Zigeuner im Bahnwaggon
und Riepls Gesetz
Text:
Hendrik Steinkuhl
Bild:
Photocase.de
„Hallo Tarzan“
„Hallo Gaby, hallo Freunde“
[Klirren]
„Eine Bombe! Tarzan, eine Bombe, jemand hat eine Bombe durchs Fenster
geworfen!“
„Schnell raus damit!“
„Die Bombe ist draußen. Gut gemacht, Tarzan!“
Eine wenig kühne These zu Beginn: Die Hörspielkassette ist ein in vielen
Belangen weit unterschätztes Medium. Bedenkt man, welchen Randphänomenen die
Wissenschaft schon Doktorarbeiten und der Journalismus mehrseitige
Reportagen gewidmet hat, fragt man sich zu Recht, warum die Hörspielkassette
immer noch in Millionen Kinder-kassettenrecordern steckt und kaum beachtet
von der publizierenden Erwachsenenwelt ein ums andere Mal bis zum Bandsalat
abgespult wird.
Im Durchschnitt besitzt ein bundesdeutsches Kind 20 Hörspiele: vom Klassiker
„Benjamin Blümchen“ über den neuen Handwerkerhelden „Bob, der Baumeister“
bis hin zu den erfolgreichsten Jugendhörspielen wie den oben transkribierten
„TKKG“ oder den „Drei ???“. Ihren Anfang nahm die Hörspieltradition in
England, wo die Geschichten in erster Linie für Sehbehinderte konzipiert
wurden. Über das Radio fanden sie ihre Weg auf Tonträger, ab Mitte der 60er
Jahre auch in Deutschland, wo 1976 mit den „Fünf Freunden“ und „Commander
Perkins“ die ersten kommerziellen Serien auf den Markt gebracht wurden. Von
da an traten erst die Schallplatten und dann die Kassetten den viel
zitierten Siegeszug durch die Kinderzimmer an, der – wenn auch abgeschwächt
– weiter anhält und damit eine kommunikationswissenschaftliche
Lieblingsregel bestätigt: Das „Rieplsche Gesetz“ besagt, dass ein
etabliertes Medium von einem neuen nicht gänzlich verdrängt wird, sondern
sich zumindest eine Nische sucht, in der es weiter besteht. Detlef Kurtz,
verantwortlich für die Website
hoernews.de, hat dieselbe Beobachtung gemacht:
„Erstaunlicherweise hielt sich die Hörspiel-MC nach der Einführung der CD
als Hörspielmedium. Die Hörspiele haben bisher jeden Trend überlebt und
führen – zumindest in Geschäften – ein kleines Dasein, das im Vergleich zur
DVD oder PC-Spielen weniger abwirft, aber doch länger beliebt bleibt.“
Ein Revival feierte die Hörspielkassette gegen Ende der 90er Jahre,
unterstützt auch durch die Vielzahl gut gemachter Hörbücher des Hörverlages,
dem die Entwicklung einer neuen Audiokultur in Deutschland zu verdanken ist.
Viele Klassiker der 70er und 80er Jahre wurden neu aufgelegt und hatten vor
allem bei den inzwischen volljährig gewordenen „Kassettenkindern“ der ersten
Generation einen nostalgisch gefärbten Erfolg. In der Welt junger
Erwachsener ist die Hörspielkassette inzwischen Kulturgut. Wenn man nicht
zum Vollplayback-Theater der "Drei ???" geht oder die alte Gewohnheit wieder
aufleben lässt (sie vielleicht auch niemals abgelegt hat) zur
Hörspielkassette einzuschlafen, so hat doch jeder eine Lieblingsserie und
wenigstens jeder zweite weiß, wie man den Kopierschutz einer
Hörspielkassette mit Tesafilm aushebeln kann.
Während aber wie angedeutet die Auswirkungen etwa von Gewaltdarstellungen in
Fernsehen und Computerspielen minutiös untersucht sind, finden sich nur
wenige Studien über den pädagogischen Wert, respektive Unwert, von
Hörspielen.
„Bei den Eltern hat die Hörspielkassette einen Vertrauensbonus: Kassetten
hörend wähnen sie ihre Kinder, zum Beispiel in der Freizeit oder bei Krankheit,
bestens unterhalten und sinnvoll ‚beschäftigt’“, schreiben dazu die beiden
Pädagoginnen Irmgard Schroll-Decker und Inga Peicher, die dem Hörspiel
ebenfalls einen Erforschungsrückstand attestieren. Dabei kann allein von
dialogischer Qualität, wie in dem oben transkribierten TKKG-Ausschnitt, bei
vielen Hörspielen keine Rede sein. Auch in punkto Differenziertheit fallen
viele Hörspiele in Vergleich zu den oftmals politisch überkorrekten Kinder-
und Jugendbüchern deutlich ab. In den Abenteuern der TKKG-Bande zum Beispiel
geben sich die Bösewichter überaus häufig durch berlinerisch anmutende Namen
wie „Pölke“ oder „Kowalske“ schon im Personenregister zu erkennen, und bei
den Fünf Freunden sind die Verbrecher schon mal Zigeuner, die in einem alten
Bahnwaggon hausen. Dass Eltern darum meist nicht wissen, steht nach Meinung
von Schroll-Decker und Peicher „im Widerspruch zur nachhaltigen Wirkung, die
dem traditionellen Hörspiel im Vergleich zum Buch oder Film bescheinigt
wird“. An dieser Stelle wird zumeist das Beispiel von Orson Welles’ „Krieg
der Welten“ angeführt, dem Hörspiel, das 1938 Tausende amerikanischen
Radiohörer aus Angst vor der Invasion Außerirdischer in einer Massenpanik
aus den Städten trieb. Dass in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vor
allem wegen der großen Suggestivkraft der bloßen Stimme, die Adolf Hitler
über den Volksempfänger für sich zu nutzen wusste, Radiolizenzen – und zwar
bis heute – nur unter strengen Auflagen vergeben werden, liest man hingegen
selten.
Gerade für Kinder geht eine immense Faszination von Hörspielen aus, deren
Gefahr zumeist in der Herausbildung abstrakter Angstvorstellungen liegt.
Sicher ist, dass die äußerst intransparent agierenden Hörspielverlage ihrer
großen Verantwortung hier nicht voll gerecht werden. Detlef Kurtz
jedenfalls rät Eltern, eine Kassette zusammen mit ihren Kindern oder sogar
zunächst alleine anzuhören, „um keine bösen Überraschungen zu erleben,
denn eine gute Altersempfehlung findet man sehr selten“. |
AUSGABE 41
DIE
GEGENWART FÜR KINDER
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EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
INTERVIEW MIT JUTTA LIMBACH
DIE SESAMSTRASSE
ZIGEUNER
IM BAHNWAGGON
FÜHRERSCHEIN MIT FÜNF?
DIE WELT IST KEIN SPIELZEUG
WILDE KERLE UND WUNSCHFEEN
SEHR FRÜH ÜBT SICH
TAGESSCHAU KINDERLEICHT
AMPUTIERTE KLASSIKER
JUGENDMEDIENSCHUTZ
OHRENSCHMAUS IM UNTERGRUND
ES WAR EINMAL, ...
AMERIKA HAT GEWÄHLT
IN
EIGENER SACHE: RÜCKBLICK 2003/04
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