Endlich mal runterkommen
Computerspielen kann erholsam
sein –
eine wenig diskutierte Facette
Text:
Christoph Klimmt
Bild: Photocase.com
Sie machen
aggressiv. Sie lassen Freundschaften verkrüppeln. Sie verursachen Albträume
und rauben unseren Kindern den Schlaf. Sie ruinieren Schulleistungen und
bringen Firmennetzwerke zum Kollabieren. Computerspiele ziehen seit dem
Beginn ihrer massenhaften Ausbreitung gesellschaftlich-sozialpolitische
Vorwürfe an wie ein Magnet. Das kennen wir schon vom Fernsehen, und genau
wie beim Fernsehen hat sich mittlerweile eine Gruppe von Optimisten
formiert, die energisch die positiven Seiten von Computerspielen betonen.
Die Medienkritiker gelten ihnen als einseitig, voreingenommen und in Bezug
auf das, was Spielerinnen und Spieler mit interaktiver Unterhaltung
eigentlich erleben, als weitgehend ahnungslos. Jene Kritiker wiederum
verweisen auf die besorgniserregenden (vermeintlichen) Wandlungen der
Gesellschaft – PISA, Neukölln, Steinhäuser und so fort. Auch wenn empirisch
gesicherte Befunde – mit Ausnahme der Gewaltfrage – weitgehend fehlen,
können sie einfach nicht glauben, dass Computerspiele keinen Anteil am
behaupteten Niedergang der jungen Generationen haben sollen.
Wissenschaftlich gesehen erlebt das Thema Computerspiele derzeit einen
Boom. Immer mehr Zeitschriftenartikel, Bücher, Konferenzen, selbst
Lehrstühle werden den „digitalen Spielen“ gewidmet. Wir werden daher bald in
der Lage sein, zu den gesellschaftspolitischen Vorwürfen und den zahlreichen
anderen wissenschaftlichen Fragestellungen etwas qualifiziertere Aussagen zu
treffen. Schon jetzt können wir absehen, dass die Generalbewertung von
Computerspielen die typische „Es kommt darauf an“-Differenzierung benötigen
wird. Ja, massiver Gebrauch von Ballerspielen fördert die Ausbildung
aggressiver Denk-, Fühl- und Verhaltenstendenzen. Zu behaupten, diese
Erkenntnis sei noch nicht ausreichend abgesichert, geht an der aktuellen
Forschungslage vorbei, wie etwa die Arbeiten von
Barbara Krahé in Potsdam
zeigen. Und ja, Computerspiele können bemerkenswert hilfreich sein. In
Kinderkrankenhäusern zum Beispiel. Oder bei der Therapie der Stresstraumata
von Kriegsveteranen, wie
Skip Rizzo von der University of Southern California zeigt. Die vielen aufgeregten Diskutanten sollten daher endlich
mal runterkommen. Computerspiele haben faszinierende Eigenschaften.
Trivialerweise können sie gesellschaftlich begrüßenswerte wie
besorgniserregende Konsequenzen haben.
Ergo hat die Suche nach den unvermeidlichen Details, in denen der Teufel
steckt, begonnen. Wer ist anfällig für Wirkungen von Gewaltspielen? Wie
funktioniert das ungeheure Faszinationspotenzial von Online-Spielen wie
„World of Warcraft“? Was finden diese vielen männlichen Jugendlichen
tagtäglich in den „Battlefields“ und bei den „Brothers in Arms“? Dieser
Beitrag soll kein Referat zum Forschungsstand bieten. Dazu sei auf ein
aktuelles Sammelwerk verwiesen, das
Peter Vorderer und
Jennings Bryant
kürzlich vorgelegt haben*. Mir geht es vielmehr darum, eine bestimmte,
möglicherweise zentrale und zugleich wenig erörterte Facette der sozialen
Bedeutung von Computerspielen, zu thematisieren.
Computerspielen ist erholsam.
Das Stereotyp vom LAN-Party-Zocker, der gerade von einem 48-Stunden-Match in
der örtlichen Turnhalle heimkehrt und einen ungesunden Eindruck hinterlässt,
widerspricht dieser Behauptung natürlich. Ebenso die Argumente der
Bildungsexperten, die Computerspiele als Diebe von Denkzeit und
Denk-Kapazitäten ausmachen. Vielspieler sind demnach ständig platt und
kränklich. Aus dieser Sicht erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die
hochkonzentrierte, energische, bisweilen fanatische Auseinandersetzung mit
der „künstlichen Intelligenz“ eines Computerspiels Erholung verspricht.
Und doch gibt es viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die durch
Computerspiele nach stressigen Schul- oder Berufstagen endlich mal
runterkommen. Ich kenne junge Krankenhausärzte, für deren Behandlungsfälle
es oftmals richtig eng wird. Aber nicht nur unter so massivem Stress gerät
eine ordentliche Ego-Shooter-Schlacht nach Feierabend zu einem
Wellness-Programm. Denn Erholung bedeutet nicht immer nur Ausruhen.
Gesundheitspsychologen wie
Henning Allmer in Köln haben den
Facettenreichtum von „Erholung“ dokumentiert. „Endlich mal runterkommen“
kann demnach ganz unterschiedliche Qualitäten aufweisen: Eine Beruhigung
adrenalingeladener Überreizung, eine angenehme Aktivierung nach monotonen
Tätigkeiten (wie Vokabellernen), eine Heilung des geschundenen
Selbstbewusstseins nach einer Auseinandersetzung mit (falschen) Freunden,
eine temporäres Ausblenden quälender Alltagssorgen und vieles mehr.
Computerspiele bieten Menschen auf der Suche nach vielen unterschiedlichen
Arten von Erholung interessante Möglichkeiten. Ihre Interaktivität – sonst
meist gescholten als Quelle allen Übels wie intensive Gewaltwirkung, massive
Ablenkung von ernsten Dingen oder Quelle der Spielsucht – ist der Schlüssel
für diese universelle Erholsamkeit. Sie eröffnet den Spielerinnen und
Spielern Freiheitsgrade, die Wahl zwischen bedürfnisgerechten
Erlebensweisen. Gehen sie durch die Vordertür und nehmen es mit allen
Mistkerlen gleichzeitig auf? Schleichen sie ums Haus und erfreuen sich an
der Überraschung, die ihr Hinterhalt bei ihnen auslöst? Bleiben sie in ihrem
Versteck und kosten die Allmacht des Scharfschützen aus? Interaktivität
sorgt für Vielfalt und Wahlmöglichkeiten, und Computerspiele spannen einen
flexiblen Erfahrungsrahmen auf, den sich die Nutzerinnen und Nutzer situativ
(Spiel-Stil) und strukturell (Genre-Wahl) so anpassen können, wie es für ihr
Erholungsbedürfnis (vermeintlich) am günstigsten ist. Das bedeutet natürlich
nicht, dass Computerspielen als neues Allheilmittel für die gestresste junge
Generation bejubelt werden soll – das widerspräche der trivialen
Vorab-Schlussfolgerung von oben. Aber Gesellschaft und Wissenschaft werden
sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Computerspielen vielen Menschen
in vielen Situationen gut tut. Es sorgt für Entspannung,
Selbstwert-Reparatur, Ausblenden von Alltagssorgen, körperlichen Ausgleich,
mentale Herausforderung und viele andere Dinge, die uns Gesundheitsratgeber
empfehlen, damit es uns besser geht. Auch wenn ein Traktat über den Beitrag
von Computerspielen zur Senkung der Gesundheitskosten wohl verfrüht wäre –
Computerspiele helfen dem Individuum, mal runterzukommen. Damit ist nicht
ausgeschlossen, dass die Gesellschaft durch Computerspiele herunterkommt.
Aber bei dem vielen Stress, den wir alle – im Vorschulalter angefangen –
ertragen müssen oder auf uns nehmen, sollte die erholsame Wirkung von
Computerspielen keinesfalls als „Gibt es auch“-Phänomen beiseite geschoben
werden.
* Peter Vorderer und Jennings Bryant (Hrsg.) (2006):
Playing video games:
Motives, responses, consequences.
Mahwah: Lawrence Erlbaum Associates. |
AUSGABE 48
DIE GESELLSCHAFT DER SPIELER
STARTSEITE
EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
DIE ZUKUNFT DES SPIELENS
ENDLICH MAL
RUNTERKOMMEN
SNIPERN, ROTZEN, RAUSROTZEN
INNOVATION UNTER DRUCK
MEIN LEBEN MIT (UND OHNE) DR.
JONES
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