KLAUS THEWELEIT
"Fußball ist
nicht nur für Blödiane"
INTERVIEW:
CHRISTOPH
KÖNIG
Die Gegenwart
sprach mit dem Schriftsteller Klaus Theweleit über "die Moral" im Sport, die
Rolle des Fußballs in Deutschland, Zusammenhänge zwischen
Politik und Sport und die Frage, warum erste Plätze alles sind
–
und zweite Plätze gar nichts.
Die Gegenwart: Herr Professor
Theweleit, in
Ihrem Buch “Tor zur Welt” schildern sie, wie
sie mit Hilfe Ihrer kindlichen
Fußballbegeisterung andere gesellschaftliche Bereiche erschließen konnten.
Ist das, was sie erlebt haben, ein typisch männliches Phänomen? Silvia Henke
hat in einer Rezension zu ihrem Buch in der Frankfurter Rundschau
geschrieben, der Fußball sei ein “männliches Tor zur Welt”.
Klaus Theweleit:
Ja sicher ist er das; er war es zumindest. Wenn heute junge Mädchen
Fußball spielen, imaginär angelehnt an die deutsche Weltmeister-Frauenelf,
kann Fußball aber auch ein weibliches “Tor zur Welt” werden. Er wird aber
weder für Frauen noch für Männer jene Dominanz der Vorfernsehzeit erhalten,
weil es heute 25 Konkurrenzsportarten gibt. Inline Skating,
Volleyball, Tennis, Schwimmen und so weiter. Fußball ist zwar immer noch die
Nummer eins im Fernsehen oder auch in den Stadien. Aber in der Reihe der
ausgeübten Sportarten nur noch einer unter vielen anderen.
Der deutsche Fußball steckt in einer Misere. Im Mittelpunkt steht dabei die
Frage, was den deutschen Spielern im Vergleich zur internationalen Spitze
fehlt. In ihrem Buch beschreiben sie ausführlich ihre Krankengeschichte, was
die ständigen Verletzungen ihre Knies betrifft. Ich habe den Eindruck, sie
hatten besonderen Spaß daran, diese Verletzungen möglichst drastisch
darzustellen. Ist Leidensfähigkeit das, was deutschen Fußballern heutzutage
fehlt?
Theweleit: Ich
weiß gar nicht, ob ich damals groß Leidensfähigkeit an den Tag gelegt habe.
Drastisch dargestellt habe ich es auch nicht. Man hat ja keine Wahl, wenn
man ein so verletzungsanfälliges Knie hat, dass es sich bei bestimmten
Belastungen regelmäßig verdreht. Mit “Leidensfähigkeit” ist ja auch etwas
anderes gemeint. Von Fußballern wird ja nicht nur verlangt, dass sie ihre
Verletzungen klaglos ertragen sollen, sondern dass sie über ihre Grenzen
hinausgehen. Der Vorwurf lautet ja, dass sie sich übermäßig schonen, dass
sie sich nicht auspowern. Derselbe Vorwurf also wie zum Beispiel gegen Jan
Ullrich im Vergleich mit Lance Armstrong auf der Tour. Das ist aber Quatsch.
Ausgepowert haben sich beide.
Fehlen die berühmten deutschen Tugenden?
Theweleit:
Zu den berühmten deutschen Tugenden
gehörte die so genannte Moral, das sollte heißen, Durchhaltefähigkeit und
Überstrapazierung der eigenen Physis. Dahinter steckte in Deutschland
traditionell der Gedanke: “Wir müssen Kriege gewinnen, dadurch, dass wir die
besseren Soldaten haben. Wir haben nicht die überlegenen Ressourcen, wir
haben nicht genug Öl, nicht genug Panzer und Schiffe, also müssen wir die
besseren Soldaten haben.”
Also die besseren Fußballsoldaten?
Theweleit:
Genau. Der Gedanke steckt im Gerede
von “deutschen Tugenden” immer mit drin. Dadurch dass man länger läuft, mehr
läuft als alle anderen, auch in der 90. Minute noch Kraft und Luft hat und
sich nicht aufgegeben hat. Dadurch schlägt man dann schließlich am Ende die
anderen. Das hat aber noch nie so gestimmt. Wenn ich mich an Tore erinnere,
die zur Qualifikation zu Weltmeisterschaften geführt haben, zum Beispiel
Gerd Müller in der 90. Minute gegen Albanien ein 2:1, Libuda gegen
Schottland mit einem absoluten Glücksschuss, Häßler gegen Wales
– diese
Dinge sind nicht dadurch zustande gekommen, dass hier 90 Minuten lang
gekämpft, gehetzt und gerannt wurde. Gegen manche Gegner war vielleicht ein
Tick konditionelle Überlegenheit darin. Das hat seine Grenzen, wie man
zuletzt bei der EM gegen Lettland sah. Auf der Ebene der so genannten
Kreativität des Spiels kommt man mit diesen Tugenden nicht durch. Und
tatsächlich war es ja auch so, dass zu den deutschen Tugenden immer
exzellente Techniker im Mittelfeld mit dem richtigen Auge für den Pass
gehörten. Es sind eher die, die der deutschen Mannschaft heute fehlen.
Insbesondere, wenn der beste Paßgeber auch noch den effektivsten Torschützen
abgeben soll, wie bei Ballack der Fall. |
AUSGABE 39
"UND JETZT
–
DER SPORT"
STARTSEITE
EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
ÖFFENTLICH-RECHTLICHE ATHLETEN
FUSSBALL IST NICHT NUR
FÜR BLÖDIANE
SCHUTZ DER
OLYMPISCHEN RINGE
FÜNF FRAGEN/ZEHN
ANTWORTEN
WAS IST SPORT?
HELMUT HALLER: EIN LEBEN AM
BALL
MODERNE GLADIATOREN
NUR GOLD
GOLD-HEIDI
SCHLUCHTEN UND GRÄBEN ZUM TROTZ
SPORT ALS REALITÄTSMODELL
REITEN AUF DER WELLE
ALLE AUSGABEN IM ARCHIV
DAS REGISTER
ÜBER DIE GEGENWART
IMPRESSUM
|
United gegenüber Bochum gegen Bayern oder
Bremen gegen Hertha, das gucken sich vor allem die
engeren Fans an. Die an “tollem Fußball”
Interessierten
wollen ihre Popstars Beckham oder Zidane sehen.
Übernimmt der Fußball damit auch eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der
Internationalisierung?
Ja, das auf jeden Fall. Ein
Sechzehnjähriger weiß genau, wer bei Real Madrid spielt, aber nicht wer bei
Wolfsburg im Mittelfeld spielt; da kennt er höchstens einen Argentinier, d’Allesanndro. Ich sehe eine ganz klare Internationalisierung, die eine
Aufgeschlossenheit zur Folge hat. Auch auf der Ebene heißt das: der Krieg
ist da raus. Wenn die deutsche Nationalmannschaft 1937 gegen England antrat,
dann war der Kriegsgedanke mit drin. Die eine Nation schlägt die andere und
im Krieg, der jetzt vor der Tür steht, machen wir das auch. Das wurde vor
allem von Reportern so betrieben und von den Leuten auch so ähnlich
empfunden. Das gilt heute nur noch für einen geringen Anteil an Idioten. Die
durch die bekannten Haltungen der Boulevardpresse aber immer mal wieder als
tonangebende Mehrheiten erscheinen können. Auf der Ebene der Spieler selbst
ist das gar nicht vorhanden. Die Spieler führen überhaupt keine Kriege
gegeneinander und sehen sich auch nicht in dieser Stellvertreterposition,
die finden das schlicht Blödsinn. Übrigens hat keine Reporter etwas dazu
angemerkt, dass die Holländer auf ihrem Trikot neben ihrem eigenen ein
kleines deutsches Fähnchen aufgestickt hatten und die Deutschen hatten nur
ein eigenes. Das haben die Holländer von sich aus als Geste gegenüber dem
Gegner getan, auch gegenüber den Tschechen. Das heißt ganz klar, wir führen
hier keine Kriege, sondern hier wird gespielt.
sie schreiben, “der Fußball badet die deutsche Misere offener aus als die
Politik”. Die Misere der Politik und die des Fußballs hängen also zusammen?
Wie ist das zu verstehen?
Theweleit:
In der Politik kann man so manches
übertünchen und verstecken. Im Fußball ist das viel eindeutiger: schlechtes
Spiel, gutes Spiel. Ich behaupte aber gar nicht, dass man Zeichen der Misere
vor allem im Fußball sehen kann. Sondern ich nehme den Fußball als Beispiel.
Was in der Gesellschaft läuft, bekommt man auch mit, wenn man sich ansieht,
wie eine Zeitung funktioniert, wenn man sieht, wie eine Universität
funktioniert, wie ein Handwerksbetrieb funktioniert oder wie eine
mittelständischer Betrieb mit wirtschaftlichen Problemen hantiert. Wenn man
das kennt, dann kennt man auch sehr viele Züge anderer Gesellschaftsteile.
Für mich war der Fußball ein Tor zur Welt, weil ich durch den Fußball zuerst
auch über andere gesellschaftliche Zusammenhänge informiert wurde, weil sie
sich im Fußball auch vollziehen. Wenn man gelernt hat, das aus dieser
Richtung zu sehen, wenn man die Entwicklungen durchschaut, dann bekommt man
durch die Beschäftigung mit Fußball über die Gesellschaft genauso viel mit
wie durch eine soziologische Studie. Es tauchen dieselben Probleme auf, sei
es im Vorstandswesen oder in allgemeinen so genannten “Führungsproblemen”. Soll
heißen: Fußball ist nicht nur für Blödiane.
Fußball als Beispiel für die Misere der
deutschen Gesellschaft. Heißt das im Umkehrschluss, dass, wenn es der
deutschen Gesellschaft gut geht, die Nationalmannschaft erfolgreich ist?
Weltmeisterschaften gewann der DFB 1954 während des Wirtschaftswunders, 1974
nach der Olympiade in München und der Aufnahme in die UN-Versammlung und
1990 nach dem Fall der Berliner Mauer.
Theweleit:
1990 war weniger ein Resultat des
Falls der Mauer, sondern hatte mit viel Glück und Schwäche der Gegner zu
tun. Ich weiß auch nicht, ob das Wirtschaftswunder 1954 so große
Auswirkungen hatte. Der Gewinn der Weltmeisterschaft 1974 ist für mich eher
eine Produkt des Aufbruchs der Sechziger, der sich bei den Fußballern
niederschlug als eine gewisse Lockerheit. Die Deutschen zeigten sich der
Welt erstmals nicht als martialische Spieler, sondern als Künstler, wie die
Holländer damals auch. Man soll das aber nicht zu eng sehen und behaupten,
der Fußball gibt den Aufschwung oder die Misere wider. Es gibt aber
tatsächlich eine Art Berührungstendenz. Zum Beispiel 1974: die deutsche
Gesellschaft im zivilen Aufbruch weg vom Krieg aus der vorher noch
martialischen Klopper-Generation von Fußballern. Die Spieler ließen sich
ihre Haare länger wachsen, Netzer wurde der erste Fußball-Popstar. Die
Spieler nahmen gesellschaftliche Strömungen auf und setzten sie auf dem
Platz in eine elegantere Art des Fußballspiels um. Insofern kann man das
sagen. Man soll das aber nicht für jeden historischen Moment zwangsweise
generalisieren.
Die Trainerfindungskommission suchte bis vor kurzem einen neuen
Bundestrainer, der dem Verband den Weg aus der Krise ebnen sollte. Ist
Jürgen Klinsmann der Richtige für den Job?
Theweleit:
Klinsmann ist
auf jeden Fall ein Schritt in die unverfilztere Richtung. Er steht für
überschaubarere Strukturen und gewisse demokratische Gewaltentrennungen;
Beckenbauer zum Beispiel. weiß gar nicht, was das ist. Der versteht nicht einmal, was
man ihm in dieser Richtung vorwirft. Er empfindet nicht den Widerspruch
zwischen Positionen wie denen eines Vereinspräsidenten, Boulevard- und
TV-Kommentators und eines Verbandsfunktionärs, Mit-Organisator einer WM und
gleichzeitigem Werbeträger für beteiligte Firmen. Er subsumiert das alles
schlicht unter seine Rolle als Kaiser, ein echter Feudalist und
Superdemokrat in Personalunion. Sollte Klinsmann erfolgreich sein mit dem
deutschen Team, wird das auch das Ende der Ära Meyer-Vorfelder und des
“Kaisertums” im deutschen Fußball sein.
Beneiden sie Jürgen Klinsmann um seinen Job?
Theweleit:
Nein, weil das ein ganz übler Job ist,
weil ein Teil der Presse den Fußball als eine Art Privatbesitz ansieht und
den Fußball permanent für andere Zwecke missbraucht.
Die National-Fußballer haben gefälligst nach diesen Ansprüchen zu
funktionieren. Der Fußball wird immer dazu benutzt, Bevölkerungsstimmungen
zu lancieren. Wie der Benzinpreis. Wenn eine deutsche Mannschaft bei der
Weltmeisterschaft gut abschneidet, dann lassen sich dahinter zum
Beispiel massive
Lohnkürzungen besser verstecken. Regierungen, die sonst stürzen würden,
können überleben durch so etwas.
Es wirkt sich also auf Wahlergebnisse aus?
Theweleit:
Fußball-Lagen wirken sich ganz sicher
auf Wahlergebnisse aus. Wenn die Wahlversprechen der Schröder-Regierung
nicht sichtbar umgesetzt werden und dann noch die Nationalmannschaft
schlecht spielt, dann wird die Regierung mit Sicherheit abgewählt. Aber wenn
ich eine schlechte Bilanz habe und dafür die Nationalmannschaft gut spielt,
lässt sich die Lage vielleicht anders darstellen, sie lässt sich
umschreiben. Auf jeden Fall gibt es immer Zeitungen, die so etwas probieren
nach dem 1954er-Motto: “Wir sind wieder wer, wir sind doch die Weltbesten,
wir sind doch die tollsten”, was eine reine Erfindung war, aber gut
funktioniert hat. Niemand in Europa hat geglaubt, dass mit dem deutschen
Fußballsieg in der Schweiz Hitler, die deutschen Verbrechen des Weltkriegs
und die Konzentrationslager irgendwie ausgelöscht oder “aufgewogen” seien;
nur für die Deutschen selber war das eine passende Legende und sie haben die
Gelegenheit freudig ergriffen. So ließe sich mit Fußballerfolgen auch heute
dies oder jenes kaschieren oder in einem günstigeren Licht darstellen.
Auf dieser Ebene gibt es den
Versuch ständiger Einflußnahmen. Bild zum Beispiel
schreibt Trainern offen die Mannschaften vor. Völler bei der EM in Portugal
ging darauf ein und brachte gegen Lettland den von Bild (und Beckenbauer)
geforderten zweiten Stürmer, Fredi Bobic. Statt an der guten Taktik des
Fünfer-Mittelfelds gegen Holland festzuhalten. Ergebnis: das geschwächte
Mittelfeld machte kaum Druck, Bobic stand vorn sinnlos herum. Weil Völler
klug ist, ist er danach zurückgetreten. Er hatte mit dem frühen Ausscheiden
bei der EM seinen Bonus verspielt und musste befürchten, nun zum Spielball
von Bild und Konsorten zu werden. Jürgen Klinsmann hat diesen Bonus als
neuer Bundestrainer. Aber nur Erfolg macht auf dieser Ebene unverletzlich.
Den muss er nun haben.
Das runde Leder hat längst den Weg über die Stammtische hinein in
wissenschaftliche Diskussionen gefunden. Wird der Sport damit
intellektualisiert?
Theweleit:
Allein mit der in vielen Zeitungen zu
beobachtenden erhöhten Qualität der Sportberichterstattung, mit zutreffenden
Analysen der Spiele also, hat man schon eine Intellektualisierung. Die
Grundlage von Intellektualität ist genaue Wahrnehmung und die angemessene
Wiedergabe dieser Wahrnehmung. Das heißt, die journalistischen Beiträge
müssen stimmen. Das ist Grundlage für gute Analysen. Mit der Erfüllung
solcher Voraussetzungen befindet sich der Fußballbericht auf derselben Ebene
wie die Theaterkritik oder ist ihr sogar überlegen.
Warum ist der Fußball gerade in intellektuellen Kreisen zurzeit besonders
stark im Trend?
Theweleit:
Es ist das Interesse an der
Fußball-Popkultur, Beckham, Zidane et cetera, an der Mode, an den Geschichten aus
dem Umfeld. Die Fußballer agieren auf Ebenen in Fernsehwerbespots, wie sonst
Madonna in Musikvideos. Pop hat in allen möglichen Bereich vieles besetzt,
was früher der politische Diskurs, vor allem die politischen Utopien besetzt
hatten ‑ ein Diskurs, der heute nicht mehr offen und direkt geführt wird.
Fußball ist in ein Vakuum hereingeströmt, weil er für eine ungeheure Masse
von Zuschauern als Projektionsfläche für viele andere Dinge wie Religion und
Politik dient.
Warum müssen wir eigentlich immer gewinnen?
Theweleit:
Alle die bei Weltmeisterschaften
Fußball spielen, wollen gewinnen. Den Deutschen ist das bisher ganz gut
gelungen. Das Bedürfnis, die eigene Mannschaft mindestens im Halbfinale
sehen zu wollen, ist ja völlig verständlich. Daran findet niemand etwas
Komisches. Komisch wird es erst, wenn daraus ein Zwang gemacht wird. Dann
schreibt Bild unter der Abbildung von
elf nackten Frauenärschen, “Wenn ihr
die Letten nicht schlagt, dann könnt ihr uns mal hier lecken.” Das ist schon
deswegen blöd, weil andere auch gewinnen wollen. Mit denselben guten oder
schlechten Gründen. Leider gibt es nicht genug Leute, die Bild daraufhin den
Arsch zum Lecken bieten, das heißt den Mist nicht
mehr kaufen.
Wie weit kommt die deutsche Mannschaft bei der WM 2006?
Theweleit:
Wenn sie nicht unter die ersten
vier
kommt, wäre das eine Überraschung. Bei Weltmeisterschaften im eigenen Land
kommt die gastgebende Mannschaft fast ohne Ausnahme ins Halbfinale. Das wird
vermutlich auch bei der WM in Deutschland nicht anders sein. |