Ausgabe 59
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Bleibt alles anders?
Die Digitalisierung der Wissenschaft



Text: André Donk
Bild: Patrick Hajzler


Das WDR3-Radiofeature „Rundum digital. Wie sich die Wissenschaft in der digitalen Welt eingerichtet hat“ ist sicher: Am Internet als neuem Medium des Wissens und der Wissenschaft führt allein schon wegen seiner enormen Kapazität und Geschwindigkeit von Informationsspeicherung und -distribution kein Weg mehr vorbei. Und eine Gesellschaft, die ihr Wachstum in zunehmendem Maße auf wissenschaftlichen Fortschritt als Produktivkraft baut, kann es sich nicht leisten auf die Gewinne der Digitalisierung der Wissenschaft zu verzichten. Doch wie genau wirkt sich die Digitalisierung auf das Wissenschaftssystem aus – was sind die Kehrseiten dieser Entwicklung?

Spätestens seit Daniel Bells Studie zur postindustriellen Ökonomie (1975) wird die Bedeutung von Wissen und Wissenschaft in den westlichen Gesellschaften diskutiert. Bell nimmt an, dass die Ära der industriellen Produktion sich ihrem Ende entgegenneigt und dies zu massiven Verlagerungen von industrie- zu wissensbasierten Arbeitsplätzen führt. Wissenschaftliches Wissen ist damit zu einer zentralen Produktivkraft und wichtigen ökonomischen Ressource avanciert (Knorr-Cetina 2007: 328). Auch andere gesellschaftliche Funktionsbereiche wie die Politik sind für verlässliche Entscheidungen verstärkt auf wissenschaftliche Beratung und Modelle, Prognosen und Theorien angewiesen (Maasen/Winterhager 2001). Dabei darf die Bedeutung neuer Kommunikations- und Medientechnologien nicht unterschätzt werden: So sind viele mathematisch-physikalische Beweise und Großexperimente nur durch enorm gesteigerte Rechnerkapazitäten denkbar, haben gerade medizinische Forschung, Diagnose und Therapie von Computertechnik und bildgebenden Verfahren profitiert und sind schließlich auch sozialwissenschaftliche Modelle und präzise Auswertungen großer Datenmengen ohne Rechner kaum möglich – ganz zu schweigen von der beschleunigten Recherche und Publikation wissenschaftlicher Erkenntnis (Drenth 2001; Knorr-Cetina 2000; Krull 2001).

Nicht erst durch die ausführliche feuilletonistische Erörterung der psychischen und sozialen Folgen auf Hochgeschwindigkeit beschleunigter Individuen wissen wir, dass das Mehr an kommunizier- und konsumierbarem Wissen auch eine enorme Belastung bedeuten kann. Wer fühlt sich gewappnet, die Trefferzahl immer umfassender und zielgenauerer Suchmaschinen noch zu verarbeiten? Wer das Meer der Online-Publikationen zu überblicken? Und wer der permanenten Erreichbarkeit durch Fachkollegen oder Studenten per E-Mail zu bestehen? Denn wir erleben die Beschleunigung von Information und Kommunikation nicht allein als Rationalitätsgewinn. Aus unserer Alltagserfahrung wissen wir, dass neue, angeblich zeitsparende Technologien oftmals bei der Bedienung, Wartung und bei Störungen noch zusätzliche Zeit kosten. Der Soziologe Hartmut Rosa hat jüngst darauf hingewiesen: Es ist paradox, je mehr Zeit wir zum Beispiel durch die schnelle Online-Suche von Texten sparen, desto weniger haben wir. Beschleunigung führt daher mit Rosa nicht nur zur Schaffung „neuer Handlungsfelder und -möglichkeiten“ (2005: 123), sondern als Nebeneffekt zur Vernichtung von Zeit, da für „deren Nutzung dann zusätzliche Zeitressourcen benötigt werden“ (ebd.).

Sollten wir daher nicht eine verstärkte Skepsis ob der Störanfälligkeit und Fragilität der neuen Technologien walten lassen? Ein hoher Stellenwert von Wissen in einer und für eine Gesellschaft deutet auf ein hohes Maß funktionaler Differenzierung und ein damit verbundenes hohes Maß an gesellschaftlicher Komplexitität hin. Und je höher die gesellschaftliche Komplexität ist, desto störanfälliger ist auch dieses Gefüge (Stehr 2001). So kann auch die Beschleunigung der Wissensproduktion und -distribution ambivalente Effekte zeitigen: Die Halbwertzeit des Wissens wird immer geringer, Wissensbestände immer unübersichtlicher. Es wird immer mehr, immer neues Wissen produziert, das immer schneller veraltet und damit ersetzt werden muss, so dass wieder neues Wissen entsteht. Der Kommunikationswissenschaftler Richard Münch (1991) bezeichnet dieses Phänomen in seinem Werk Dialektik der Kommunikationsgesellschaft als Paradoxie des Rationalismus.

Bislang indes gibt wenig empirische Befunde, die uns Aufschluss über die tatsächlichen positiven wie negativen Auswirkungen neuen Kommunikations- und Medientechnologien innerhalb der Wissenschaft und deren Folge für die Gesellschaft als Ganzes geben könnten. Einzelne Befunde zeigen zum Beispiel, dass Internetplagiarismus unter englischen Studenten durchaus verbreitet ist: Etwa ein Drittel von ihnen hat schon einmal mittels Copy-and-Paste Informationen aus dem Internet in eigene Arbeiten importiert (Underwood/Szabo 2004). Oder dass französische Wissenschaftler eine von vier Arbeitsstunden mit dem Lesen und Beantworten von E-Mails verbringen (Lahlou 2008). Ein umfassendes Bild jedoch steht bis dato aus – integrierende theoretische Perspektiven wie empirische Daten fehlen, auch wenn in Deutschland erste Projekte wie der Forscherverbund „Interactive Science“ daran arbeiten. Die Herausforderung in der Theoriebildung wie der empirischen Untersuchung des Einflusses neuer Kommunikations- und Medientechnologien besteht daher in der Berücksichtigung die technologischen Materialität im Kontext ihrer Nutzung (Barett/Grant/Wailes 2006). Das heißt konkret, dass sowohl die Mediennutzung und die Mediennutzer von neuen Kommunikations- und Medientechnologien in den Blick zu kriegen als auch Technik als Ergebnis menschlichen Handelns zu denken sind. Neue Technologien sind in dieser Perspektive dann auch eine Antwort auf die gesteigerte soziale Komplexität moderner Gesellschaften (Degele 2000; Yzer/Southwell 2008). Erste Ergebnisse eigener Studien zeigen, dass je nach Disziplin und je nach Forschungsgebiet mit einer unterschiedlichen Durchdringung und eben auch unterschiedlichen Nutzen wie Kosten zu rechnen ist. Wie also die Digitalisierung das Wissenschaftssystem tatsächlich verändert, kann zur Zeit noch nicht seriös beantwortet werden?

Eines jedoch ist sicher: Die Durchdringung der Wissenschaft mit digitalen Kommunikationstechnologien hat das Potenzial zu tiefgreifenden Veränderungen – zum guten wie zum schlechten. Es besteht also noch kein Anlass zu Technoeuphorie noch zu Schwarzmalerei, auf die tatsächliche Nutzung und die wahrgenommenen Effekte kommt es an.







Literatur



Barrett, Michael; Grant, David;  Wailes, Nick (2006): ICT and Organizational Change. In: Journal of Applied Behavioral Science, 42. Jg., S. 6-22.

Bell, Daniel (1975): Die nachtindustrielle Gesellschaft. Frankfurt a. M.

Degele, Nina (2000): Informiertes Wissen. Eine Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft. Frankfurt a. M.

Drenth, Pieter J.D. (2001): Die digitale Revolution in den Wissenschaften: ein "mixed blessing". Festvortrag an der Universität Heidelberg, gehalten am 08.12.2001.
Online-Dokument.

Knorr-Cetina, Karin (2000): Die Wissensgesellschaft. In: Pongs, Armin (Hrsg.): In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich, Band 2. München, S. 150-169.

Knorr-Cetina, Karin (2007): Neue Ansätze der Wissenschafts- und Techniksoziologie. In: Schützeichel, Rainer (Hrsg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz, S. 328-342.

Krull, Wilhelm (2001): German universities on the threshold of the twenty-first century. In: Maasen, Sabine/ Winterhager, Matthias (Hrsg.): Science Studies. Probing the dynamics of scientific knowledge. Bielefeld, S. 125-143.

Lahlou, Saadi (2008): Cognitive technologies, social science and the three-layered leopardskin of change. In: Social Science Information, 47. Jg., S. 227-251.

Münch, Richard (1991): Dialektik der Kommunikationsgesellschaft. Frankfurt a.M..

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M..

Stehr, Nico (2001) Moderne Wissensgesellschaften. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B36/2001, S. 7-14.

Szabo, Attila; Underwood, Jean (2004): Cybercheats. Is Information and Communication Technology fuelling academic dishonesty? In: Active Learner in Higher Education, 5. Jg., S. 180-199.

Yzer, Marco C.; Southwall, Brian J. (2008): New Communication Technologies, Old Questions. In: American Behavioral Scientist, 52. Jg., 8-20.



Der Autor




André Donk

André Donk M. A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster und forscht zu den Themen Medien und Erinnerung, Medialisierung der Wissenschaft sowie politische Medienwirkungen. Er war in den Jahren 2007 und 2008 zudem Mitarbeiter im Drittmittelprojekt „Risikowahrnehmung beim Thema Nanotechnologie. Analyse der Medienberichterstattung“ (Bundesinstitut für Risikobewertung) sowie National Research Correspondent für Deutschland (mit Frank Marcinkowski) in dem international vergleichenden Forschungsprojekt "Media and Democracy Monitor" (Swiss National Science Foundation).