Das Gespenst der Elite
Text:
Jons Marek Schiemann
Bild:
Photocase.de
Die Elite gibt es nicht. Genauso wie es eine homogene
Öffentlichkeit nicht geben kann. Gäbe es eine Öffentlichkeit, so müsste
jeder dasselbe wissen und an den gleichen Informationen teilnehmen. Da
dieses aber nicht der Fall sein kann, da jeder aufgrund seiner Interessen,
Bedürfnissen oder beruflichen Notwendigkeiten seine Informationen holt,
sollten wir besser über Öffentlichkeiten sprechen. Und dabei den Plural
betonen. Es gibt viele Teilöffentlichkeiten, die sich selber bilden und
durch Medien bestätigt werden. Wenn eine Szeneband ein neues Musikalbum
veröffentlicht, so erfährt dieses nicht die Öffentlichkeit, sondern die
Teilöffentlichkeit, die diese Szene bildet. Jeder einzelne kann dabei an
mehreren wechselnden Öffentlichkeiten teilnehmen: am Morgen einer
Parteiveranstaltung beiwohnen, das Firmenmagazin studieren und am Abend das
Anglermagazin lesen. Würde dieser Öffentlichkeitsteilnehmer befragt werden,
so würde er sich verschiedenen Ebenen zuordnen. Und aller Wahrscheinlichkeit
nach sich auch einer Elite zurechnen.
Eine homogene Elite kann es allein schon deshalb nicht geben, weil sich
Eliten über spezielle Kenntnisse definieren. Ein Arzt hat selbstverständlich
ein anderes Wissen als ein Richter oder Atomphysiker. Auch Politiker halten
sich für eine Elite. Eliten (im Plural) definieren sich über ihr
spezifisches Wissen, also ihre Bildung und ihren Werdegang, und formieren
und bestätigen sich selbst, z.B. durch Institutionen, Verbände und
Kongresse. Oder durch Geheimkulte wie die Freimaurer oder religiöse
Gruppierungen mit ihrer Heilserwartung und Heilsversprechung. Dabei kann im
Grunde jede Interessen- und Berufsgruppierung sich als eine Elite
definieren. Eine elitäre Berufsgruppierung wäre z.B. die Ärzteschaft und
eine Interessengruppierung die Opernliebhaber, das sich selbst so nennende
Bildungsbürgertum. Somit ist die Ärzteelite, in sich selbst wieder
hierarchisch geordnet, eine andere Elite als die der Juristen. Durch ihr
jeweiliges spezifisches Wissen bilden sie eine Elite für sich. Und da beide
Gruppen nicht vergleichbar sind, aber den Anspruch erheben eine Elite zu
sein, können wir von Eliten im Plural reden. Ebenso wie Anhänger einer
bestimmten Musikrichtung, die den Ausverkauf einer Gruppe beklagen, sowie
sie finanziellen Erfolg hat. Massenkompatibilität wird dann zu einem
Schimpfwort, weil sich die kleine exklusive Anhängerschaft nicht mehr
exklusiv fühlen kann. Sie hat ihren elitären Status verloren. So kann man
das Streben nach einer Elite im Grunde in jeder Gruppenbildung finden. Aber
sie müssen von „den Anderen“ anerkannt werden.
Ein vorrangiges Ziel der Eliten ist dabei immer die individuelle
Bestätigung, auch durch andere, und vor allem die Abhebung von der „Masse“.
Das damit verbundene Gefühl der Erhöhung durch die Abspaltung bestärkt das
Zugehörigkeitsgefühl zur Elite. Zu dem Bildungsvorsprung gehört auch ein
gewisser Machtanspruch, der wiederum durch das überlegene Wissen geschaffen
wird. Vor allem Ärzte, Juristen und Politiker machen diesen Anspruch
geltend. Sie verfügen über exklusive Informationen, die nicht jedermann
zugänglich sind. Und das würden sie ja auch nicht wollen, denn wenn die
Informationen frei wären, so könnten sie überflüssig werden und jeder z.B.
sein eigener Arzt sein. Es ist im Interesse der Eliten „die Anderen“ in
Abhängigkeit zu belassen.
Die Wurzeln der Eliten können im Beginn des Bürgertums gesucht werden. Als
im Mittelalter durch die Zuwanderung vom Lande die Städte wuchsen und sich
die Gilden und Zünfte bildeten, entwickelte sich allmählich das Bürgertum.
Durch den materiellen Wohlstand, der durchaus dem Adel ebenbürtig sein
konnte, fühlte sich das Bürgertum dem Arbeiter entfremdet, dem Adel gleich,
wurde aber von diesem nicht als gleichwertig angesehen. Der erworbene
Wohlstand wurde nun genutzt, um dem Adel in punkto Kleidung, Luxus und
Bildung nachzuziehen und sich gegenüber dem Armen auch in Bildung
abzugrenzen. Gerade die Bildung wurde als Mittel entdeckt, sich als Elite zu
fühlen und um das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Adel auszugleichen.
Die finanziellen Mittel erlaubten es auch Bürgerlichen, die Universität zu
besuchen, was dem Jungen vom Lande meist verwehrt blieb. Auch heute besuchen
vor allem die Kinder vorgebildeter Eltern die Universitäten. Während der
Industrialisierung wurden die Grenzen zwischen den neuen Ständen größer. Als
der europäische Adel dann während der Französischen Revolution und später
durch die Umwälzungen der Napoleonischen Kriege den ersten Teil seiner Macht
verlor, gewann das Bürgertum an Macht, um sie nicht mehr abzugeben. Zwar
erstarkte der Adel wieder, verlor aber spätestens nach dem Ersten Weltkrieg
seine Macht und nach dem Zweiten Weltkrieg war fast jeder Einfluss dahin.
Dieses „Machtvakuum“ erfüllte nun das Bürgertum. Indem Eliten gebildet
wurden, wurde das Gefühl der Unzulänglichkeit ersetzt. In heutiger Zeit, in
der (noch) gleiche Chancen für alle gelten, wird der Kampf um das
Zugehörigkeitsgefühl zu einer Elite schärfer geführt. Dafür werden vor allem
Medien genutzt, welche die speziellen Interessen und den Wunsch nach Status
bedienen. Seien es die, meist ungelesenen, Klassiker der Weltliteratur im
Regal, schön eingebunden in Leder, oder die im Bus demonstrativ auf dem
Schoß platzierte qualitative Tageszeitung, die mit einem gelangweilten,
demonstrativ geringschätzigem Blick angesehen wird. Das tägliche Naserümpfen
über die Lesegewohnheiten und Medienkonsum „der Anderen“ wird zelebriert, um
sich selber zu bestätigen und damit die anderen zu erniedrigen. So kann sich
auch jeder Analphabet als elitär fühlen. |
AUSGABE 42
MUSIK: DIE STENOGRAFIE DES GEFÜHLS
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EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
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KILLED THE VIDEO STAR?
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FROM SOUTH TO CENTRAL
MUSIK FÜR WIEDERVERKÄUFER
DIE WICHTIGEN 80ER: RICK ASTLEY UND
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IN DER MUSIKALISCHEN GRAUZONE
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