in Marl. Seine aktuelle Studie für die
Otto Brenner-Stiftung:
AfD
und Medien. Erfahrungen und Lehren für die Praxis. |