„Video killed the Video Star?“
Text:
Claus Hesseling
Bild:
Photocase.de
„Das
Musikfernsehen ist tot“, sagt Steve Blame, einer der Pioniere von MTV
Europe. Harte Worte. Doch was ist wirklich geblieben von den wilden
Anfangsjahren des Musikfernsehens? Anstatt Nischen für anspruchsvolle
Musikformate zu erhalten, schicken MTV und VIVA fast nur noch Unmengen an
Klingeltonwerbung, Dating-
und Autoaufmotz-Shows wie "Pimp my ride" über den Äther. Trotz eingedampfter Etats kämpfen Musiker
und Regisseure für interessante Musikvideos. Doch: Die passende Plattform
dafür gibt es nicht mehr. Kann das Musikfernsehen im Internet
wiederauferstehen?
Mein erstes Mal war bei
Sabine. Da war ich gerade mal 13. Nein, nicht dass,
was Sie jetzt denken mögen – mit derart Zwischenmenschlichem hatte ich
damals noch nichts am Hut, zumal Sabine auch mit meinem Kumpel Nico ging.
Aber in Sabines sehr geschmackvoll eingerichtetem Jugendzimmer mit dem
kleinen Fernseher auf dem Regal erblickte ich es zum ersten Mal:
das
Musikfernsehen. Genauer gesagt: MTV. Damals noch live aus London, England.
Das pupertäre Agenda-Setting der Schulklasse hatte das Thema bereits seit
Monaten ganz weit oben angesetzt. Aber wir, die immer kleiner werdende
Minderheit, die nur ARD, ZDF und den WDR empfangen konnte, war
ausgeschlossen. Übrigens auch beim allwöchentlichen Tratsch über „BravoTV“,
„Beverly Hills 90210“ und Co. |
AUSGABE 42
MUSIK: DIE STENOGRAFIE DES GEFÜHLS
STARTSEITE
EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
VIDEO
KILLED THE VIDEO STAR?
MUSIC WAS MY FIRST LOVE
FROM SOUTH TO CENTRAL
MUSIK FÜR WIEDERVERKÄUFER
DIE WICHTIGEN 80ER: RICK ASTLEY UND
CO.
IN DER MUSIKALISCHEN GRAUZONE
RETTUNGSANKER DER
MUSIKBRANCHE?
KURIOSITÄTENKABINETT DER CHARTS
FÜNF FRAGEN/ZEHN ANTWORTEN
DEUTSCHE BEATS +
RUSSISCHE SÄNGER
WAS IST EIGENTLICH
DRUM&BASS?
ALLE AUSGABEN IM ARCHIV
DIE GEGENWART IN STICHWORTEN
ÜBER DAS MAGAZIN
IMPRESSUM
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Wir hatten nur „HitClip“
auf dem Dritten, wochentags von drei bis halb vier – eine halbe Stunde lang
versorgte uns der freakig-brave Moderator Thomas Germann mit fünf bis sechs
Clips. Das musste reichen.
MTV war anders. MTV war frischer, rockiger, anarchischer, einfach geil!
Coole Musik aus den Staaten und dem Königreich, coole Videos, coole kleine
Station-Trailer und coole Moderatoren wie Steve Blame, Ray Cokes und Paul
King. Doch mehr als 18 Jahre nach dem Start von MTV in Europa hat sich viel
getan: |
ZUR PERSON |
Während Dieter Gorny
und die Plattenindustrie im Jahr 1993 VIVA aus der
Taufe hoben, verschwand MTV im Pay-TV. Doch kein Zuschauer war bereit, dafür
Geld auszugeben. Und als schließlich das deutschsprachige MTV frei
empfangbar an den Start ging, hatte VIVA gleichgezogen. Doch aus dem Patt
ist in Krisenzeiten der Musikindustrie eine vernichtende Niederlage für die
Kölner geworden.
Wie geht es also weiter mit dem Musikfernsehen und seinem wichtigsten
Inhalt, den Musikvideos?
„VIVA und MTV sind heute Entertainment-Kanäle für Jugendliche – das
richtige Musikfernsehen ist tot!“ Der Mann, der das sagt, war einst eines
der wichtigsten Gesichter von MTV Europe. Zwischen 1987 und 1994 moderierte
Steve
Blame die MTV News, interviewte alle wichtigen Popstars, aber
auch Michael Gorbatschow oder den Dalai Lama. „Als
ich bei MTV Europe anfing, waren meine Kumpel aus der Club-Szene in London
ganz schön beeindruckt. Es war eine Zeit der Innovationen, wir wollten
einzigartig sein“, erinnert sich Blame an die wilde Anfangszeit. Die
Show-Formate von Musik- und normalen Privatsendern hätten sich heute so
stark angenähert, dass man sie mittlerweile nur noch schwer unterscheiden
könne: „Die Show von Sarah Kuttner könnte auch problemlos auf ProSieben
laufen.“ |
Die Musiksender hätten
gezeigt, worum es ihnen tatsächlich geht, „nämlich nicht coole Musik zu
bieten, sondern möglichst viel Werbung zu buchen und
Geld zu verdienen.“ Der Hauptinhalt von früher spielt nur noch am Rande eine
Rolle.
Spätestens seit dem Ende der wenigen Nischenformate
wie Charlotte Roches „Fast Forward“, hat das Musikfernsehen als Sprungbrett
für neue Künstler ausgedient. Newcomer wie die Band
„Wir sind Helden“ wurden schon lange im Radio gespielt, bevor ihre Videos
auf MTV liefen. „Im Vergleich zum Musikfernsehen hat
das Radio inzwischen in der Tat wieder mehr mit Musik zu tun. Sendungen wie
der „EinsLive Kultkomplex“ sind einzigartig, wenn es darum geht, neue Musik
zu hören und wirklich etwas darüber zu erfahren“, sagt Ingo Schmoll.
Und was ist aus den Musikvideos geworden?
„Als die ersten Musikvideos auf den Markt kamen, sahen Künstler diese als
Erweiterung ihrer künstlerischen Möglichkeiten. Als Budgets immer weiter
gekürzt wurden, hatten es Musiker und Regisseure immer schwerer, ihre Ideen
auf den Bildschirm zu bekommen“, so Steve Blame. „Die Plattenfirmen haben
sich gedacht: Robbie Williams ist berühmt, lass uns einen deutschen Robbie
finden. Wendet man diese Theorie auf die Musikvideos an, sieht man sofort,
dass die Symbolik erfolgreicher Videos einfach kopiert wurde – jedoch mit
einem kleineren Budget. Auf lange Sicht kann das nicht funktionieren.“
Das haben auch die Plattenfirmen mittlerweile eingesehen: „Vor einem Jahr
standen wir vor der Situation, dass die Etats für ein Musikvideo soweit
herunter gefahren wurden, dass sich kein Produzent oder Regisseur mehr
gefunden hat, der das machen wollte. Die Situation hat sich wieder leicht
verbessert“, erklärt Tim Keul, Freelancer-Regisseur aus Hamburg. Für einen
durchschnittlichen Clip sind im Marektingetat eines Acts circa
25.000 bis 30.000 Euro vorgesehen, ein
Zehntel von dem Geld, das in den USA oder
Großbritannien ausgegeben wird. Und das nur, wenn die Plattenfirma überzeugt
ist, dass sich der Song weit nach oben in die Charts vorarbeitet. Bei
Newcomern darf ein Video höchstens ein paar tausend Euro kosten. Dass aus
dieser Not ab und zu auch etwas Spannendes entstehen kann, zeigten die
beiden Berliner Florian Giefer und Peter Göltenbot: Ihr aus Einzelbildern
fotografierter Comic-Strip zum Lied „Guten Tag“ von
„Wir sind Helden“ schaffte es selbst ohne Unterstützung einer Plattenfirma
ins Musikfernsehen, wurde dort rauf und runter gespielt und erhielt 2004 den
Echo als bestes Newcomer-Video. Seitdem sind die beiden für alle Videos der
„Helden“ verantwortlich.
Ob Newcomer oder nationaler Star – mehr als ein Drehtag ist meistens nicht
drin. „Man versucht dann, soviel wie möglich rauszuholen. Manchmal dauert
dieser eine Drehtag bis zu 24 Stunden“, so Tim Keul, der unter anderem das
preisgekrönte Video „Durch die Nacht“ für Silbermond drehte. Extrem
anstrengend sei das für alle im Team, vor allem aber für die Band selber.
Umfangreiche Special-Effects, mehrmaliges Neudrehen von Sequenzen oder ein
Dreh im Ausland sind nur selten möglich.
„In diesem Rahmen haben Regisseur und Produzent jedoch relativ freie Hand.“
Auf Anfrage der Plattenfirmen entwickeln die Regisseure ihre Treatments. Nur
die wenigsten können ausschließlich davon leben, viele arbeiten zudem als
Werbefilmer. „Im Gegensatz zu einem Werbespot hat man bei einem Musikvideo
nicht nur 30 Sekunden, um eine Geschichte zu
erzählen. Deshalb werden Musikvideos für Regisseure immer interessant
bleiben“, so Tim Keul. „Zudem kann man mit einem Video das Image einer Band
sehr stark beeinflussen.“
Der Druck, der bei dem gesamten Prozess auf Regisseur, Produzent, aber vor
allem auf den Mitarbeitern der Plattenfirmen lastet, ist immens. Manchmal
kann das Abschneiden eines Newcomers über das Fortbestehen eines ganzen
Plattenlabels und damit über dutzende Jobs entscheiden.
Doch auch wenn ein Video die Abnahme durch Band und Plattenfirma geschafft
hat: Die Entscheidung über Erfolg oder Flop steht noch bevor: „Damit es in
die Rotation aufgenommen wird, muss ein Video das wöchentliche Meeting in
den Musiksendern überstehen“, so Steve Blame, der nach seinem Ausscheiden
bei MTV ab 1994 Viva Zwei aufbaute. „Dabei werden
alle neuen Videos gezeigt und die Entscheidung wird aufgrund von zwei
Faktoren getroffen: Verkäufe und Airplay. Gelegentlich wird ein gutes Video
in die Rotation aufgenommen, auch wenn der Song nicht so gut läuft.“ Dabei
kommt es oft auf das richtige Timing an, weiß Tim Keul: „Wenn die Sender
fünf bis zehn neue Videos pro Woche aufnehmen und in einer Woche schon
Britney Spears, Robbie Williams und U2 dran sind, hat es eine neue deutsche
Band natürlich schwer.“ Viele der produzierten Musikvideos landen jedoch im
Papierkorb – und nicht nur die billigen. Der Rest schmückt den wenigen
freien Sendeplatz zwischen „Pimp my Ride“ und „Sweety"
dem Küken. „Obwohl dem Zuschauer die Klingeltonwerbungen zum Hals raushängt,
kommt trotzdem niemand bei MTV und Co auf die Idee:
na dann lassen wir die mal weg“, kritisiert Ingo Schmoll. „Ich bin großer
Musikfan und schaue kein Musikfernsehen mehr, sondern suche mir „meine
Musik“ inzwischen auf anderen Wegen.“ Doch es gibt Hoffnung: „Die Kunstform
Musikvideo ist ebenso wenig tot, wie die immer mal wieder tot gesagte
Rockmusik“, so Schmoll. |
Eine neue Plattform dafür
wäre zum Beispiel
tunespoon.tv.
Unter dieser Web-Adresse haben sieben Studenten und ein Professor der
Fachhochschule Furtwangen einen 24stündigen Musikvideo-Stream auf die Beine
gestellt. Die gezeigten Clips werden von den Plattenfirmen kostenlos zur
Verfügung gestellt und finden nur selten den Weg ins normale Musikfernsehen.
Speziell kleine Labels sollen ermuntert werden, die Videos ihrer Musiker
einzureichen.
Bald könnten auch die jugendlichen Zuschauer MTV und VIVA den Rücken kehren,
fürchtet Tim Keul: „Musik und auch Musikfernsehen hat etwas mit Herzblut zu
tun. Die Kids spüren das, und sie spüren, wenn es nicht mehr da ist. Sie
werden sich ein anderes Medium suchen.“ Der Hamburger Regisseur appelliert
auch an die anderen Fernsehsender: „In den letzten Jahren haben Bands wie
"Wir
sind Helden", "Juli"
oder "Silbermond"
in den Plattenverkäufen viele internationale Acts hinter sich gelassen. Es
ist klar, dass die Nische „anspruchsvolles, deutschsprachiges
Musikfernsehen“ zur Zeit nicht besetzt ist. Als öffentlich-rechtlicher
Sender würde ich hingehen und diese Lücke ausnutzen und jüngere Zuschauer
zurückgewinnen.“
Eines ist für Tim Keul klar: „Musikvideos werden nicht aussterben und es
wird immer wieder Videos geben, die uns bewegen, die uns überraschen.“ |