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    Vor nicht allzu langer Zeit war in den Medien viel von 
    Leuten die Rede, die ihre intimsten Daten in Social Networks der 
    Weltöffentlichkeit präsentierten. Extrembeispiele ließen sich leicht 
    auftreiben. An den Nacktbildern von Ute M. oder den Partyfotos von Klaus D. 
    wurde dann allen anderen vorgeführt, wohin diese Art von Unachtsamkeit 
    führen kann. Man landet damit am Ende vielleicht sogar in den Massenmedien. 
     
    Die beiden zentralen Vorteile des Internets, nämlich jedem ohne 
    Vorkenntnisse die Veröffentlichung von Inhalten zu gestatten und zugleich 
    alles auf ewig speichern zu können, zeigten hier ihre unerfreuliche Seite.
     
     
    Das Bewusstsein der Nutzer für die Sensibilität der veröffentlichten Daten 
    dürfte in den vergangenen Jahren gestiegen sein. Und auch die Anbieter von 
    Social Networks haben reagiert. Websites wie Facebook ermöglichen ihren 
    Nutzern inzwischen die genauere Kontrolle dessen, was ihre Kontakte („Freunde“) 
    von den eingegebenen Daten sehen dürfen. Vorausgesetzt, die  Nutzer 
    nehmen sich die Zeit, die noch immer umfangreichen persönlichen 
    Einstellungen vorzunehmen.  
     
    Ist die große Offenheit schon wieder vorbei? Befinden wir uns nach der Experimentierphase 
    auf dem Weg zur Abschottung der eigenen Persönlichkeit 
    
    – wie sie im Alltag 
    normal ist?  
     
    Inzwischen sind die Social Networks mobil geworden. Sie informieren uns zum 
    Beispiel unterwegs, wenn Freunde und Bekannte in der Nähe sind. Und sie 
    können uns mitteilen, wenn jemand unseren Weg kreuzt, der unsere Interessen 
    teilt.  
     
    Die Bedenken, die mit der Verbreitung mobiler Social Networks verbunden 
    sind, liegen auf der Hand. Teilt bald wieder jeder alles mit allen 
    
    
    – oder 
    sind die Nutzer reif für die nächste Runde?  
     
    Neue Gegenwart hat mit dem Journalisten und Schriftsteller Peter Glaser über Online-Kommunikation als Wahrheits-Droge, 
    die Entwicklung von Offenheit und Verschlossenheit  im öffentlichen Raum und über das 
    Vergessen im Internet gesprochen. 
    
     
     
    Herr Glaser, zeigt ihr Smartphone ihren Freunden an, wo sie sich gerade 
    aufhalten und welche Interessen sie haben? 
    
    
     
    Peter Glaser: Ich habe kein Smartphone. Ich schleppe mein MacBook und in der 
    Tasche einen Karoblock und einen Kuli mit mir herum, wenn ich unterwegs bin. 
     
     
    
    Würden sie einen solchen Dienst nutzen? 
    
     
    Ja, aus professionellem Interesse. Auf Dauer sehe ich aus derzeitiger Sicht 
    noch keinen Nutzen für mich darin, ständig virtuelle Leuchtkugeln 
    abzufeuern. 
     
     
    
    Wie lange wird es  noch dauern, bis mobile Social 
    Media-Anwendungen so populär sind, dass praktisch jeder sie nutzen wird? 
    
     
    Social Media ist sehr jung. 
    
    
     Friendster, die Mutter aller Freundschaftsnetzwerke, ist 2002 gegründet worden, das kennt heute schon 
    kaum noch jemand. Facebook und Twitter gibt es seit vier Jahren, die Zahlen 
    sind scheinbar beeindruckend. Aber das waren sie davor bei 
    
    
     Second Life auch. 
    Kennt noch jemand Second Life? Weiß jemand, wie viele Karteileichen es auf 
    Facebook gibt? Wie viele passive Zuschauer? Zu dem Bedürfnis nach Prognosen 
    eine Anmerkung von Goethe: “Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das 
    Ungefähre, was sich in ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche so gern 
    zu unseren Gunsten heranleiten möchten.” Social Media ist ein interessanter 
    Bereich, aber ich will nicht spekulieren. 
     
     
    
    Welche Hürden sind noch zu nehmen? 
    
     
    Ganz einfach: Alle sollten mitmachen wollen. Was wir als frühe Nutzer und 
    Netz-Aficionados dazu beitragen können, ist, den Laden möglichst 
    gastfreundlich, einleuchtend und nützlich zu gestalten, um auch das 
    Interesse derer zu wecken, die dem Ganzen noch fern stehen. Auch gegen 
    Gängelung oder Datenabzocke vorzugehen, was etwa bei Facebook immer wieder 
    vorkommt. Und: Alle sollten mitmachen können. Ich finde, dass sowohl die 
    Geräte als auch die Dienste für mobile Anwendungen noch viel zu teuer sind – 
    elitärer Luxus. 
     
     
    In 
    welchen Alltagssituationen wird sich die Nutzung von Mobile Social Media  besonders bemerkbar machen?  
    
     
    Wenn man unterwegs ist, wie die Bezeichnung “Mobile” ja schon vermuten 
    lässt. Vor allem, wenn man beruflich unterwegs ist. Wenn die technischen 
    Voraussetzungen gegeben sind, wird das rasch selbstverständlich und auf 
    angenehme Weise banal werden. Jede neue Technologie, die sich eine Weile 
    blinkend und trötend in den Vordergrund drängt, muss irgendwann den langen, 
    mühsamen Weg durch die Ebene antreten. Ich glaube, dass wir uns alle ein 
    bisschen in Autos verwandeln werden. Wie zuvor Fahrzeuge, werden wir uns 
    künftig auch als Fußgänger viel eingehender von Winken aus der Onlinewelt 
    navigieren lassen. 
     
     
    
    Rollen werden überall gespielt – natürlich auch in Social Networks wie 
    Facebook. Wird die Bühne durch die Übertragung alltäglicher Informationen an 
    andere über mobile Geräte nicht immer größer – und der Backstagebereich am 
    Ende zu klein, um noch man selbst sein zu können? 
    
     
    Es hängt von einem selbst ab, wie groß oder wie intensiv bespielt diese 
    Bühne ist. Plötzlich eine kleine Internet-Sendestation sein zu können und 
    nicht nur, wie am Fernseher laut/leise und hell/dunkel einstellen zu können 
    und sich berieseln zu lassen, macht schon ziemlich Spaß, ist aber auch viel 
    Arbeit. Und das Kommunikationsuniversum bietet auch jede Menge eskapistische 
    Möglichkeiten. Man sollte natürlich den Nahbereich, in dem man als 
    gerätelose, pure Person existiert, nicht aus dem Blick verlieren. Nahsehen 
    ist das unterschätzteste Nichtmedium des 21. Jahrhunderts – um es mal 
    paradox auszudrücken. 
     
     
    
    Wird mit der steigenden Transparenz von Alltagshandlungen 
    verantwortungsvolles und gesellschaftlich akzeptiertes Handeln in der 
    Gesellschaft wichtiger – und ist die Motivation dafür nicht problematisch, 
    nach dem Motto: wenn du nicht immer edel, hilfreich und gut bist, droht der 
    Internetpranger? 
    
     
    Nein, das funktioniert eher nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren. Am 
    Beispiel der Telefonzellen kann man gut sehen, wie sich Transparenz in der 
    Öffentlichkeit entwickelt hat. Vor 30 Jahren war eine Telefonzelle ein 
    richtiges kleines Häuschen, dann gab es irgendwann Schwingtüren, dann 
    reduzierten sich die Wände auf kleine Schallschutzwangen in Kopfhöhe, danach 
    gab es dann nur noch diese unbehausten Telefonmarterpfähle am Gehweg – da 
    ist die Entwicklung übrigens wieder rückläufig, das heißt, die bekommen 
    jetzt zum Teil wieder kleine Dächer und Seitenwände, ob als 
    Intimitätsminimum oder damit einem der Regen nicht ins Gesicht weht, sei 
    dahingestellt. Jedenfalls kann man sich parallel zur Transparenzierung der 
    Telefonzelle beispielsweise ansehen, wie sich Autoinnenräume in dem selben 
    Zeitraum immer mehr abgeschattet und abgedunkelt haben. Ich bin davon 
    überzeugt, dass es so etwas wie einen Grundbestand an Intimität, 
    Schamhaftigkeit, Geheimnis – wie immer man das nennen will, gibt. Wenn es an 
    einer Stelle hell und durchsichtig wird, sollten wir auch sorgfältig 
    beobachten, wo sich die Dinge auf neue Weise verstecken. 
     
     
    
    Wie viel Ehrlichkeit ist in Social Media-Anwendungen möglich? Werden wir 
    Opfer des Eindrucks, den wir machen wollen? 
    
     
    Online-Kommunikation wirkt auf viele Menschen wie eine Wahrheitsdroge. Es 
    ist erstaunlich, in wie kurzer Zeit sich Onlinebekanntschaften oft 
    höchstpersönliche Dinge mitteilen, die bei herkömmlichen Bekanntschaften 
    oder Freundschaften erst einen ziemlichen Vertrauensunterbau benötigen. Das 
    ist eine der interessanten Folgen von Pseudonymität, Anonymität und 
    Virtualität im Netz. Man ist online sozusagen als eine reserviertere Form 
    von Persönlichkeit vorhanden. Im Gegenzug kann man sich, zumindest 
    probeweise, gefahrloser öffnen als einem auch körperlich anwesenden Menschen 
    gegenüber. Natürlich gab es diese Virtualisierung zum Teil auch schon beim 
    althergebrachten Briefeschreiben oder beim Telefonieren. 
     
     
    
    Stichwort Mobile Social Games: Unternehmen arbeiten an Spielen, die überall 
    unterwegs mit Freunden und auch mit Fremden gespielt werden können. Wie 
    sieht die Zukunft dieser Entwicklung ihrer Meinung nach aus? 
    
     
    Wenn ich mir 
    
    
     Zynga-Spiele wie Farmville oder Mafia Wars auf Facebook ansehe, 
    würde ich sagen, dass da an digitalen Formen von Drogensubstitution 
    gearbeitet wird. Legale Drogen, die auch bereits Kollateralschäden wie beim 
    Passivrauchen zeigen, etwa wenn einem die Timeline vollgequalmt wird mit den 
    neuesten Ernteerfolgen von frisch angejunkten Farmwillis. 
     
     
    
    Was für ein Spiel  wünschen sie sich? 
    
     
    Ich würde mir eine Art Nicht-Spiel wünschen. Ein Spiel, bei dem man sich 
    nicht durch feindliche Umgebungen bewegt oder ständig irgendwelche Prüfungen 
    ablegen muss, sondern bei dem ich mich durch Stimmungen hindurchspielen 
    kann. Durch Dinge, die meine Inspiration herausfordern. Das Spiel gibt es im 
    übrigen schon, heißt Internet. 
     
     
    
    Die Gesellschaft ist stets bestrebt, möglichst viele Informationen dauerhaft 
    zu speichern – für das Individuum dagegen ist Vergessen lebenswichtig. Wie 
    könnte das Vergessen als Funktion des Internets eingebaut werden? 
    
     
    Man kann Dateien oder Postings zum Beispiel eine Halbwertszeit geben. Das 
    könnte man auch farblich anschaulich machen – Icons, die wie Laub verwelken, 
    von grün bis braun, oder die verblassen, bis nichts mehr zu lesen ist. 
     
     
    Kann 
    eine solche Vergessen-Funktion umgesetzt werden? Oder nur für die Nutzer, 
    während die Unternehmen weiterhin alles protokollieren? 
     
    Wenn wir unser Selbstbild als Menschen im Netz wiederfinden wollen, wird es 
    für die Maschinen unvermeidlich sein, das Vergessen zu lernen. Für einen 
    Technokraten ist ein Löschvorgang ein Mangel, eine ungenutzte Möglichkeit. 
    Für einen Menschen ist das Vergessen aber kein Mangel, sondern ein wichtiger 
    Teil dessen, was einen Menschen zum Menschen macht. Dinge wie 
    Resozialisierung oder das, was die christliche Ethik Vergebung nennt, sind 
    edle Formen des Vergessens. Wenn man einem Menschen nachsagt, er habe ein 
    Elefantengedächtnis, verheißt das nichts Gutes, sondern dass er nachtragend 
    ist. Und dann wird es einem auch unnötig schwer gemacht, sich zu verändern, 
    wenn man ständig darauf festgelegt wird, was man früher mal getan und 
    gedacht hat. Das Internet und der grassierende Speicherwahn bilden derzeit 
    eine Maschine, die automatisch ein extreme Form von Konservativismus 
    produziert. 
     
     
    Wo 
    würden sie sich entsprechende Vergessens-Funktionen wünschen? 
    
     
    “I can’t forget, but I don’t remember what” (Leonard Cohen). 
     
     
    
    Für sehr viele alltägliche Anwendungen gibt es inzwischen Programme auf 
    Smartphones.
    Welche App wünschen sie sich, die es noch nicht gibt? 
    
     
    Eine, der ich sagen kann, was ich möchte und sie macht’s. 
    
     
     
    Wofür wird es nie eine App geben? 
    
     
    Für uns, Bruder. Und für die Ängste von Frank Schirrmacher.   | 
    
     
    
    Zur Person 
     
    
     
    Peter Glaser 
     
    Geboren 1957 in Graz. Schriftsteller, Journalist und Ehrenmitglied des 
    
    
    
     Chaos Computer Clubs. 1986 bis 1996 erschien seine Kolumne 
    
    „Glasers heile 
    Welt“
    in der Zeitschrift Tempo, 2002 erhielt er für seine 
    
    „Geschichte von 
    Nichts“
    den Ingeborg-Bachmann-Preis. Er schreibt u. a. regelmäßig in seinem 
    Blog 
    
    
     Glaserei
    bei der Stuttgarter Zeitung und in 
    
    
     Technology 
    Review. Peter Glaser auf Twitter:
    
    @peterglaser. 
     
     
     
    
    
      
    
    
     
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