Kleines Kuriositätenkabinett der Charts
Text:
Petra Bäumer
Bild:
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Mit grünem Gesicht und roten Bäckchen, gut verpackt im Krokodil-Kostüm,
winkt der Pop-Sänger Seal von einem Karnevals-Wagen in Bergisch-Gladbach.
Schuld daran ist die Popularität eines Liedes: Schnappi, das Krokodil vom Nil. Lange vor
dem rheinischen Festzug hatte Schnappis Siegeszug begonnen. Schnappi, vor drei Jahren
für die Sendung mit der Maus erdacht und als Mp3 ins Internet gestellt, ist
heute die Nummer Eins der deutschen Charts.
Comedy, Cover, Kinderkram
Die Entwicklung, dass ein Kinderlied die Massen
deutschlandweit begeistert, ist nicht neu. Düster dräut noch der „Eins, zwei, Polizei“-
oder eine „Insel mit zwei Bergen“-Refrain im Gedächtnis. Auch „Veo, veo“,
der letztjährige Sommerhit, ist lediglich eine Eins-zu-eins-Wiedergabe eines
spanischen Kinderreims. Es ist jedoch das erste Mal, dass ein Chartphänomen
direkt aus dem Netz kommt. Zuvor fanden Hits dieser Art oftmals über den
Umweg der Partyhochburg Mallorca in die deutschen Verkaufsrankings. So
landen immer wieder Spaßcover wie „Pump ab das Bier“ oder Comedians wie die
Doofen mit „Mief“ in den Top Fünf. Noch günstiger ist es natürlich, wenn ein
Lied wie etwa die Nummer Eins im Januar 1982, „Polonäse Blankenese“, dann auch
passend zu Karneval auf dem Markt kommt.
Beim Krokodil sah Universal seine Chance und störte sich nicht daran, dass
es das Lied bereits seit längerer Zeit im Netz gab. Die Käufer störte das
auch nicht: mehr als 600.000 Mal wurde das obskure Liedchen gekauft,
erreichte Doppelplatin und wurde somit endgültig zum „Kult“. Das Prädikat
„Kult“ allerdings ist immer häufiger ein Synonym für „unerklärbar“. Fakt
ist, ein Kult wird nicht einfach erfolgreich geboren. Zumindest nicht ohne
Mithilfe zahlreicher medialer Geburtshelfer. Schon Ende letzten Jahres hatte
man vielerorts Schnappi als Gag aus dem Netz geladen. So erschien das Lied
als Insidertipp bei Spiegel Online oder in den Redaktionscharts des
Fachblattes „Spex“. Auch der Jugendsender Eins Live präsentierte Schnappi
vor Wochen als Neuvorstellung in den Hörercharts. Ebenso wie es die Charts
in Windeseile eroberte, schaffte es der Schnappi-Song in die Rotation fast
jedes Radiosenders. Das bunte Video dudelt inzwischen auch bei Viva und ein
übergroßes Stoffkrokodil stolpert durch die Fernsehlandschaft. RTLs Sendung
„Top of the Pops“ und Stefan Raabs „TV Total“ auf ProSieben bleiben
natürlich nicht ausgenommen. Für die Platte steht RTL II Pate, sowieso.
Und nachher will es wieder keiner gewesen sein
Während man vorne noch feiert, wird im Untergrund des Netzes bereits an
Schnappi-Shooterspielen gebastelt. Nach einem Jahr in den Top 40 liegt bei
anderen auch „dr Holzmichl“ der sächsischen Volksmusikcombo „de Randfichten“
schmerzhaft in den Ohren. Als Folge der ausdauernden Frage, ob er denn noch
lebe, wurde die Parole „Tötet den Holzmichel“ ausgerufen und auf Stickern
und T-Shirts verbreitet. Jetzt ist auch bei Schnappi bald der Witz weg, so
scheint es. Die Pointe wird nicht dadurch lustiger, dass man sie öfter hört.
Spätestens mit der eingeleiteten Klingeltonoffensive distanzierte sich Spex
von dem lustigen Liedchen. MTV und Eins Live sind ebenfalls auf Distanz
gegangen. In dem engen Zirkel der samstäglichen Charts muss Schnappi dort
nun ein einsames Dasein fristen.
Merchandising satt
Kein Wunder, schließlich macht die Allgegenwart des
Krokodils vor keinem Marktwinkel
halt. Es gibt nicht nur Sticker und Schlüsselanhänger,
nein, die gesamte
Merchandising-Palette wird ausgereizt. Dass mit der richtigen
Marketingstrategie noch mehr zu holen ist, haben auch „de Randfichten“
bemerkt. Rein optisch kann ihr echter „Erzgebirgs-Holzmichl“ zwar nicht ganz
mit dem niedlichen Krokodil mithalten, 17.000 Stück der Holzfigur allerdings
konnten auch sie in den letzten zwei Jahren an den Mann bringen. Mit den im
November 2004 gesicherten Lizenzrechten an Schnappi freut sich die Bavaria
Sonor GmbH auf gute Zeiten. Plüsch, Puzzles, Gesellschafts- und
Computerspielen warten, wenn der Ruhm nur lang genug anhält. „Unglaublich viele Vorbestellungen. Das hat es so
noch nicht gegeben!“ frohlockt Sales-Manager Christian Keller begeistert.
80.000 Plüschtiere sind bereits im Handel und noch mindestens genauso viele
Käufer wollen mehr davon – auch von der kommenden Schnappi-Kleiderkollektion.
Keller hat definitiv Recht, so was hat es noch nicht gegeben. Ob nun die Big
Brother Bande oder Vater Abraham samt Schlümpfen – lange konnte das
Chartphänomen der Trash-Lieder die Spitzenposition der Charts in Deutschland
nur für Kurzbesuche buchen. Das neue Jahrtausend der Unglaublichkeiten
läutete erst Medienprofi Stefan Raab 1999 mit dem „Maschen-Draht-Zaun“-Song
und Regina Zindler ein. Wie heute Schnappi biss sich seine dauerbeworbene
Parodie sieben Wochen an der Chartspitze fest.
Mit dem Lama nach Yokohama?
Ein wenig Trost spendet der Blick in andere Länder. „You touch my ding dong,
you touch my tralala“ lautet beispielsweise der viel versprechende Refrain
des letzten Schreis der Charts in Schweden, zielsicher interpretiert von
„Günther and the Sunshine Girls“. Vom Kroko Italo und Schnappi Beat Mix bis
hin zur mittlerweile verbotenen Rammsteinmischung eines Radiosenders scheint
das musikalische Schnappi-Feld in Deutschland abgegrast zu sein. Die nächste
Singleauskopplung des kommenden Schnappi-Albums macht indes erschreckend
klar, in welche Richtung es in Zukunft gehen könnte: „Mit dem Lama nach
Yokohoma“. Tatsächlich steht auch für Israel, Neuseeland und 20 weitere
Länder die Veröffentlichung in deutscher Sprache an. Fraglich allerdings
bleibt, ob diese Art Humor auch kulturübergreifend verstanden und
unterstützt werden wird. Gefasst sollte man darauf sein, da schon die
größtenteils deutschsprachigen Österreicher, Schweizer und Holländer den
grünen Singsang mit Platz eins belohnten. Doch jetzt zieht Belgien mit Platz
zwei nach. Vielleicht liegen nun auch die USA nicht mehr in weiter Ferne.
Nach der einschlägigen Erfahrung könnte Seal es ja vielleicht mit einer
englischen Version versuchen. „Snappy“ bedeutet schließlich „schmissig“. |
AUSGABE 42
MUSIK: DIE STENOGRAFIE DES GEFÜHLS
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EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
VIDEO
KILLED THE VIDEO STAR?
MUSIC WAS MY FIRST LOVE
FROM SOUTH TO CENTRAL
MUSIK FÜR WIEDERVERKÄUFER
DIE WICHTIGEN 80ER: RICK ASTLEY UND
CO.
IN DER MUSIKALISCHEN GRAUZONE
RETTUNGSANKER DER
MUSIKBRANCHE?
KURIOSITÄTENKABINETT DER CHARTS
FÜNF FRAGEN/ZEHN ANTWORTEN
DEUTSCHE BEATS +
RUSSISCHE SÄNGER
WAS IST EIGENTLICH
DRUM&BASS?
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