Kann eine Semesterbroschüre Spiegel für
das Internet der Zeit sein? Ein kurzer, leicht verklärter Blick in die
Vergangenheit.
Ich komme aus einer Bar und es hängt mir in den Haaren: Dieses „Früher“, als
Rauch in den Haaren normal war. Als ich überhaupt nicht darüber nachdachte,
dass es anders sein könnte. Mir der ständige Partyrauch nicht einmal
auffiel. Ähnlich oder vielleicht auch ganz anders ist es mit dem Internet.
Was heute so normal ist, von dem hatte ich früher keinen Schimmer. Ich
begebe mich zurück in das Dickicht dieser frühen Online-Jahre: Herbst 2000,
mein erstes Semester in Münster. Wir waren gerade erst am groß angekündigten
Millennium-Crash vorbeigeschippert, als die Dotcom-Blase platzte. Als frisch
gegründete Digitalmagazine eingestellt wurden und Printauflagen schrumpften,
fing ich an zu studieren. Ausgerechnet Kommunikationswissenschaft.
Privat war „Internet“ das, womit man E-Mails schrieb, per ICQ chattete und
bei Napster Musik runterlud. Ob das irgendwie illegal war: egal. Wichtiger
war die Diskussion mit der Mitbewohnerin, wer jetzt ins Netz darf*.
Schließlich gab es nur eine Leitung und das unweigerliche Geräusch des
Modems. Und an der Uni?
Mein Gefühl sagt: Wir haben uns Gedanken gemacht, was damit passiert. Wir
hatten gute Ideen, aber ganz oft keine Ahnung, was das Netz nur wenig später
bedeuten sollte. Insgesamt kommt es mir beim Blick zurück unwirklich vor:
Interessierte ich mich wirklich für Print-Magazine? Hatten wir weder
Smartphone noch Youtube?
Die 2000er mit Zlatko
Ich brauche eine Erinnerungsstütze auf dem Weg in die Nullerjahre: Die
Semesterbroschüre des Ifk – des
Instituts für Kommunikationswissenschaft
Münster, Wintersemester 2000/2001. Natürlich in Druckform. Auf dem Cover:
Big Brother Zlatko*. Würde man nur diese Semesterbroschüre als Spiegel des
Internets der Zeit nehmen, dann sähe es recht dünn aus. Konkret erwähnt,
finde ich das Internet in drei Veranstaltungen und im Vorwort. Häufiger
schimmern beim Blättern durch das Heftchen Begriffe wie Cross- oder
Multimedia auf, auch die Entdeckung des Reality-TVs erscheint als drängendes
Thema. Fairerweise muss ich sagen: Es sind nur Ankündigungen und kurze
Beschreibungen. Und so glaube ich mich zu erinnern, dass das Internet
überall „ein bisschen“ Thema war. Dass wir bei Kommunikationsmodellen,
Mediensystemen oder -ethik nachhakten, wie sich die Theorien aufs Netz
anwenden lassen. Dass ich in der Ringvorlesung jemanden vom Lycos* lauschte.
Oder dass ein Prof. beschloss, Internetquellen in Hausarbeiten bitte immer
mit Screenshot anzugeben.
Potenziale, Gefahren und die Realität des Internets
So richtig aber erreichte es mich als Uni-Neuling kaum. Hing ich doch als
Erstsemester im sogenannten Orientierungskurs fest und musste (gefühlt)
uralte Theorien von Habermas & Co büffeln. Nur bei Marshall McLuhan blieb
ich hängen. Prophezeite der verrückte Kerl doch bereits in den 60ern das
Internet – zumindest so ähnlich. Ein Medium, dass unser Handeln und Denken
revolutionieren würde. Etwas, das "Ausweitungen unserer Körperorgane und
unseres Nervensystems" sein konnte. In der Semesterbroschüre indessen
tauchen ebenfalls Internetpioniere auf. Zwei von über 30 erwähnten
Magisterabsolventen des Jahres 2000 hatten das Internet zum Thema ihrer
Abschlussarbeiten gemacht - trotz recht dünner Literaturlage zu Themen wie
“Werbung im World Wide Web“ oder den Prognosen über neuen Medien in der
Zeitung.
Alte und neue Probleme
Licht in das Nullerjahre-Dunkel bringt schließlich die damalige
Institutsleiterin Miriam Meckel in der Beschreibung zur Vorlesung
„Globalisierung und Kommunikation“: „Gerade die Netzkommunikation offenbart
enorme Potentiale, birgt aber auch neue Herausforderungen, z.B. in Form
einer digitalen Zweiklassengesellschaft (Digital Divide), einer enormen
Beschleunigung und des damit verbundenen Entscheidungsdrucks. Eine
Informationsgesellschaft ist nicht zwangsläufig eine informierte
Gesellschaft.“
Überraschend fündig werde ich auch im Seminar „Datenbankjournalismus“. Auch
wenn hier nur angedeutet wird, wie sehr die neue Informationsverfügbarkeit
und -produktion sich auf klassische Journalistenrollen auswirken wird.
„Der technisch ungehinderte Zugang zu Informationen, ihre Speicherung,
Verwaltung, Mehrfachverwertung und die unbegrenzt mögliche
Rekombinierbarkeit […] stellen das System Journalismus vor neue
Anforderungen[…]“. Ich grabe also ein wenig tiefer in meinen Kisten mit
altem Uni-Material. Und mit dem damals brandneuen Erstsemester-Standardwerk
„Einführung in die Kommunikationswissenschaft“, wird klar, dass natürlich
schon 2000 die Auflösung von Kommunikator- und Rezipient durch das Netz
aufgefallen war. Und überhaupt: Dass die angesprochenen Probleme und Fragen
im Prinzip die gleichen waren wie heute. Nur dass wir diese heute anders
interpretieren würden.
-
Welche Auswirkungen hat die
Beschleunigung der Kommunikation?
-
Wer übernimmt die Verantwortung in einer
globalisierten Kommunikation?
-
Wie definieren wir Grenzen zwischen
Öffentlichkeit und Privatheit?
-
Wer wägt (wie) ab zwischen Freiheit und
Kontrolle?
-
Und welche Rolle bleibt dem Journalismus
im Netz?
Dass in einem Nachschlagewerk von 1999
unter "Neue Medien" das Internet in einem Atemzug mit der CD-ROM genannt
wird, treibt mir dann doch die Tränen in die Augen. Es macht mir aber auch
klar: Es ist wirklich 18 Jahre her. 2000 ging es erst richtig los. Mehr
Online-Standardwerke wurden veröffentlicht. Das Ifk bekam 2001 mit der
Professur von Christoph Neuberger Verstärkung. Beispielsweise für die bis
heute hartnäckigen Themen aus der Rubrik „Blogger vs. Journalisten vs.
Online-Journalisten vs Der Rest“. Und für mich wurde aus einem ersten
Ebay-Account 2001 bald ein ganzes Seminar über Online-Auktionen.
Was aber in der Tat lange nicht auftauchte, sind zwei Dinge:
-
Die Dimension, die das Netz in
Smartphone-Gestalt entfalten sollte. Davon wussten mein 2000er-Ich und mein
unkaputtbares Nokia 3810 nichts.
-
Social Media: Als gegen Ende meines
Studium immer mehr rote StudiVZ-Bildschirme in den Computerräumen aufpoppten,
hatte ich nicht geahnt, mit welcher Konsequenz Twitter, Facebook, Instagram
Youtube, Whatsapp (+X) einmal zu Social Media mit einer politischen
Dimension verschmelzen sollten.
Bemühe ich erneut das Bild des
Partyrauchens vom Anfang, dann ist dieser Text nur ein Paffen an der
Zigarette. Ein Blick auf einen beliebigen Startpunkt im Jahr 2000, der so
vieles auslässt, zum Beispiel wie Blogs Standard und Online-Nachrichten
schneller wurden. Wie aus „Wow, man kann Bücher online bestellen!“ einfach
„alles online bestellen“ wurde. Wie sich Navigationsprogramme, Gelbe Seiten
und Co in einem „Ok Google, …“ auflösten. Alles einfach so passiert?
Im Jahr 2018 haben Wifi, drei Streaming-Abos, googeln „Digital Detox“ oder
checken konsterniert die letzten Crypto-Kurse. Und auch das ist nur ein
Blinzeln darauf, was das Internet gerade ist und bedeutet.
Heute arbeite ich als Online- und Social-Media-Redakteurin. Auch wenn es
Teil meines Jobs ist, mich mit neuen Entwicklungen zu befassen, zeigt sich
bei meinem Rückblick: Der Fortschritt im Netz ist eng verzahnt mit unserem
alltäglichen Gebrauch, oft hakt er sich ein wie ein lässiger Spaziergänger
und ehe wir uns versehen, sind wir eine verdammt lange Strecke
weitergegangen. Wenn ich jetzt an die Zukunft denke, dann freue ich mich
schon darauf, wie ich diesen Text wiederfinde und denke: „Ach, 2018 – wir
hatten ja keine Ahnung“.
Anhang für nicht Nullerjahre-Versierte
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WG-Streit ums Internet: Ich musste
tatsächlich erst die WayBackMachine von archive.org bemühen, um
herauszufinden, womit ich damals so viel Zeit im Internet verbrachte: Und
komme auf eine Mischung aus E-Mail, Foren oder dem jetzt.de-Tagebuch,
Nachrichten-Seiten, Uni-Bibliothek, Partyfoto-Websites und dem
Moorhuhn-Spiel.
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Zlatko: Zlatko „Sladdi“ Trpkovski gehörte
zu ersten Besetzung des Big Brother Containers. Zusammen mit Jürgen wurde er
kurzeitig zum Reality-TV-Star. Er arbeitet heute wieder als Kfz-Mechaniker.
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Lycos: Die Suchmaschine war ein prähistorischer Konkurrent von Google. Und mit einem unverwechselbaren
Logo ausgestattet, in dem ein Hund vorkam. Der einzige Grund, warum ich mich
heute noch daran erinnere. Lycos Europe existiert in der Form nicht mehr,
sondern firmiert unter anderem Namen.
-
Marshall McLuhan:
Selbst wenn McLuhan das Internet nicht in seiner
Komplexität vorhergesagt hat.
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Die Autorin
Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Kultur, Kommunikation und
Management in Münster und Málaga studiert. Beim Fluter der Bundeszentrale
für politische Bildung volontiert. Arbeitet heute in Köln als Freie
Redakteurin für Social Media, Online und Gedöns. Und das sehr gerne. |