Von wilden Kerlen und Wunschfeen
Text:
Stefanie Dracker
Bild:
SamFilm
Harry Potter hat
erfolgreiche kleine Geschwister - ein Porträt der neuen Heldinnen und Helden
aus der Kinderbuchabteilung.
Anna, fünf Jahre alt, hat sich verliebt. Sie kniet auf dem Boden und blättert
ehrfürchtig in einem mit rosa Velour bezogenen Buch. Auf jeder Seite hüpft,
tanzt und fliegt ein kleines, blondes Mädchen in einem
Blumenkleidchen mit silbrig glänzenden Flügeln, übt mit den Vögeln zwitschern,
küsst Blumen wach und zündet abends die Sterne an. Es glitzert und funkelt
überall. Zum Buch gehört außerdem eine richtige Krone. Und rosa
Puschelstifte! Und echte Feenflügel, Sticker-Tattoos, ein Schmuckkästchen
und Beauty-Set! Anna hat das Zubehör noch nicht entdeckt, wird es sich aber
spätestens zu Ostern wünschen.
Für die Abenteuer von Bibi Blocksberg und Lilli ist Anna noch zu klein. Die
stehen auf ein Meter zwanzig Höhe nebeneinander im Regal und verhexen
Leseanfängerinnen, die auch gern zaubern und auf Besen fliegen können
würden. Gibt es eigentlich keine ganz normalen Heldinnen mehr? fragt sich
angesichts der Bilderbuch-Feen und Hexen im schulpflichtigen Alter Annas
Mama, die noch mit Pippi Langstrumpf, Lisa, Inga und Britta aus "Bullerbü",
Hanni und Nanni, Dolly und Bille groß geworden ist. Das sind Mädchen, die
Kuchen backen und auf Bäume klettern können, brav zur Schule gehen (manchmal
auch reiten), mit ihren Brüdern spielen und zanken, im Dunkeln Angst haben,
aber auch sehr mutig sein können. Alles wie im echten Leben. Ihre Tochter
dagegen steht auf Glamour und Glitter, auf eine Prinzessin, deren größter
Kummer ist, beim Feenball nicht das schönste Kleid zu tragen.
Die will ich." haucht Anna und löst ihren Blick nicht von Prinzessin
Lillifee. "Mama, ich hab' ein Buch gefunden!" Es war ja auch kaum zu
übersehen: meterhohe Bücherstapel türmen sich nebst dazugehöriger
Accessoires auf dem Podest. Wer die Welt aus Kleinmädchenaugen betrachtet,
kommt daran nicht vorbei.
Direkt daneben hat die Konkurrenz sämtliche Register des perfekten
Merchandisings gezogen: Felicity, die Wunschfee, ist mit Prinzessin Lillifee
von Coppenrath nicht nur über sieben Ecken verwandt, sondern die Pionierin
im Feen-Segment aus dem Verlagshaus Moses. Felicity ist gebürtige
Engländerin, das sieht man an ihrer vornehm blassen Haut, der
sommersprossengesprenkelten Stupsnase und dem Henkeltäschchen, während
Lillifee mit ihren roten Pausbacken, den rutschenden Ringelsöckchen und
Ballerina-Schläppchen bodenständig-deutsch wirkt. Ein bisschen tolpatschig
und "typisch Mädchen" sind beide: sie fliegen ohne Mantel und Schal durch
die Winterlandschaft, bis die Flügel vereisen. Sie haben übervolle
Kleiderschränke und Zimmer und doch nichts zum Anziehen und Spielen. Sie
fangen an zu schluchzen, wenn ihre Freunde bei der Modenschau sagen: "Du
siehst ja aus wie eine Vogelscheuche!" So herzzerreißend weinen sie, dass
Maus und Bär zu Dolce & Gabbana mutieren oder die besten Freundinnen mit
Fäustlingen und Pudelmütze zur Hilfe eilen. Mit diesen Eigenschaften und
einem effizienten Networking sind beide Mädels überaus erfolgreich: Felicity
verkaufte im ersten Jahr allein in der deutschen Version über 80.000
Exemplare, Lillifee legt einen ähnlichen Höhenflug hin. Im Feenhimmel ist
Platz genug für zwei zartrosa Heldinnen.
Turbulenter und gewaltiger geht es allerdings bei den Jungs zu. "Raaaaaaa!"
ertönt ein vielstimmiger Schlachtruf aus der Kinderbuchecke. Elf Freunde
sollt ihr sein: unter diesem Motto hat der Autor Joachim Masannek den
Kinderbuch-Hit des Jahres produziert und kann sich vor Transfer-, Lizenz-
und Leseangeboten kaum mehr retten. Veranstaltungen mit Masannek und
Mannschaft sind Großereignisse, die Buchhändler zu Eventmanagern machen, der
Baumhaus-Verlag in Frankfurt spielt dank seines Stürmerstars längst in der
Champions League.
"Die wilden Fußball-Kerle" haben binnen kürzester Zeit über 1,3 Millionen
Exemplare der 13-bändigen Buchserie, Tonträger und Lizenzprodukte verkauft.
Unter der äußerst clever und professionell inszenierten Dachmarke mit dem
martialischen Logo ist alles zu haben, was das Jungenherz begehrt: Shirts,
Caps, Hörbücher, Mountain-Bikes, Trainingsbücher, Comics, Kartenspiele, der
(preisgekrönte) Film und ein Film über den Film. Im Frühjahr 2005 kommt der
zweite Teil ins Kino, in dem neben Masannek auch wieder Rufus "die Stimme"
Beck (als Trainer der Wilden Kerle) und der einstige Vorzeige-Macho Uwe
Ochsenknecht (als überforderter Vater) ihre Söhne ins Rennen schicken
dürfen. Eine toughe Mutter, eine patente Oma und ein cooles Quoten-Mädchen
dürfen ebenfalls mitspielen. Und obwohl sich so manche Mutter eines wilden
Kerls angesichts der düster wirkenden Cover- und Poster-Motive mit hohem
Schwarzanteil fragen wird, ob sie ihren Sohn nach der Lektüre noch vom
Fußballplatz weg und zum Zimmeraufräumen kriegt oder er ihr nur noch die
Zähne zeigt, greift sie zu. Denn immerhin schaffen Leon, der Slalomdribbler,
Raban, der Held, Deniz, die Lokomotive und Maxi "Tippkick" das, was
PISA-Studie, Lehrer und Eltern mit Druck allein nicht erreichen: sie bringen
die Game-Boys zum Lesen. Die Abenteuer der wilden Bande, die mit vereinten
Kräften gegen feindliche Platzbesetzer und für den Sieg kämpft und so manche
Konflikte innerhalb der Gruppe und mit den Erziehungsberechtigten löst,
vermitteln glaubhaft, dass Stubenhocker nicht nur einsam, sondern auch out
sind.
Wer angesichts dieser augenfällig klischierten Rollen-Vorbilder für die
unter 10-jährigen wissen möchte, was aus den wunderbaren Wunschfeen und
wilden Kerlen wird und ob sie je zusammenfinden werden, muss nur weiter oben
im Bücherregal gucken: dort geht es weiter. Wenn Anna die
Prinzessinnenschühchen zu klein geworden sind, wird sie sich den "wilden
Hühnern" von Cornelia Funke und den "frechen Mädchen" aus dem
Thienemann-Verlag anschließen. Die erzählen ihr dann, wie es mit den Wesen
aus der anderen Welt klappt und mit welchen Tricks man sie vom Fußballplatz
lockt.
Wilde Kerle und Wunschfeen im Web:
Moses
Verlag
Coppenrath
Die
wilden Kerle online |
AUSGABE 41
DIE
GEGENWART FÜR KINDER
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ZIGEUNER
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FÜHRERSCHEIN MIT FÜNF?
DIE WELT IST KEIN SPIELZEUG
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OHRENSCHMAUS IM UNTERGRUND
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EIGENER SACHE: RÜCKBLICK 2003/04
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