Ausgabe 60
Jubiläumsausgabe
Kommunikation in den Zeiten
des digitalen Kulturwandels





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Editorial
Fake News als Symptom
postfaktischer Politik

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Die Wahrheit, die wir meinen

Text: Julia Serong    Bild: Pixabay (CC0)

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Über Neue Gegenwart
Presse

 

 

Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, das britische Votum zum EU-Ausstieg, der Einzug der AfD in den Bundestag – diese und einige andere Ereignisse haben hierzulande und weltweit für Aufruhr gesorgt. Populistische Parteien, Bewegungen und Wortführer gewinnen an Zulauf und erobern die Parlamente – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Der Ton hat sich verschärft, sowohl in parlamentarischen Debatten, als auch „auf der Straße“ – was mittlerweile auch heißt: in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke. Persönliche Anfeindungen und Beleidigungen, an Rufmord grenzende Verleumdungen und Drohungen bilden das „Hate Speech“-Instrumentarium, das sich Politiker wie Bürger gleichermaßen zulegen, um in den hitzigen Debatten die Oberhand zu gewinnen. Frei erfundene Falschmeldungen, so genannte Fake News, und Falschinformationen aller Art kursieren viral durchs Netz, mal rasend schnell und grell aufblitzend, mal zäh und unterschwellig. Politische Diskurse kristallisieren sich zunehmend um Wahrheitsfragen und werden durch den fundamentalen Vorwurf der Lüge beziehungsweise der Unwahrhaftigkeit sabotiert. Mit markigen Sprüchen wie „Lügenpresse, halt die Fresse!“ skandierten sich die PEGIDA-Demonstranten in die Herzen der AfD-Wähler, die eigentlich allen Medien misstrauen, außer dem Internet und seinen von „Social Bots“ durchsetzten sozialen Netzwerken. Dabei ist der „Lügenpresse“-Vorwurf, wie der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger feststellt, angesichts der Digitalisierung „eigentümlich aus der Zeit gefallen“ (Neuberger 2018: 43), schließlich hat der Journalismus bereits vor Jahren seine mächtige Gatekeeper-Position eingebüßt, und jedem steht es frei, sich im Internet nach Belieben zu informieren und zu äußern. Aber egal! Denn wie der twitternde „@realDonaldTrump“ unliebsamen Kritikern den Bannspruch „FAKE NEWS!“ in lautstarken Großbuchstaben entgegenschleudert, hat mittlerweile ohnehin Kultstatus erreicht. Dass Trump dabei als Karikatur seiner selbst erscheint, als Realsatire, ist keineswegs bloß unfreiwillige Komik. Gerade als personifizierte Fake News, die nicht wahr sein muss, um wirklich zu sein, hat er eine ungeahnte personale Wirksamkeit entfaltet. Die angstvolle Rede von einer „postfaktischen Gesellschaft“ ist daher verständlich, doch wohl übertrieben. Eine Zunahme zumindest von postfaktischer Kommunikation innerhalb der Gesellschaft, wie auch immer man diese beschreiben will, ist allerdings unübersehbar. Die Unterscheidung von Fake News als mediales Phänomen einerseits und als rhetorisches Stilmittel andererseits mag zwar für empirische Studien sinnvoll sein, verstellt jedoch den Blick auf den Zusammenhang, der zwischen den beiden Formen in der Entwicklung von postfaktischen Kommunikationsstrategien besteht.

Politische Kommunikation ist strategisch und als solche persuasiv. Insofern ist der Wahrheitsbezug politischer Kommunikation selektiv; sie neigt zur „halben Wahrheit“. Das ist nicht neu, und es ist unter den Bedingungen eines freien, demokratischen Meinungsbildungsprozesses auch nicht weiter schlimm. Problematisch wird es vielmehr dann, wenn der Wahrheitsbezug politischer Kommunikation total wird, in dem Sinne, dass die Wahrheit ausschließlich für die eigenen Aussagen beansprucht wird und alle anderen, gegensätzlichen Aussagen als falsch bezeichnet werden, mehr noch: als Lüge, also absichtlich gelogen. Postfaktische Kommunikation ist nicht etwa deswegen postfaktisch, weil sie die Bedeutung von Fakten oder wissenschaftlichen Erkenntnissen prinzipiell in Frage stellen würde. Schließlich unterstreicht ja gerade der Vorwurf der Lüge die Zentralität des Wahrheitsbegriffs – oder doch zumindest der Wahrhaftigkeit der Sprecher. Kommunikation ist dann postfaktisch, wenn der Vorwurf der Lüge, also der absichtlichen, unlauteren Falschinformation, das Ziel verfolgt, Wahrheit der Wirklichkeit von Macht unterzuordnen – und zu diesem Zweck auch vor der Verbreitung von Falschinformationen nicht zurückschreckt. Wahrheit wird dann, so warnt Peter Strohschneider, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, „zu einer Funktion von Macht“ (Strohschneider 2018: 2). In der postfaktischen Kommunikation geht es also gar nicht so sehr um die Wahrheit, sondern vor allem um den Ausbau der eigenen Handlungsspielräume. „Als wahr soll nun gelten, was die Machtposition des populistischen Sprechers stützt. Alles weitere sei Lüge“ (Strohschneider: ebd.). Postfaktische Kommunikation führt auf diese Weise zu einem „Kulturkampf um die Sagbarkeit von Sätzen“ (Nassehi 2017: 43), wie es der Soziologe Armin Nassehi ausgedrückt hat. Diese Sagbarkeit von Sätzen entscheidet sich nicht über ihren Wahrheitsgehalt, sondern über ihre Performanz. Performative Sprache verwirklicht das Gesprochene unmittelbar. Der Lügen-Vorwurf „Fake News!“ trägt ja nichts zur Aufklärung bei, sondern soll als Performativum wirksam werden; „der Sprechakt wird zum Garant der Wahrheit selbst, und alles andere zur potenziellen Lüge“ (Nassehi 2017: 47). Die Grenzen zwischen Wahrheit, Wirklichkeit und Macht werden unscharf. Wenn Machtansprüche als Wahrheitsansprüche deklariert werden, büßen die Fakten ihre eigentliche Wirkmacht ein. Infolgedessen drohen politische Diskurse an einer willkürlichen, aber höchst strategischen „Fake“-Rhetorik zu scheitern. Postfaktische Kommunikation kann dabei durchaus Wahres enthalten. Postfaktische Reden ziehen ihre besondere Wirkmacht aber nicht aus dieser Faktizität, sondern aus der „zunächst immun erscheinenden Wahrhaftigkeitsattitüde“ (Nassehi 2017: 44) des Sprechers, der nach der Macht greift.

Dies geht vor allem zulasten der Wissenschaft. Dort, wo wissenschaftliche Expertise einst disziplinierend auf überschießende politische Debatten einwirken konnte, gerät sie nun zunehmend selbst in den Sog instabiler Machtverhältnisse. Es kommt zu einer Überstrapazierung von Wahrheitsansprüchen im Rahmen von Machtkonflikten, in denen die gesellschaftlichen Akteure versuchen, die Wahrheit für die Durchsetzung ihrer eigenen Geltungsansprüche zu instrumentalisieren. Anstatt um einen Konsens zu ringen, zielt postfaktische Kommunikation darauf ab, den Diskurs zu polarisieren und die Gegenrede mit Verweis auf Fakten zu diskreditieren. So zeigt etwa die hitzige Debatte über Impfskeptizismus und -verweigerung, dass es bezeichnenderweise gerade Falschinformationen aus der Wissenschaft sind, die sich besonders hartnäckig im öffentlichen Diskurs halten. Die öffentliche Anerkennung wissenschaftlicher Wahrheit (bzw. wissenschaftlichen Irrtums) in politischen Diskursen wird für die Wissenschaft zum Bumerang. Denn der Umstand, dass selbst wissenschaftliche Erkenntnis nicht völlig losgelöst von normativen Argumenten möglich ist, dass auch wissenschaftliche Forschung nicht frei von politischen und wirtschaftlichen Interessen ist, dass schließlich auch wissenschaftliche Erkenntnisse unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit und Unsicherheit stehen, macht den Anspruch der Wissenschaft auf Faktizität angreifbar und nährt die allgemeine Skepsis gegenüber Wahrheitsansprüchen. Die Wissenschaft kann zwar versuchen, sich aus dieser Geiselhaft der öffentlichen Empörung zu befreien, und zwar durch ein radikales Bekenntnis zur Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre. Gerade dieser Anspruch auf bloße, „reine“ Faktizität ist es jedoch, die eine Instrumentalisierung von wissenschaftlichem Wissen in Wert- und Machtkonflikten letztlich so ungemein leicht macht. Wer sich auf wissenschaftliche Fakten beruft, kann darauf hoffen, die eigene normative Position nicht mehr rechtfertigen zu müssen.

Deshalb stellt es auch keine Lösung des Problems dar, umgekehrt Macht an wissenschaftliche Wahrheit zu binden, Macht also aus der Faktizität wissenschaftlichen Wissens heraus zu legitimieren, nach dem Motto: „Wissenschaftler an die Macht!“ Die Unabhängigkeit der Wissenschaft ist keine Einbahnstraße, sondern schließt auch Enthaltsamkeit in Bezug auf die Durchsetzung eigener Interessen ein. Auch wenn es Klimaforscher in den Wahnsinn treibt, mit ansehen zu müssen, wie die Amtsträger der Industrienationen ein Klimaabkommen nach dem anderen in den Wind schießen: Die Klimaforschung kann nur versuchen, die Faktizität ihres Wissens durch einen klaren Bezug zur Lebenswelt zu verdeutlichen und zu zeigen, dass der Klimawandel „wirklich wahr“ ist. Das ist sicher auch eine Aufgabe der professionellen Wissenschaftskommunikation, die sich an diesem lebensweltlichen Bezug messen lassen muss. Vertrauen in Wissenschaft wird gestärkt, wenn klar wird: Die Faktizität des wissenschaftlichen Wissens konkurriert nicht mit den (zugegeben manchmal naiven) Gewissheiten des Alltags, sondern Wissenschaft setzt genau dort an, „im lebensweltlichen Orientierungswissen“ (Nida-Rümelin 2006: 94). Jenseits von Populismus und Szientismus müssen Politik und Wissenschaft diesen Bezug zur unverfügbaren und identischen Lebenswelt voneinander einfordern. Hierzu braucht es Regeln, die verhindern, dass öffentliche Diskurse durch postfaktische, emotionalisierende, polarisierende Kommunikation korrumpiert werden. Für die Politik bedeutet dies unter anderem, dass versucht werden muss, zwischen Wahrheitsanspruch und normativem Geltungsanspruch zu trennen, also Fakten und Meinungen zu unterscheiden. Denn erst die Unterscheidung von Faktum und Meinung ermöglicht die diskursive Identifikation der „Wahrheit in den Meinungen“ (Zehnpfennig 2017: 66). Meinungen spiegeln zwar vor allem Werte, Überzeugungen und Interessen wider; sie besitzen aber auch einen argumentativen Kern, der begründungsfähig und darum kritisierbar ist. Dieser besteht darin, dass Meinungen sich auf die gemeinsam geteilte Lebenswelt beziehen, auf konkrete Sachverhalte und Handlungen. In dieser Hinsicht können Meinungen – im Lichte wissenschaftlicher Fakten – durchaus unwahr oder wahr sein.





Literatur


Nassehi, Armin (2017): Po:Pu:LIs:Mus. Fünf Motive über das Lügen. In: Nassehi, Armin; Felixberger, Peter (Hrsg.): Kursbuch 189: Lauter Lügen. Murmann: 38-52.

Neuberger, Christoph (2018): Entfesselte Kontexte. Status und Konsequenz digitaler Öffentlichkeit. In: Nassehi, Armin; Felixberger, Peter (Hrsg.): Kursbuch 195, #realitycheck_medien. Murmann: 31-69.

Nida-Rümelin, Julian (2006): Demokratie und Wahrheit. C. H. Beck.

Strohschneider, Peter (2018): Wahrheit und Macht. Populistische und szientokratische Kurzschlüsse. In: Blamberger, Günter; Freimuth, Axel; Strohschneider, Peter (Hrsg.): Vom Umgang mit Fakten. Antworten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Wilhelm Fink: 1-10.

Zehnpfennig, Barbara (2017): Keine Lüge ohne Wahrheit. Zur Legitimität der politischen Lüge. In: Nassehi, Armin; Felixberger, Peter (Hrsg.): Kursbuch 189: Lauter Lügen. Murmann: S. 53-67.

Die Autorin



Dr. Julia Serong ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für  Kommunikations-wissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2017 ist sie Koordinatorin der Ad-hoc-Arbeitsgruppe „Faktizität der Welt“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Im Rahmen dieses Projektes befasst sie sich mit publizistischer Qualität, Wahrheit und Wissen in der digitalen Öffentlichkeit. Außerdem leitet sie Forschungsprojekte zu Medizinjournalismus und Gesundheitskommunikation am Lehrstuhl Wissenschafts-journalismus der Technischen Universität Dortmund.