Ausgabe 59
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Die Wiederentdeckung der Stadt
Mobile Social Games und der öffentliche Raum

Text: Julia Serong    Bild: photocase.com © Susann Städter

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Noch immer gelten Computerspieler vielen als nachtaktive, sprachfaule Technikfreaks mit einem, sagen wir, etwas eigentümlichen Humor und bisweilen besorgniserregenden Ernährungsgewohnheiten – Nerds eben.
Längst werden jedoch – neben den im medienpolitischen Diskurs oft als „Killerspiele“ bezeichneten gewalthaltigen Computerspielen – zahlreiche Online Games für Senioren oder für den Schulunterricht angeboten, und mit dem rasanten Wachstum sozialer Netzwerke im Internet wächst auch die Verbreitung und Akzeptanz von Online Social Games in der Gesellschaft. Auf den ersten, durchaus skeptischen Blick erscheinen die Spiele, von denen „Farmville“ wohl das bekannteste ist, allenfalls als lustiger Zeitvertreib – aufgrund ihres Suchtpotentials zwar mit Vorsicht zu genießen, aber an sich eine drollige, harmlose Randerscheinung des „Web 2.0“. Dabei ist das Spiel eine Jahrtausende alte Kulturtechnik, die aus der Entwicklung der Zivilisationen wie aus der Sozialisation jedes einzelnen Menschen nicht wegzudenken ist. Die sich im Internet entfaltende Spielkultur sollte daher nicht nur im Hinblick auf ihre möglicherweise pathologischen und destruktiven Effekte, sondern auch im Hinblick auf ihr Potenzial für die Bildung und Erneuerung gesellschaftlicher Strukturen diskutiert werden.

Die meisten Spieler von Online Social Games bevorzugen – wie bei den traditionellen „Offline“-Spielen – das gemeinsame Spielen mit Freunden und Bekannten. Erst wenn sie eine fortgeschrittene Spielstufe erreicht haben, suchen sie vermehrt den Kontakt zu fremden Mitspielern. Vor allem die so genannten MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) verstärken jedoch den Trend zu häufigeren Interaktionen mit Fremden. In solchen Spielen verbünden sich die Spieler zu Dutzenden in Clans und Gilden, um gemeinsam Aufgaben zu lösen. Die Bedeutung „echter Freunde“ in Social Games wird in Zukunft also aller Voraussicht nach abnehmen. Die Spieler werden sich mehr und mehr auf das Zusammenspiel mit unbekannten Mitspielern einlassen. Mit der zunehmenden Verbreitung von leistungsfähigen Smartphones steigt auch die Nutzung von Mobile Social Games, die nicht selten in sozialen Netzwerken integriert sind. Spielen beschränkt sich nicht länger auf Mittagspausen im Büro oder auf den fernsehfreien Feierabend am heimischen Multimedia-PC. In GPS-gestützten Mobile Social Games wird die reale Umgebung, vor allem die Stadt oder das Stadtviertel, in das Spielgeschehen integriert. Die virtuellen sozialen Netzwerke legen sich über die reale Geographie unserer Städte. So wird die Stadt zu einem virtuellen Spielfeld; die Netzwerke hingegen gewinnen an Raum. Dies hat zur Folge, dass sich die Nähe zu den Mitspielern nicht mehr nur nach dem Grad der Bekanntschaft („echte“ Freunde, Bekannte, Kollegen oder eben Unbekannte), sondern nun auch und zunehmend nach dem Grad der räumlichen Entfernung bemisst. Einmal mehr verschwimmen die Grenzen zwischen virtuell und real, zwischen offline und online – und zwischen öffentlich und privat. Als Mobile Social Games ziehen interaktive Spielformen aus der Privatsphäre wieder in die Öffentlichkeit ein.

In seinem Anfang der 1970er Jahre erschienenen Werk „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ beschreibt der US-amerikanische Soziologe
Richard Sennett das Absterben des öffentlichen Raumes in den westlichen Gesellschaften. Sennett vertritt die These, dass die öffentliche Sphäre insbesondere in den Großstädten des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt aufgrund eines auf Transparenz und Mobilität ausgerichteten Städtebaus entleert wird. Wolkenkratzer, die komplett verglast sind, heben die Grenze zwischen Innen und Außen nur scheinbar auf. Tatsächlich wird das Innere durch die Glaswände hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Die ständige Beobachtbarkeit im öffentlichen Raum, zum Beispiel in Großraumbüros, erleichtert nicht etwa, sondern hemmt die zwischenmenschliche Kommunikation. Sennett nennt dies „das Paradoxon der Isolation inmitten von Sichtbarkeit“ (2008: 39).

Ebenso verlieren Straßen, Promenaden und Plätze ihren Charakter als öffentliche Räume in dem Maße, wie sie zu einem „Funktionselement von Bewegung“, „etwas, das man durchquert, worin man sich nicht aufhält“ (2008: 40), gemacht werden. Der städtische Raum wird vor allem als Verkehrsnetz wahrgenommen. Es gilt, möglichst viel Bewegungsfreiheit zu gewähren, möglichst wenige Hemmnisse zu schaffen. „Der öffentliche Raum wird zu einer Funktion der Fortbewegung“ (2008: 40). Dies verhindert soziale Interaktion, unterminiert die Entstehung von Öffentlichkeit, und das trotz oder gerade wegen einer zunehmenden wechselseitigen Sichtbarkeit und Beobachtbarkeit der Individuen. Wie reagieren wir auf diese Isolation? Wir hüllen uns in Schweigen. Wir bewegen uns durch den öffentlichen Raum wie in einer Blase. Wir umgeben uns mit einer transparenten, aber undurchlässigen Schutzschicht, die wir „Privatsphäre“ nennen. Das öffentliche Leben in den Großstädten – in den Straßen und auf den Plätzen, in den Einkaufzentren und den Großraumbüros – ist geprägt durch Schweigen und passives Beobachten. Sennett führt dieses Phänomen auf die Psychologisierung und Personalisierung des öffentlichen Handelns zurück. Wie sich allmählich die Vorstellung durchsetzte, das äußerlich wahrnehmbare Handeln eines Menschen lasse unmittelbar auf sein inneres Wesen, seine Persönlichkeit schließen („Man ist der, als der man erscheint“), zogen sich die Menschen in die Rolle eines passiven Zuschauers zurück, um nicht zuviel von sich selbst preiszugeben. Diese Vorstellung beherrscht auch heute noch die Debatte über Datenschutz und Persönlichkeitsrechte in sozialen Netzwerken. Gleichzeitig überfrachten viele Menschen ihre persönlichen Beziehungen mit einem übersteigerten Maß an Intimität und Selbstoffenbarung: der Seelen-Striptease als Authentizitätstest der Persönlichkeiten und Aufnahmeprüfung für soziale Beziehungen. Für Sennett beginnt damit die „Tyrannei der Intimität“, die den gesellschaftlichen Umgang miteinander ins Leere laufen lässt und die öffentliche Sphäre „privatisiert“.

Was hat es also zu bedeuten, wenn Menschen beginnen, über das Internet inmitten des öffentlichen Raumes miteinander zu spielen? Was hat es zu bedeuten, dass sie in Bewegung spielen? Dass es Spiele sind, die sie nicht zum Halten zwingen, sondern die sie in Bewegung vollziehen können, ja, die Bewegung, Fortbewegung sogar voraussetzen? Kann es nicht sein, dass diese mobilen Spiele es den Menschen wieder gestatten, ihr voyeuristisches Schweigen zu durchbrechen, ihre Passivität zu überwinden, sich aufeinander einzulassen, und zwar gerade ohne den allgemeinen Zwang zur Intimität „echter“ Freunde? Mobile Social Games tragen zu einer Entpsychologisierung der sozialen Beziehungen im öffentlichen Raum bei, indem sie „Nähe“ nicht mehr nur als affektive Kategorie definieren, sondern auch ihre unpersönliche, geographische Dimension aufzeigen. Sie erlauben dem Individuum die episodische, also die räumlich und zeitlich begrenzte Übernahme von Rollen und damit den Aufbau von sozialen Beziehungen zu anderen Individuen, ohne dem allgemeinen Intimitäts- und Authentizitätskult verfallen, ohne die eigene Persönlichkeit, die inneren Gefühlsregungen und Beweggründe offenbaren, ohne sich selbst in aller Öffentlichkeit entblößen zu müssen. Womöglich haben Mobile Social Games damit in ihrer ganzen Vielfalt das ungeahnte Potenzial, über neue Formen der öffentlichen Interaktion auf einen erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit, nämlich auf die Wiederentdeckung der Stadt – nicht als Farmville, sondern als Polis, also als Raum bürgerlicher Öffentlichkeit – hinzuwirken.

„In dem Maße, wie die Menschen lernen können, ihre Interessen in der Gesellschaft entschlossen und offensiv zu verfolgen, lernen sie auch, öffentlich zu handeln. Die Stadt sollte eine Schule solchen Handelns sein, das Forum, auf dem es sinnvoll wird, anderen Menschen zu begegnen, ohne dass gleich der zwanghafte Wunsch hinzuträte, sie als Personen kennenzulernen. Ich glaube nicht, dass dies ein müßiger Traum ist“ (Sennett 2008: 589).



 

Literatur

Sennett, Richard (2008): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Berlin Verlag.

Die Autorin




Julia Serong

Jahrgang 1982, hat in Münster Kommunikationswissenschaft, Wirtschaftspolitik und Englische Philologie studiert. Sie ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin.