"Kritisches Denken fördern"
Text und Bild:
Stefan Nicola
Als
Sean Fagan am 10. September 2004 im National Press Club in Washington D.C.
auf das Podium gebeten wurde, war das Publikum etwas überrascht.
Die Projektleiter der „Großen”, wie USAToday, CBC oder PBS, sie standen auf
und spendeten höflich Beifall, als Fagan den
Batten
Award,
einen mit 10.000
Dollar dotierten Preis für innovativen Online-Journalismus entgegen nahm.
„You Decide“, Fagans Projekt für die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt
"KQED" in San Francisco, hatte die Online-Schwergewichte auf
die hinteren Plätze verwiesen.
„You Decide“ kommt
ohne Flash-Animationen und multimedialen Schnickschnack daher – und ist
dennoch erfolgreich. Jeden Monat entwickelt Fagan mit der
Autorin Melissa Joulwan einen neuen Streitpunkt, der das US-amerikanische Volk beschäftigt.
Eine Online-Umfrage auf der KQED-Homepage stellt dann
zum Beispiel scheinheilig eine Frage: „Soll Saddam Hussein hingerichtet werden?“ Doch wer
ein Abstimmungsergebnis erwartet, hat sich getäuscht. Je
nachdem, ob man mit „Ja“
oder „Nein“ abgestimmt hat, lernt man die Argumente der Gegenseite kennen.
„Sind Sie sicher? Und wenn Sie wüssten, dass...“ fragt „You Decide“ nach
jedem Klick auf „Ja“ oder „Nein“ kritisch nach. Noch vier Mal muss man
abstimmen. Erst dann zählt die Stimme. „Demokratie ist eine Diskussion“,
sagt Fagan. Die Gegenwart unterhielt sich mit dem 38-jährigen Webdesigner.
Die Gegenwart: In den 90er Jahren haben Sie für
Salon und eine AOL-produzierte Radio-Show gearbeitet. Wie
anders war das Internet und der Online-Journalismus damals?
Sean Fagan:
Meine ganz
frühen Anfänge habe ich nicht im Journalismus verbracht. Ich habe Film
studiert und Drehbücher geschrieben. Den Sprung ins Netz habe ich riskiert,
weil es so viele Möglichkeiten bot, und jeder alles veröffentlichen und der
Welt zeigen konnte.
Das
war wirklich der Geist der Zeit. Wir dachten alle, wir würden durch das
Internet berühmt werden. Und manche hatten ihre 15 Minuten auf dem Gipfel,
indem sie verrückte Sachen veröffentlichten – private Tagebücher, Bilder aus
ihrem Leben, Webcams vom eigenen Hamsterkäfig...
es war verrückt.
Das
war in den 90er Jahren. Heute haben wir lediglich neue, coole Namen dafür,
wie “Blogging”. Ich finde es witzig dass wir viele dieser Dinge schon vor
zehn, elf Jahren gemacht haben und heute schreiben Leute darüber, als sei
das
ein neues Phänomen. Der Respekt für Blogger ist aber neu, keine Frage.
Die Gegenwart: Wie schwer war es, diesen
Respekt in den frühen Jahren zu bekommen?
Fagan:
Mein
Einstieg in den seriösen Online-Journalismus war Salon. Als ich erstmals zu
Salon kam, kämpfte man dort noch schwer dagegen an, nur als Webseite gesehen
zu werden. Salon wollte eine Online-Magazin sein. Dieser automatische
Respekt, den eine Print-Publikation hat,
fehlte noch. Ich erinnere mich noch
an das erste Mal, dass Salon vom New Yorker zitiert wurde, das war 1999.
Damals wurde Salon noch „die Webseite Salon.com“ genannt. Ein wirklicher
Durchbruch für uns war die Story über Henry Hyde, den Kongressabgeordneten und
die treibende Kraft hinter dem Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton.
Die Story war sehr umstritten, doch wir haben sie gebracht. Am selben Abend
waren wir alle vor dem Fernseher und das erste was Peter Jennings auf ABC
sagte, war: „Laut dem Online-Magazin Salon...“ Der ganze Raum ist in Jubel
ausgebrochen. Das war ein großer Schritt in Richtung Legitimität.
Die Gegenwart: Ähnlich wie Salon damals kämpfen heute
viele Weblogs um Respekt und Legitimität. Haben Weblogs eine Chance, sich
auf Dauer als eine neue journalistische Alternative durchzusetzen?
Fagan: Na ja, man sagt ja, dass der Trend für Blogs
noch immer nach oben zeigt. Es wird wohl Rückschläge geben, wie bei allen
neuen Trends, aber ich denke, dass sich die besten Blogs etablieren werden –
und zwar die Blogs, die Alternativen zum normalen Journalismus bieten. Ich
selber war Bloggern zu Beginn gegenüber ziemlich voreingenommen – ich habe
sie nicht als Bürger-Journalisten angesehen, sondern als ein paar Leute, die
Material ohne jegliche redaktionelle Kontrolle online ablegen. Doch dann
habe ich viele wertvolle Infos dort gefunden, die ich sonst nirgendwo finden
konnte. Zum Beispiel Interviews, die CNN nur gegen Bezahlung in Ausschnitten
zeigt, sind dort kostenlos und komplett zu finden.
Und aufgrund ihrer Verdienste werden Blogger in den USA inzwischen auch zu
seriösen journalistischen Konferenzen eingeladen. Das zeigt, dass es an der
Zeit ist, diese Bürger-Journalisten zu respektieren. Ich habe Kollegen, die
ihren Arbeitstag erst beginnen, nachdem sie
Wonkette
gelesen haben.
Die Gegenwart:
Jetzt zu „You Decide“: Wie entstand es und was waren
Ihre Intentionen, als sie es erstmals entwickelten?
Fagan: Unser erstes „You Decide“ war ein Gimmick auf
einer Webseite eines Dokumentarfilms, der damals auf KQED lief. Als wir daran
arbeiteten, passierte der 11. September. Ich komme aus New York und es war
sehr seltsam, das alles aus der Entfernung, aus Kalifornien, zu beobachten.
Ich ging zur Arbeit und schaute meistens fern; und ich sah sehr bedenkliche
Trends entstehen, Trends weg von kritischem Denken hin zu einer fast
hysterischen Verhaltensweise. Ich sah Bilder im Netz von Zetteln, die
Menschen an die Telefonmaste gehängt hatten mit der Aufschrift: „Präsident
Bush, wirf eine Atombombe auf Afghanistan“. Und dann versuchten manche
Politiker diese Stimmung auszunutzen und brachten uralte Gesetzesvorschläge
wieder auf den Tisch. Mir wurde klar, dass ich „You Decide“ nutzen wollte, um
gewisse Fragen nüchterner zu diskutieren. Das war meine Art von Therapie
nach dem 11. September. Um kritisch zu denken und nicht meinen Emotionen zum
Opfer zu fallen. Die Idee war wirklich, kritisches Denken zu fördern und
diese oft ethischen Streitpunkte zu personalisiseren. Wir fragen ganz direkt:
Wie denken Sie darüber? Glauben Sie, die Medien berichten wirklich alles
,was
Sie zum Krieg in Afghanistan oder im Irak wissen müssen? Ich glaube, viele
Menschen setzen sich mit diesen Fragen nicht genug auseinander.
Die Gegenwart: Wie bringen Sie die Menschen dazu
weiter zu lesen, nachdem sie auf „Ja“ oder „Nein“ geklickt haben?
Fagan: Zuerst wollen wir die Leute in dem Glauben
wiegen, dass sie an einer Umfrage teilnehmen. Es ist schon ein Trick dabei,
das gebe ich zu, aber man hat nur wenige Sekunden, um die Aufmerksamkeit
eines Users zu gewinnen. Und dann muss man die Themen auf jeden Fall
personalisieren.
Ein Beispiel: Der Präsident hat verkündet, dass er in den nächsten zehn
Jahren Astronauten auf den Mars schicken will. Das ist eine interessante
Idee, aber was sind die Vor- und Nachteile? Vielleicht fehlt das Geld jetzt
an Schulen oder in der Rentenkasse. Und schon wird das Thema persönlich und
damit interessanter. Wir können das auf unserer Seite verfolgen: etwa 80
Prozent unserer Besucher klicken sich nicht einfach durch, sondern lesen
auch die Argumente der Gegenseite.
Die Gegenwart: Gab es Themen, die von
Interessengruppen manipuliert wurden?
Fagan: Wir wurden einmal von konservativen
Waffen-Aktivisten „gefreept“. Jemand hatte an unserer Umfrage zum Thema
Waffenverbot teilgenommen und hat sich derartig darüber aufgeregt, dass er
den Link an sehr viele Menschen verschickt hat, mit der Aufforderung, die
Umfrageergebnisse zu verfälschen und gegen uns zu protestieren. Es war einer
der wenigen Leute, die gar nicht
gemerkt haben, wie die Seite strukturiert ist, und
dass wir auch ihre Argumente präsentieren. So eine große Gruppe kam da auf
uns eingestürzt, das war am Anfang schon unheimlich. Ich bekam dutzende
Droh-Emails pro Tag, sogar an meine private Emailadresse. Aber irgendwann
beruhigte sich auch das, weil ein paar User in den Foren sagten: „Hey Leute,
klickt mal auf ‚Ja’, dann seht ihr auch eure Argumentation.“ Und plötzlich
wurde es ruhiger.
Mich
ermutigen auch die vielen Tausenden, die sich mit „You Decide“ ernsthaft
auseinandersetzen. Und wenn sie unsere Seite verlassen hoffe ich, dass diese
Leute alles etwas grauer sehen, und nicht mehr strikt schwarz oder weiß.
Unser Ziel ist ja nicht, die Meinung der Menschen zu den Themen zu ändern –
was wir wollen ist, dass sie die Gegenargumente kennen und besser verstehen
lernen. Ein Diskussionsforum begleitet jedes „You Decide“.
Die Gegenwart: In einem Land,
das vor der Präsidentschaftswahl so polarisierend in zwei gleich große Lager
gespalten ist, welcher Ton ist denn in den Foren so üblich? Wird da nicht heftig um jede Stimme
gekämpft?
Fagan: Klar, unsere Themen sind oft „Republikaner gegen Demokraten“. Was wir in
unseren Foren beobachtet haben ist, dass die Menschen am Anfang sehr
verärgert gegen ihren ideologischen Gegner auftreten. Da kann man
Nachrichten lesen wie: „Wie kannst du Idiot nur so denken?“ Und sie benutzen
eine aggressive Sprache. Doch irgendwann lernen sie zu verstehen, dass ihre
„Gegner“ sich um die selben Dinge sorgen: wie kann ich meine Familie
versorgen, kann ich mir eine Krankenversicherung leisten, sind wir sicher in
Amerika. Wenn man also unsere Foren verfolgt, werden die Kommentare mit der
Zeit immer menschlicher und man hat plötzlich zwei Menschen, die einander
zuhören und respektieren. Demokratie ist am wirkungsvollsten, wenn diskutiert
wird. Polemik und verbale Schlammschlachten schaden der Demokratie. Ich
hoffe, dass unsere Demokratie eine Diskussion bleibt.
Die Gegenwart: Viele journalistische Webseiten haben
Probleme, den sprachlichen Sprung ins Netz erfolgreich zu gestalten. Wie
sollte ein Journalist für das Netz schreiben? Was sind die Unterschiede zum Print-Stil?
Fagan: Vor allem muss man einen spannenden und
aktiven Stil pflegen. Man muss immer im Hinterkopf haben, dass der Leser
eigentlich keine Zeit hat und auf der Durchreise ist. Ich denke, der Stil ist
direkter und persönlicher. Wir versuchen den Leser zum Beispiel mit
Zwischenfragen zu fesseln. Das ist im traditionellen Journalismus nicht
üblich, das findet man meistens nur im Netz.
Die Gegenwart: Wie sieht die Zukunft von “You Decide”
aus?
Fagan: Wir haben gerade unseren letzten Streitpunkt
veröffentlicht. Unser Budget von 90.000 Dollar ist leider aufgebraucht. Aber
natürlich bleiben alle Ausgaben von „You Decide“ online und werden auch
laufend auf den neuesten Stand gebracht. Und wir arbeiten im Moment an einem
neuen Projekt und haben eine
Idee
auch schon online getestet. Das Konzept ist ähnlich, aber es ist eine
Flash-Animation. Ich nenne es ein „Nachrichtenschnipsel“. Das ist eine
kurze, personalisierende Präsentation einer Tatsache. Der Effekt soll sein:
„Wow, das habe ich nicht gewusst!“.
Wir
haben die Lebenserwartung verschiedener Länder zur Grundlage dieser
Anwendung genommen. Es beginnt mit der Frage: Wie lange würden Sie leben,
wenn Sie nicht in Amerika wohnen würden? Und dann kann man sein Alter
eingeben und ein Land auswählen. In Mosambik hat man
zum Beispiel eine Lebenserwartung von 33 Jahren. Es kann also sein, dass man
die Antwort bekommt: „In Mosambik wären
Sie vor sechs Jahren gestorben.“ Das ist also wieder sehr persönlich. Wir
versuchen, den User Teil der Nachrichten werden zu lassen. Das ist ein sehr
interaktiver Prozess, aber es fordert weniger Zeit als „You Decide“. Und doch
hinterlässt es diesen emotionalen Eindruck. Übrigens haben es viel mehr
Leute aufgerufen...(lacht).
Die Gegenwart: Wie sehen Sie die Zukunft des
Online-Journalismus? Gibt es Trends, die Sie besonders faszinieren?
Fagan: Jemand sagte mir kürzlich, dass der erste
Medienmogul, der 10.000 Satelliten-Telefone mit
Videofunktion über einer Kriegszone abwirft, den Online-Journalismus
revolutionieren wird. Und das passiert ja teilweise schon. Ich habe ein
Irakisches Blog gelesen. Es heißt “Don't shoot!....I have another story to
tell you”, und wird herausgegeben von einem sehr
cleveren Iraker, der sich mitten im Land befindet. Er berichtet und zeigt
sehr bestürzende Dinge. Das ist nun wirklich anders als vor ein paar Jahren.
Viele Leute kritisieren Al-Dschasira für das
Material, das sie zeigen. Aber sollten wir die Kameras abstellen, wenn etwas
Schreckliches passiert? Ich glaube nicht, dass man damit der Gesellschaft
einen Dienst erweist. Diese Bürger-Journalisten lehnen sich gegen die
Selbstzensur der Medien auf und das finde ich großartig. Sie veröffentlichen
die Bilder von Abu Ghureib und die Menschen wollen
sie auch sehen. Ich glaube nicht, dass alle diese radikalen Blogs legitim
sind, aber ich denke, dass sie die traditionellen Medien ein Stück weit
unter Druck setzen, ihre Zensurpolitik zu hinterfragen.
Ein interessanter neuer Trend
in den Vereinigten Staaten ist das Veröffentlichen von staatlichen
Dokumenten.
Rob Curley von der
Lawrence-Journal
World macht das. Er hat die
Gehälter von allen Professoren der Kansas State University veröffentlicht.
Die Öffentlichkeit hat das
Recht, diese Informationen einzusehen, nur macht das niemand. Und jetzt
entwickelt er gerade eine Anwendung, mit der die Studenten online wählen
können, ob die Professoren ihr Gehalt wirklich wert sind – eine Art „Hot or
Not“ für Professoren. Klar, er sorgt für Unruhe in seiner Gemeinde, und er
verärgert viele Leute. Aber gibt es einen Grund warum die
Öffentlichkeit diese Dokumente nicht sehen sollte? Er wendet
lediglich sein Verfassungsrecht an – das ist öffentliches Gut, aber es
versauert in irgend einem Aktenschrank. Denn solange man diese Dokumente
nicht personalisiert und interessant gestaltet, will sie keiner sehen.
Doch Curley öffnet diesen Schrank und gibt den Menschen einen Grund, sich
mit dieser Information auseinanderzusetzen. Das finde ich
klasse. |
AUSGABE 40
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