Die Wahl Donald Trumps zum
US-Präsidenten, das britische Votum zum EU-Ausstieg, der Einzug der AfD in
den Bundestag – diese und einige andere Ereignisse haben hierzulande und
weltweit für Aufruhr gesorgt. Populistische Parteien, Bewegungen und
Wortführer gewinnen an Zulauf und erobern die Parlamente – nicht nur in den
USA, sondern auch in Europa. Der Ton hat sich verschärft, sowohl in
parlamentarischen Debatten, als auch „auf der Straße“ – was mittlerweile
auch heißt: in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke. Persönliche
Anfeindungen und Beleidigungen, an Rufmord grenzende Verleumdungen und
Drohungen bilden das „Hate Speech“-Instrumentarium, das sich Politiker wie
Bürger gleichermaßen zulegen, um in den hitzigen Debatten die Oberhand zu
gewinnen. Frei erfundene Falschmeldungen, so genannte Fake News, und
Falschinformationen aller Art kursieren viral durchs Netz, mal rasend
schnell und grell aufblitzend, mal zäh und unterschwellig. Politische
Diskurse kristallisieren sich zunehmend um Wahrheitsfragen und werden durch
den fundamentalen Vorwurf der Lüge beziehungsweise der Unwahrhaftigkeit
sabotiert. Mit markigen Sprüchen wie „Lügenpresse, halt die Fresse!“
skandierten sich die PEGIDA-Demonstranten in die Herzen der AfD-Wähler, die
eigentlich allen Medien misstrauen, außer dem Internet und seinen von „Social
Bots“ durchsetzten sozialen Netzwerken. Dabei ist der „Lügenpresse“-Vorwurf,
wie der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger feststellt,
angesichts der Digitalisierung „eigentümlich aus der Zeit gefallen“
(Neuberger 2018: 43),
schließlich hat der Journalismus bereits vor Jahren seine mächtige Gatekeeper-Position eingebüßt, und jedem steht es frei, sich im Internet
nach Belieben zu informieren und zu äußern. Aber egal! Denn wie der
twitternde „@realDonaldTrump“ unliebsamen Kritikern den Bannspruch „FAKE
NEWS!“ in lautstarken Großbuchstaben entgegenschleudert, hat mittlerweile
ohnehin Kultstatus erreicht. Dass Trump dabei als Karikatur seiner selbst
erscheint, als Realsatire, ist keineswegs bloß unfreiwillige Komik. Gerade
als personifizierte Fake News, die nicht wahr sein muss, um wirklich zu
sein, hat er eine ungeahnte personale Wirksamkeit entfaltet. Die angstvolle
Rede von einer „postfaktischen Gesellschaft“ ist daher verständlich, doch
wohl übertrieben. Eine Zunahme zumindest von postfaktischer Kommunikation
innerhalb der Gesellschaft, wie auch immer man diese beschreiben will, ist
allerdings unübersehbar. Die Unterscheidung von Fake News als mediales
Phänomen einerseits und als rhetorisches Stilmittel andererseits mag zwar
für empirische Studien sinnvoll sein, verstellt jedoch den Blick auf den
Zusammenhang, der zwischen den beiden Formen in der Entwicklung von
postfaktischen Kommunikationsstrategien besteht.
Politische Kommunikation ist strategisch und als solche persuasiv. Insofern
ist der Wahrheitsbezug politischer Kommunikation selektiv; sie neigt zur
„halben Wahrheit“. Das ist nicht neu, und es ist unter den Bedingungen eines
freien, demokratischen Meinungsbildungsprozesses auch nicht weiter schlimm.
Problematisch wird es vielmehr dann, wenn der Wahrheitsbezug politischer
Kommunikation total wird, in dem Sinne, dass die Wahrheit ausschließlich für
die eigenen Aussagen beansprucht wird und alle anderen, gegensätzlichen
Aussagen als falsch bezeichnet werden, mehr noch: als Lüge, also absichtlich
gelogen. Postfaktische Kommunikation ist nicht etwa deswegen postfaktisch,
weil sie die Bedeutung von Fakten oder wissenschaftlichen Erkenntnissen
prinzipiell in Frage stellen würde. Schließlich unterstreicht ja gerade der
Vorwurf der Lüge die Zentralität des Wahrheitsbegriffs – oder doch zumindest
der Wahrhaftigkeit der Sprecher. Kommunikation ist dann postfaktisch, wenn
der Vorwurf der Lüge, also der absichtlichen, unlauteren Falschinformation,
das Ziel verfolgt, Wahrheit der Wirklichkeit von Macht unterzuordnen – und
zu diesem Zweck auch vor der Verbreitung von Falschinformationen nicht
zurückschreckt. Wahrheit wird dann, so warnt Peter Strohschneider, der
Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, „zu einer Funktion von
Macht“ (Strohschneider 2018: 2). In der postfaktischen Kommunikation geht es also gar nicht so sehr
um die Wahrheit, sondern vor allem um den Ausbau der eigenen
Handlungsspielräume. „Als wahr soll nun gelten, was die Machtposition des
populistischen Sprechers stützt. Alles weitere sei Lüge“ (Strohschneider:
ebd.). Postfaktische
Kommunikation führt auf diese Weise zu einem „Kulturkampf um die Sagbarkeit
von Sätzen“ (Nassehi 2017: 43), wie es der Soziologe Armin Nassehi ausgedrückt hat. Diese
Sagbarkeit von Sätzen entscheidet sich nicht über ihren Wahrheitsgehalt,
sondern über ihre Performanz. Performative Sprache verwirklicht das
Gesprochene unmittelbar. Der Lügen-Vorwurf „Fake News!“ trägt ja nichts zur
Aufklärung bei, sondern soll als Performativum wirksam werden; „der
Sprechakt wird zum Garant der Wahrheit selbst, und alles andere zur
potenziellen Lüge“ (Nassehi 2017: 47). Die Grenzen zwischen Wahrheit, Wirklichkeit und Macht
werden unscharf. Wenn Machtansprüche als Wahrheitsansprüche deklariert
werden, büßen die Fakten ihre eigentliche Wirkmacht ein. Infolgedessen
drohen politische Diskurse an einer willkürlichen, aber höchst strategischen
„Fake“-Rhetorik zu scheitern. Postfaktische Kommunikation kann dabei
durchaus Wahres enthalten. Postfaktische Reden ziehen ihre besondere
Wirkmacht aber nicht aus dieser Faktizität, sondern aus der „zunächst immun
erscheinenden Wahrhaftigkeitsattitüde“ (Nassehi 2017: 44) des Sprechers, der nach der Macht
greift.
Dies geht vor allem zulasten der Wissenschaft. Dort, wo wissenschaftliche
Expertise einst disziplinierend auf überschießende politische Debatten
einwirken konnte, gerät sie nun zunehmend selbst in den Sog instabiler
Machtverhältnisse. Es kommt zu einer Überstrapazierung von
Wahrheitsansprüchen im Rahmen von Machtkonflikten, in denen die
gesellschaftlichen Akteure versuchen, die Wahrheit für die Durchsetzung
ihrer eigenen Geltungsansprüche zu instrumentalisieren. Anstatt um einen
Konsens zu ringen, zielt postfaktische Kommunikation darauf ab, den Diskurs
zu polarisieren und die Gegenrede mit Verweis auf Fakten zu diskreditieren.
So zeigt etwa die hitzige Debatte über Impfskeptizismus und -verweigerung,
dass es bezeichnenderweise gerade Falschinformationen aus der Wissenschaft
sind, die sich besonders hartnäckig im öffentlichen Diskurs halten. Die
öffentliche Anerkennung wissenschaftlicher Wahrheit (bzw. wissenschaftlichen
Irrtums) in politischen Diskursen wird für die Wissenschaft zum Bumerang.
Denn der Umstand, dass selbst wissenschaftliche Erkenntnis nicht völlig
losgelöst von normativen Argumenten möglich ist, dass auch wissenschaftliche
Forschung nicht frei von politischen und wirtschaftlichen Interessen ist,
dass schließlich auch wissenschaftliche Erkenntnisse unter dem Vorbehalt der
Vorläufigkeit und Unsicherheit stehen, macht den Anspruch der Wissenschaft
auf Faktizität angreifbar und nährt die allgemeine Skepsis gegenüber
Wahrheitsansprüchen. Die Wissenschaft kann zwar versuchen, sich aus dieser
Geiselhaft der öffentlichen Empörung zu befreien, und zwar durch ein
radikales Bekenntnis zur Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Forschung
und Lehre. Gerade dieser Anspruch auf bloße, „reine“ Faktizität ist es
jedoch, die eine Instrumentalisierung von wissenschaftlichem Wissen in Wert-
und Machtkonflikten letztlich so ungemein leicht macht. Wer sich auf
wissenschaftliche Fakten beruft, kann darauf hoffen, die eigene normative
Position nicht mehr rechtfertigen zu müssen.
Deshalb stellt es auch keine Lösung des Problems dar, umgekehrt Macht an
wissenschaftliche Wahrheit zu binden, Macht also aus der Faktizität
wissenschaftlichen Wissens heraus zu legitimieren, nach dem Motto:
„Wissenschaftler an die Macht!“ Die Unabhängigkeit der Wissenschaft ist
keine Einbahnstraße, sondern schließt auch Enthaltsamkeit in Bezug auf die
Durchsetzung eigener Interessen ein. Auch wenn es Klimaforscher in den
Wahnsinn treibt, mit ansehen zu müssen, wie die Amtsträger der
Industrienationen ein Klimaabkommen nach dem anderen in den Wind schießen:
Die Klimaforschung kann nur versuchen, die Faktizität ihres Wissens durch
einen klaren Bezug zur Lebenswelt zu verdeutlichen und zu zeigen, dass der
Klimawandel „wirklich wahr“ ist. Das ist sicher auch eine Aufgabe der
professionellen Wissenschaftskommunikation, die sich an diesem
lebensweltlichen Bezug messen lassen muss. Vertrauen in Wissenschaft wird
gestärkt, wenn klar wird: Die Faktizität des wissenschaftlichen Wissens
konkurriert nicht mit den (zugegeben manchmal naiven) Gewissheiten des
Alltags, sondern Wissenschaft setzt genau dort an, „im lebensweltlichen
Orientierungswissen“ (Nida-Rümelin 2006: 94). Jenseits von Populismus und Szientismus müssen
Politik und Wissenschaft diesen Bezug zur unverfügbaren und identischen
Lebenswelt voneinander einfordern. Hierzu braucht es Regeln, die verhindern,
dass öffentliche Diskurse durch postfaktische, emotionalisierende,
polarisierende Kommunikation korrumpiert werden. Für die Politik bedeutet
dies unter anderem, dass versucht werden muss, zwischen Wahrheitsanspruch
und normativem Geltungsanspruch zu trennen, also Fakten und Meinungen zu
unterscheiden. Denn erst die Unterscheidung von Faktum und Meinung
ermöglicht die diskursive Identifikation der „Wahrheit in den Meinungen“
(Zehnpfennig 2017: 66).
Meinungen spiegeln zwar vor allem Werte, Überzeugungen und Interessen wider;
sie besitzen aber auch einen argumentativen Kern, der begründungsfähig und
darum kritisierbar ist. Dieser besteht darin, dass Meinungen sich auf die
gemeinsam geteilte Lebenswelt beziehen, auf konkrete Sachverhalte und
Handlungen. In dieser Hinsicht können Meinungen – im Lichte
wissenschaftlicher Fakten – durchaus unwahr oder wahr sein.
Literatur
Nassehi, Armin (2017): Po:Pu:LIs:Mus. Fünf Motive über das Lügen. In:
Nassehi, Armin; Felixberger, Peter (Hrsg.): Kursbuch 189: Lauter Lügen.
Murmann: 38-52.
Neuberger, Christoph (2018): Entfesselte Kontexte. Status und Konsequenz
digitaler Öffentlichkeit. In: Nassehi, Armin; Felixberger, Peter (Hrsg.):
Kursbuch 195, #realitycheck_medien. Murmann: 31-69.
Nida-Rümelin, Julian (2006): Demokratie und Wahrheit. C. H. Beck.
Strohschneider, Peter (2018): Wahrheit und Macht. Populistische und
szientokratische Kurzschlüsse. In: Blamberger, Günter; Freimuth, Axel; Strohschneider, Peter (Hrsg.): Vom Umgang mit Fakten. Antworten aus Natur-,
Sozial- und Geisteswissenschaften. Wilhelm Fink: 1-10.
Zehnpfennig, Barbara (2017): Keine Lüge ohne Wahrheit. Zur Legitimität der
politischen Lüge. In: Nassehi, Armin; Felixberger, Peter (Hrsg.): Kursbuch
189: Lauter Lügen. Murmann: S. 53-67. |
Die Autorin
Dr.
Julia Serong ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Institut für
Kommunikations-wissenschaft und Medienforschung der
Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2017 ist sie Koordinatorin der
Ad-hoc-Arbeitsgruppe „Faktizität
der Welt“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Im
Rahmen dieses Projektes befasst sie sich mit publizistischer Qualität,
Wahrheit und Wissen in der digitalen Öffentlichkeit. Außerdem leitet sie
Forschungsprojekte zu Medizinjournalismus und Gesundheitskommunikation am
Lehrstuhl
Wissenschafts-journalismus der Technischen Universität Dortmund. |