Führerschein mit Fünf?
Kommentar:
Corinna E. A. Schütt
Bild:
Photocase.de
Ein knapp zehnjähriges Mädchen sitzt allein auf einer Couch, in der Hand
eine Fernbedienung. Um sie herum buntes Treiben, Zirkus, Abenteuer,
Wissenschaft. Das Mädchen zappt, die Szenerie wechselt. Die sonore Stimme
des Botschafters aus dem Hintergrund erklärt: „In den Medien gibt es so viel
zu entdecken, erleben und staunen.“ Das Mädchen lächelt beseelt und zappt
weiter. „Lassen Sie Ihre Kinder dabei nicht allein“, mahnt fürsorglich der
Botschafter. Es wird dunkel, geisterhafte Schatten huschen über den
Hintergrund. Das Mädchen zieht die Beine an, hält schützend seine Arme über
den Kopf. Kamera-Frontale auf das schmerzverzerrte, angewiderte Gesicht des
Mädchens. „Schau Hin! Was deine Kinder machen“, warnt die Stimme des
Botschafters sonor und unaufgeregt. Es folgt der Abspann mit Nennung der
Sponsoren.
Aufklärung tut Not: Verharmlosung gefährdet
Wer kennt sie nicht, die aktuelle Initiative von Medien und
Bundesfamilienministerium? Die regelmäßigen TV-Spots von "Schau
Hin!" |
AUSGABE 41
DIE
GEGENWART FÜR KINDER
STARTSEITE
EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
INTERVIEW MIT JUTTA LIMBACH
DIE SESAMSTRASSE
ZIGEUNER
IM BAHNWAGGON
FÜHRERSCHEIN MIT FÜNF?
DIE WELT IST KEIN SPIELZEUG
WILDE KERLE UND WUNSCHFEEN
SEHR FRÜH ÜBT SICH
TAGESSCHAU KINDERLEICHT
AMPUTIERTE KLASSIKER
JUGENDMEDIENSCHUTZ
OHRENSCHMAUS IM UNTERGRUND
ES WAR EINMAL, ...
AMERIKA HAT GEWÄHLT
IN
EIGENER SACHE: RÜCKBLICK 2003/04
ALLE AUSGABEN IM ARCHIV
DIE GEGENWART IN STICHWORTEN
ÜBER DAS MAGAZIN
IMPRESSUM
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Kinder sehen
nicht schwarz-weiß: Sie sehen brutal-bunte Bilder
Die Kampagne und die Emotionalisierung ihrer Botschaft im TV-Spot sind für
Fachleute an Harmlosigkeit kaum zu überbieten. Ähnlich dem Aufdruck auf der
Zigarettenschachtel „Nichtraucher leben länger“ werden dunkle Schatten und
schwarz-weiße Kontraste um das Kind herum gezeigt, nicht aber was es
wirklich sieht und hört: Bilder brutal-bunter, blutiger und
menschenverachtender Metzeleien, emotionalisierte Berichterstattung,
theatralisch-untermalende Musik; selbst vermeintlich jugendfreie Filme
wirken besonders auf Vorschulkinder nachweislich so aufwühlend und
aufregend, dass "Schau Hin" von einem TV-Konsum Zweijähriger dringend abrät.
Es ist nicht nur die potentielle Verwechslungsgefahr von Fiktion und
Realität, es sind auch die schnellen Bildfolgen, die schon Neurobiologen und
Hirnforschern um die geistige Entwicklung von Kindern Sorgen bereiten.
Die Logik der Aufklärer: Political Correctness
Doch wer bemerkt diese Informationen auf der Aufklärungs-Homepage schon: Wer
will sie schon bemerken – doch kaum jene, die in Fernseher und Heimcomputer
eine bequeme und billige Alternative zum Babysitter sehen. Wem fällt
außerdem schon nach den Regeln der Logik auf, dass die kleine Darstellerin
im Spot heute schon mindestens sieben Jahre andauernden Medienkonsum hinter
sich haben muss und also kaum noch schützende Arme über sich
zusammenschlagen würde. Außerdem sind, wie man feststellt, eher Jungen als
Mädchen die Opfer unkontrollierten Medienkonsums: Konsequent wäre, einen vom
Dauerbeschuss der Bilder lethargischen Jungen zu zeigen, von einem
Bilderkick zum nächsten taumelnd, fürs Leben gezeichnet, von schulischen und
beruflichen Erfolgen für immer ausgeschlossen. So wie es das ZDF selbst
aktuell im Magazinformat thematisierte: Als negative Folgen der
aufgeweichten
Selbstkontrolle der Computerindustrie wie auch der
zunehmenden
Mediensucht von Kindern (30.11.2004). Das ZDF selbst ist dabei
einer der Initiatoren von SCHAU HIN! – wie passt dies zusammen?
Technologieerfahrung als Berufsvorbereitung: Ja
Medienkompetenz als
Jugendschutz: Nein
Man darf die gegenseitige Abhängigkeit der Medien und den Herstellern von
Medienerzeugnissen nicht vergessen. Wer kann als ungeschulter Betrachter
schon ermessen, wie groß diese ist und weshalb also die Warnhinweise
offizieller Kampagnen so verharmlosend sind? Meinen doch viele Eltern heute, es
würde genügen, ihr Kind in einen Computerkurs zu schicken, dann würde es
schon lernen, selbst Nein zu brutalen Bildern zu sagen und selbst auf den
wichtigsten Knopf am Fernsehgerät zu drücken: Aus. Doch damit überschätzt
man die Wahrnehmung und Fähigkeiten insbesondere kleinerer Kinder bei
weitem. Psychologen warnen dringend davor, Computer-Führerscheine für Kinder
und Jugendliche als vorgelagerten Jugendschutz und Erziehung zur
Selbstständigkeit zu begreifen. Als die bequeme Delegation erwachsener
Verantwortung an die Kinder selbst ist diese Ideologie eine verbrämte Lüge
und macht Kinder fürs Leben alles andere als stark. Dies zu erklären und
darüber aufzuklären, ist zugleich die Aufgabe der Medien wie ihr eigenes
Dilemma: Denn sie selbst sind Teilhaber an einem lukrativen Spiel, das
Eltern von heute kaum durchschauen.
Mediensucht: Die Zivilisationskrankheit der Zukunft
Das müssen sie aber, wollen sie für ihre Kinder wirklich kompetenten
Begleitschutz bieten: Das tun die meisten doch schon täglich beim Bringen
zum und Abholen vom Kindergarten. Dort interessieren sie sich doch auch
dafür, was ihr Kind dort so erlebt: Möchte man meinen. Zuhause sind viele
völlig ahnungslos. Ausgediente TV-Zweitgeräte und PCs landen gern im
Kinderzimmer, auf die in Kindergarten und Schule erlernte Medienkompetenz
der Minderjährigen wird blauäugig vertraut – muss man sich wenigstens mit
dem Filius nicht mehr ums Programm streiten. Mein sechsjähriger Sohn
berichtete mir kürzlich aus der Schule, Klassenkameraden stünden nachts auf,
um Playstation zu spielen – offenbar haben sie freien Zugang und ein eigenes
Gerät im Zimmer. Damit brüsten sie sich in der Schule: Alltag in deutschen
Landen. Die Eltern wundern sich am Ende nur über chronische Müdigkeit,
abfallende Leistungen und ausbleibende Empfehlungen für weiterführende
Schulen. Dort aber wiederum bieten freiwillige Arbeitsgemeinschaften
frühestens in 8. oder 9. Klassen den technisch-aufklärenden Blick hinter die
Medienkulissen: Für die meisten Schüler mit fortgeschrittener
Zapper-Laufbahn seit dem Windelalter oft viel zu spät. An der Ostsee kann
sich das
Wichernhaus, die deutschlandweit einzige Kurklinik für medienabhängige
Kinder, vor Anfragen kaum retten.
Führerscheinneulinge brauchen Beifahrer: Kompetente Eltern
Doch kann es gesamtgesellschaftlich verantwortlich sein, Kuren für
mediengeschädigte Kinder und Jugendliche dauerhaft auf Kosten der
Allgemeinheit zu finanzieren? Die Homepage des Wichernhauses weist einen nur
dreiwöchigen Aufenthalt allein mit 1.137,78 Euro aus, wobei die Klinik für
einen optimalen Erfolg eine Dauer von mindestens vier Wochen empfiehlt. Man
mag es sich in der Bilanz hochrechnen, welche Folgekosten dem
Gesundheitssystem, dem Bildungswesen und der deutschen Wirtschaft noch
bevorstehen, wenn Eltern auf zuzahlungsfreie Kuren und nicht auf ihre eigene
Verantwortung zur Medienerziehung ihrer Kinder vertrauen. Doch wie ein
frischgebackener Führerscheinneuling erst mit seiner Volljährigkeit die
Lizenz zum eigenständigen Fahren-Lernen – nicht zum bereits Fahren-Können! –
erworben hat, braucht ein Vor- und Grundschulkind umso mehr und länger
professionelle Begleitung: Nicht nur durch Trainer in Kindergarten und
Schule, sondern gerade im alltäglichen Umgang mit häuslichen Medien durch
trainierte Eltern. Den Umgang im Sinne der Vorbereitung auf notwendige
Technologiekenntnisse kann und soll es lernen: Aber medienkompetent wird es
nicht von allein. Auch nicht mit den kompetentesten Medien.
Gute Vorsätze fürs neue Jahr wären solche Überlegungen wert. |