Rick
Astley, Nik Kershaw, Stadionhits und eine Kindergärtnerin mit selbst
gestrickten Pullis
Text:
Hendrik Steinkuhl
Bild:
Photocase.de
Auch
wenn viele es nicht glauben wollen:
Die 80er Jahre waren wichtig.
Und es gibt sie immer noch.
Tolerant wie wir sind kann man
niemandem davon abhalten, die 80er als das Jahrzehnt des schlechten Geschmacks
zu verdammen. Wer sie hingegen Dekade des Stillstands nennt, der mag
zwar politisch weitgehend Recht haben, irrt aber in seiner Einschätzung
genau so wie es diejenigen tun, die meinen, man könne sich nur qualifiziert
über die 80er Jahre äußern, wenn man vor 1975 geboren worden ist.
Ich, Jahrgang 1981, erinnere mich noch ausgesprochen gut an meine
Kindergärtnerin, die stets selbst gestrickte, schulterfreie Pullover
getragen hat und auch daran, dass wir nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl
nicht mehr im Sand spielen durften. Noch besser aber erinnere ich mich an
die Musik dieser Zeit, auch deshalb, weil sie, vergleichbar dem englischen
Present Perfect, bis in die Gegenwart (in diesem Fall im doppelten Sinne)
hineinwirkt. Wir, die wir Populärmusik in ihrer
unterschiedlichsten Form hören, leben mit den 80ern und ihrem Erbe viel
mehr, als die meisten es vermuten würden.
Vor einigen Wochen, als ich im Weserstadion auf der Tribüne festzufrieren
drohte, fiel mir wie zum ersten Mal auf, was den Fans im Vorprogramm eines
Bundesligaspiels neben Mannschaftsaufstellung und sonstigem Trara geboten
wurde: „Walking On Sunshine“ von Katrina And The Waves, „It’s Raining Men“
von den Weather Girls, „Whatever You Want“ von Status Quo, „Summer Of 69“
von Bryan Adams, und so weiter. Die Mehrzahl der so genannten „Stadionhits“
sind Popsongs aus den 80er Jahren; und das nicht nur im Weserstadion. Neben
den genannten ist auch „Jump“ von Van Halen in genau so vielen Arenen
unverzichtbar wie „The Final Countdown“ von den dauergewellten Europe.
Um weiter beim Sport zu bleiben: Wer am 19. Februar das Sportstudio gesehen
hat, durfte mal wieder den Einmarschklassiker „Eye Of The Tiger“ von
Survivor hören, mit dem die originellen ZDF-Redakteure den „Tiger“ Dariusz
Michalczewski nun auch noch zum Interview begleiten mussten. Als wenn wir
diesen Song nicht schon bei Dutzenden Boxkämpfen gehört hätten, falls nicht
der jeweilige Titelträger im gewohnten Überschwang der Branche gleich „The
Best“ von Tina Turner hat auflegen lassen – beides natürlich Songs aus den
80ern. Kein Titel aus dem vorvergangenen Jahrzehnt ist allerdings so eng mit
einer professionellen Freizeitbetätigung verknüpft wie Yellos „The Race“ mit
dem Motorsport. Es ist nur folgerichtig, dass mit der Formel 1 auch die
Musiksendung der 80er Jahre nicht ohne den Hit dieser zwei komischen älteren
Herren aus der Schweiz auskommen konnte.
Und wenn man nun 15 Jahre nach dem Ende des besagten Jahrzehnts nicht gerade
eine Sportübertragung sieht, dann klingelt immer irgendwo ein Handy, oft mit
der Melodie von „Knight Rider“, dem „A-Team“, „Magnum“, vielleicht auch „Halloween“
oder den Indiana Jones-Filmen; natürlich, quod erat expectatum, allesamt
Serien und Filme der 80er Jahre. Um die Reihe fortzusetzen: Als ich unlängst
bei dem Playstation-Spiel „SingStar“ meine ersten Karaokeerfahrungen sammeln
durfte, war ich (als bekennender Fan der 80er Jahre) überaus erfreut, dass
die Mehrzahl der Titel auf beiden Ausgaben der CD aus eben jenem Jahrzehnt
stammen; von Motörhead angefangen, über Culture Club bis hin zu A-ha.
Was nun, um nach dem Namedropping auf die verneinte These des Beginns
zurückzukommen, macht die 80er Jahre eben nicht zu einem Jahrzehnt des
Stillstandes, was lässt diese Behauptung geradezu obsolet erscheinen? Für
die Musik ist es einfach zu beantworten: Die 80er brachten die Popmusik, wie
wir sie heute kennen, als den Mainstream, der im Radio und in Fußballstadien
läuft, den man nebenbei hören oder wozu man problemlos mitsingen kann.
Gleichzeitig – wenn man Popmusik nicht als Genre, sondern als Inbegriff von
populärer Musik versteht – sind die 80er Jahre vor allem für die
Diversifizierung der modernen Unterhaltungsmusik verantwortlich. Damit
einher ging wie nie zuvor eine Verknüpfung und Identifikation der
(vorzugsweise) Jugendlichen mit ihrer jeweilig bevorzugten Musik. Analog zur
auditiven Differenzierung strebte die junge Gesellschaft auseinander, und
vielfach stand dabei eine Band, ein Lied oder sogar ein Instrument
stellvertretend für das, was die Jugendlichen darstellten. Ohne den
Digital-Synthesizer etwa, der 1983 auf den Markt kam, sind Depeche Mode und
ihre Anhängerschaft nicht denkbar. Die Engländer prägten den technischen
Popsound des New Wave und ließen Millionen (meist männlicher) Fans ihre
Finger schwarz lackieren, diese Farbe überhaupt zu ihrem Markenzeichen in
Ausstattung und Ausstrahlung machen. Farblich auf derselben Seite,
instrumentell aber durch die E-Gitarre repräsentiert, standen die Punks, die
Farbe nur auf dem Kopf zuließen und vorwiegend Lieder hörten, die in enormem
Tempo abgespielt schon nach zwei Minuten zu Ende waren. Sie wandten sich in
Aussehen und Einstellung wohl gegen jede Form der Etablierung, diskutierten
auch mal mit dem Busfahrer seine Rolle als Unterdrückter im kapitalistischen
System und hatten ein auffälliges Faible für bissige Hunde. Den Punks (oder
wie in den 80ern Punkern) gegenüber fuhren die Popper als stolze
Teile der freien Marktwirtschaft weiße oder rote Cabrios, aus deren
Autoradios Spandau Ballet, Rick Astley oder sogar Modern Talking dröhnten.
Sobald sie das BWL-Studium beendet hatten, wurden sie zu Yuppies, die
spätestens nach Boris Beckers Wimbledonsieg 1985 Tennis zum Nationalsport
und den Pullunder zum modischen Kleidungsstück machten. Natürlich gab es
auch die Anhänger klassischen Gitarrenrocks, der in den 80ern allerdings ein
gewisses Schattendasein führte, wenngleich die oben genannte
Diversifizierung vor allem auf seine härtere Variante, den Heavy Metal,
zutrifft: Speed Metal, Trash Metal, White Metal, Death Metal, all das und
mehr bildete sich vornehmlich zwischen Nato-Doppelbeschluss und Mauerfall
aus.
Und eigentlich darf man auch Run DMC, Grandmaster Flash und die Beastie Boys
nicht vergessen, die am Beginn der Entwicklung des Hip-Hop als heute
vielleicht populärstem Musikstil in der Massenkultur standen; doch dann
müsste man auch die Wurzeln des Techno ausgraben, die im Grunde genau so in
den 80ern liegen wie des modernen germanischen Popsongs, damals verkörpert
durch die Neue Deutsche Welle.
Also von wegen Stillstand,
lautet das Zwischenfazit. Ganz im Gegenteil, es bewegten sich die
80er, wenn auch in unterschiedlichste Richtungen, aber das bis heute. So
steht dieses Jahrzehnt denn auch am Beginn des auf eine Formel gebrachten
Niedergangs im deutschen Hörfunk: Die Superhits der 80er, 90er und das
Beste von heute hat nahezu jedes Formatradio im Programm. Mögen es auch
die Megahits und/oder die Hits von heute sein, wahr ist, dass
der chronologisch geordnete Musikpool fast aller Mainstream-Radiostationen
im Jahr 1980 beginnt. Sie sorgen dafür, dass sich der inzwischen dreifache
Vater-Yuppie – nun im Kombi – bei Nik Kershaw wehmütig an seine breite
Haarlocke über dem rechten Auge erinnert und der 18-Jährige neben ihm auf
der 80er-Party am nächsten Wochenende „I won’t let the sun go down on me“
mitgrölen kann. Ob er dort hingeht, statt zur Black-Music-Night in die
Großraumdisco, ist allerdings fraglich. Sicher ist nur, dass wenn er auf
eine nostalgisch eingefärbte Party gehen will, die Wahrscheinlichkeit, dass
er auf einer 80er-Fete landet, am höchsten ist. Denn seitdem das
vorvergangene Jahrzehnt vor rund drei Jahren plötzlich großer Trend war, ist
ein endgültiges Auslaufen dieser natürlich eingesunkenen Welle nicht
abzusehen.
Aber wieso auch? Treffen doch die Songs der oft verächtlich als „Bubblegum-Pop“
bezeichneten Musik den Massengeschmack am besten und sind dabei im Mittel
weitaus origineller als das, was in den 90ern und den vergangenen Jahren
folgte. Immer noch rennen junge Mädchen zu Madonnas „Like A Prayer“ wie
konditioniert auf die Tanzfläche, und obwohl sie stören, mag man sie
deutlich lieber als diejenigen, die zu Ushers „Yeah“ aufdringlich die
speckigen Hüften kreisen lassen.
Die 80er waren und sind überall; das nicht zuletzt auch durch Kinofilme und
häufig deren Soundtracks, die ebenfalls erst in diesem Jahrzehnt zum
Standard wurden. Das gänzlich überstrapazierte „The Time Of My Life“ aus
Dirty Dancing (kennt eigentlich jemand die Interpreten Bill Medley und
Jennifer Warner?), Ray Parkers „Ghostbusters“ aus dem gleichnamigen Film
oder die Hits der unglaublichen „Blues Brothers“, um nur einige zu nennen.
Natürlich können jetzt die jungen Studenten mit dem Hinweis kommen, dass in
ihrem heutigen Leben Franz Ferdinand, Radiohead, Adam Greene und Wir sind
Helden die Hauptrolle spielen.
Und die 80er?
Welche 80er?
Dazu sei angemerkt: Liebe
Gleichaltrigen. Das alles ist schöne Musik, ihr habt ja Recht. Doch auch
wenn ihr Heinz Rudolf Kunze nicht kennt und ihn, falls doch, völlig uncool
fändet – der typische Klang dieses Jahrzehnts, den man so schwer beschreiben
kann, steckt wie kein anderer auch in der gegenwärtigen Musik. Als die New
Yorker Scissors Sisters zuletzt bei den Brit Awards ausgezeichnet wurden,
gingen die Preise an eine Band, der die Presse quasi unisono das Attribut
„Im Sound der 80er Jahre“ zugewiesen hatte. In Deutschland sind es Gruppen
wie 2Raumwohnung oder eben auch Wir sind Helden, denen man deutlich anhören
kann, woher sie musikalisch sie kommen.
Als ich übrigens im vergangenen Jahr eines der Helden-Konzerte besuchte,
hätte der Rahmen für mich nicht besser sein können: Bevor die Band auf die
Bühne kam, ließ sie „Caravan Of Love“ von den Housemartins spielen, als
letzte Zugabe schließlich sang Frau Holofernes doch tatsächlich „51st State
Of America“ von New Model Army. Von wann diese Lieder sind? Ja ja. |
AUSGABE 42
MUSIK: DIE STENOGRAFIE DES GEFÜHLS
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EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
VIDEO
KILLED THE VIDEO STAR?
MUSIC WAS MY FIRST LOVE
FROM SOUTH TO CENTRAL
MUSIK FÜR WIEDERVERKÄUFER
DIE WICHTIGEN 80ER: RICK ASTLEY UND
CO.
IN DER MUSIKALISCHEN GRAUZONE
RETTUNGSANKER DER
MUSIKBRANCHE?
KURIOSITÄTENKABINETT DER CHARTS
FÜNF FRAGEN/ZEHN ANTWORTEN
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WAS IST EIGENTLICH
DRUM&BASS?
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