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    Google Streetview
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    Über ein Bildlexikon und seinen Alleingeltungs-anspruch 
     
     
    
    
    
    Text: 
    
    
    
    Simon Bieling 
    
    Bild: 
    
    Google Streetview 
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    1927 beschrieb der Künstler László Moholy-Nagy hoffnungsvoll 
    eine Zukunft, in der jeder eine private Pinakothek von Reproduktionen sein 
    eigen nennen können würde. Mit der „Haus-Pinakothek“ sollte die 
    „Vorherrschaft des manuell hergestellten Einzelbildes“ einem endgültigen 
    Ende zugeführt werden. Der „tote Zimmerschmuck“ des singulären Wandbildes 
    sollte mit einer Vielzahl von in Schrankfächern abgelegten Reproduktionen 
    ersetzt werden. Die einfache Verfügbarkeit einer großen Zahl von Bildern 
    hielt er für eine willkommene Zukunftsvision.  
     
    Klobige Bildschränke, wie sie sich Moholy-Nagy wünschte, haben trotz des 
    Werbetalents des Künstlers nie in den Wohnzimmern Einzug erhalten. Nur seine 
    Hoffnung, dass der Vielzahl der Bilder vor dem Einzelbild der Vorzug zu 
    geben und die Verfügbarkeit der Bilder zu erhöhen sei, wurde mit Websites 
    wie YouTube, Flickr, aber auch Google Maps mehr als erfüllt. Dennoch wäre es 
    unpassend gar in den Bildwelten des Internets eine „Haus-Pinakothek“ neueren 
    Datums oder eines universalen musée imaginaire zu sehen. Denn damit näherte 
    man sich nicht nur den reichlich abgegriffenen Metaphern des Internets als 
    eines „virtuellen Raums“ an. Auch würde ein einfaches, aber wesentliches 
    Faktum zu wenig hervorgehoben. Trotz aller Unterschiede ist es den 
    Bildportalen nämlich gemein, dass sie erlauben, Bilder nach Begriffen 
    abzurufen.  
     
    So erfasst es die Merkmale der Bildportale besser, wenn man sie als 
    Bild-Enzyklopädien beschreibt. Websites wie YouTube, Flickr werden 
    schließlich für nichts anderes genutzt als Bilder nachzuschlagen. Sie sind 
    darüber hinaus aber auch deshalb Enzyklopädien, weil die Seiten für nahezu 
    jedes Bildinteresse, das mit einem Begriff eingegeben werden kann, Bilder 
    zur Anzeige bringen können. Die verschiedenen Bildplattformen machen für 
    jeden Begriff, der einen Ort, eine Person, eine Region, ein Restaurant oder 
    ein Produkt bezeichnet, Bilder verfügbar. Vielbändige Buchenzyklopädien 
    entsprechen der Erwartung, gestützt auf Autoritäten einen umfassenden 
    Überblick des existierenden Wissens zu bieten. Von den heute zugänglichen 
    Bildportalen, den Bildlexika des Internets, erhoffen wir uns dagegen zu 
    allen denkbaren Begriffen eine möglichst hohe Bildausbeute. 
     
    Enzyklopädien sind gekennzeichnet durch zwei entgegenläufige Merkmale, die 
    sie jeweils stärker oder schwächer prägen. Einige sind im Arrangement ihrer 
    Inhalte stark als eine umfassende Systematik angelegt. Überwiegt dieser 
    Aspekt versuchen sie für sich einen Autoritätsstatus zu etablieren, indem 
    sie sich als beglaubigende Wissensinstanz in Szene setzen. Andere 
    Enzyklopädien haben hingegen eher die Eigenschaft, einzelne Wissensgebiete 
    so in Nachbarschaft zu stellen, dass durch Vergleichsmöglichkeiten 
    einseitige Privilegien bestimmter Gebiete relativiert werden können. 
    Ähnliches gilt auch für hier als Bildlexika- oder -enzyklopädien 
    bezeichneten Bildportale des Internets. Ein Teil von ihnen, besonders aber 
     
    Google Streetview und Google Maps, organisieren ihre Bildangebote in eine 
    einheitliche Systematik. Andere Formate wie YouTube und Flickr betten 
    dagegen die Bilder eher in vielfache Vergleichshorizonte ein.  
     
    Hinsichtlich der jüngsten Entwicklungen eines ‚mobilen Internets‘ ist vor 
    allem  Google Streetview 
    unter den relevanten visuellen Bildenzyklopädien 
    von besonderem Interesse. Für diese Unterfunktion von Google Maps ist die 
    mobile Verfügbarkeit als Bildenzyklopädie mit besonderen Konsequenzen 
    verbunden. Die Funktion ist letztlich als das Versprechen ausgerichtet, zu 
    jedem Ort, ob Stadt oder Land, ein Bild liefern zu können. Da auf diese per 
    Smartphone oder Mobiltelefon heute bequem an letztlich jedem Ort zugegriffen 
    werden kann, werden Bilder öfter als zuvor in einen unmittelbaren Bezug mit 
    den Gegenständen gesetzt, die sie selbst abbilden. Google Streetview 
    liefert in diesen Fällen nicht nur Abbildungen. Das aufgerufene Bild erzeugt 
    dann auch Erwartungen, mit denen die abgebildeten Gegenstände und Orte in 
    Bezug gesetzt werden. 
     
    Schon heute liegt es schließlich nahe, in bereits ‚erfassten‘ Städten wie 
    London oder New York, etwa jedem Besuch eines Restaurants auf dem Weg noch 
    einen kurzen, prüfenden Blick auf dessen Bildauftritt in Google Streetview 
    vorausgehen zu lassen. Der Abbildung der Fassadenflächen sowie der Straßen 
    und Plätzen, an denen sich ein Restaurant befindet, möchte man entnehmen, 
    wie gut etwa die Atmosphäre des Restaurants oder gar das Essen sein könnte. 
    Ist das Ergebnis der Bildlektüre ansprechend genug, hofft man, dass es den 
    eigenen Erwartungen auch insgesamt entsprechen wird. So entscheidet eine 
    Vorbesichtigung per Bild über den letztendlichen Besuch. 
     
    Die Pointe liegt aber freilich nicht nur darin. Ein Restaurant kann gleich 
    doppelte Bildtauglichkeit und Fotogenität beweisen, wenn  
    Google Streetview 
    zum alltäglichen Bildnachschlagewerk wird: zum einen in der Übersetzung zum 
    Bild, das auf dem Mobiltelefon innerhalb von Google Streetview einer 
    eingehenden Prüfung unterzogen wird und zum anderen aber auch vor Ort, wo 
    den möglicherweise positiven Qualitäten des Bildes auch entsprochen werden 
    muss. Ein prägnanter Schriftzug oder eine besondere Farbgestaltung der 
    Fassade können eingesetzt werden, um dem Bild gerecht zu werden.  
     
    Die Eindrücke, die dem aufgerufenen, nachgeschlagenen Bild entnommen worden 
    sind, bilden einen Erwartungshorizont, der im besten Fall nicht zu 
    enttäuschen ist. Wie stark sich diese Entwicklung erweisen wird, hängt davon 
    ab, ob es tatsächlich zu einer Gewohnheit wird, die Bildansichten der Stadt 
    eines Angebots wie  
    Google Streetview bei solchen Gelegenheiten einzusetzen. 
     
    Für andere schon immer auf Schaubarkeit und Bildtauglichkeit angelegte 
    Viertel und Gebäude des urbanen Raums, also etwa Sehenswürdigkeiten, 
    entsteht dadurch dagegen keine entscheidende Novität. Weil zum Beispiel die 
    beiden bekannten Türme von Pisa und Paris schon lange als willkommene 
    Bildgegenstände etabliert sind, findet hier keine wesentliche Änderung 
    statt. Man versichert sich allenfalls noch einmal ihrer Bildwürdigkeit, wenn 
    man ihre Bild kurz vor Ankunft noch einmal auf dem Mobiltelefon in  
    Google Streetview 
    nachschlägt. Dass sie dort stärker als bisher innerhalb eines 
    größeren Bildzusammenhangs erscheinen, ist so die vielleicht einzige 
    Änderung, die für die zukünftigen Bildkarrieren solcher Sehenswürdigkeiten 
    zu erwarten ist.  
     
    Bisher als kaum interessant bewertete Orte in der Umgebung 
    erhalten als Bildnachbarn Relevanz. Der weitverbreitete Wunsch, die nur zur 
    Ansicht bestimmten Sehenswürdigkeiten aufzusuchen, um Selbstporträttrophäen 
    nach Hause zu bringen, wird jedoch vermutlich bestehen bleiben. 
     
    
    Google Streetview transformiert den städtischen Raum in ein umfassendes 
    lesbares visuelles Feld. Die Bilder urbaner Räume werden eingefügt in ein 
    scheinbar unbegrenztes Panorama, das je nur in Ausschnitten sich dem 
    Besucher offeriert. Damit liefert 
    Google Streetview als Bildenzyklopädie 
    neue Möglichkeiten, städtische und ländliche Räume zu lesen und zu deuten. 
    Jeden Ort auf dem Mobiltelefon zunächst einer Vorbesichtigung unterziehen zu 
    können, verschafft die Möglichkeit, dem städtischen Raum auf neue Art und 
    Weise Bedeutungen zuzuordnen. Nichtsdestotrotz ist auch eine Distanznahme zu 
     
    
    Google Streetview nicht nur unter datenschutzrechtlichen 
    Gesichtspunkten angebracht. Denn mit diesem visuellen Lexikon der Orte nimmt 
    das Unternehmen die zweifelhafte Autorität einer ‚bildgebenden‘ Instanz in 
    Anspruch. Falsch wäre es, dieser Tendenz stattzugeben, der Fotografie eines 
    Ortes allein aufgrund seines Erscheinungskontextes in  
    Google Streetview 
    Geltung zuzuschreiben und jegliche alternative Bildmöglichkeiten von 
    vornherein auszuschließen. Zu hoffen bleibt deshalb, dass es gelingt, eine 
    Bildkonkurrenz diesen Versuchen entgegenzusetzen. Nicht aber, um etwa das 
    eigentliche Bild der Stadt zu präsentieren. Erstrebenswerter ist es, der 
    doch einseitigen Bildperspektive der 
    Google Streetview weitere hinzuzufügen 
    und so auf vermeintlich nicht existierende Vergleichsbilder hinzuweisen. 
    Allein damit wäre schon der Zweck erreicht, dass ein städtischer Raum anhand 
    nicht nur eines, sondern vieler Bilder der Lesbarkeit zugänglich gemacht 
    würde.   |