Ausgabe 57
Upgrade der Wirklichkeit:
Zur Zukunft des World Wide Web





Startseite
Editorial
Bestellt und nicht abgeholt.
Interview mit Esther Dyson.

Digitalisierter Alltag:
Wirklichkeit und virtuelle Welt verschmelzen

Das Internet der Zukunft:
Wohin geht die Reise?

Die totale Vernetzung
Googelst du noch
oder findest du schon?

Filmgenres 2.0: Zurück in die Zukunft
Du bist die Weltkarte
Fast backward: Die Rückkehr der Geschichte im Internet
Erfolgreiche Obama-Show im Internet
Content is King – Entertainment is Queen: Branded Entertainment
Quo vadis Markenführung im Web
Geistiges Eigentum muss
geschützt werden

Zukunftsmusik

Autoren dieser Ausgabe




Impressum
Themen des Magazins
Ausgabenverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Verzeichnis aller Autoren

Newsletter und RSS-Feed
Link in del.icio.us ablegen
Artikel drucken

Presse

Bestellt und nicht abgeholt

Ist das Web der richtige Ort, um die Ergebnisse seiner Erbgutanalyse zu erfahren?

Interview und Illustration: Björn Brückerhoff     Bild rechts: James Duncan Davidson

Der Blick ins Ich kostet 399 Dollar. Doch keine Psychotherapie ist gemeint, sondern die Analyse des eigenen Erbgutes.  23andMe, ein amerikanisches Startup, bietet diesen Service an. Das Startkapitel von 3,9 Millionen Dollar stammt von Google. Die Ehefrau von Google-Gründer Sergei Brin, Anne Wojcicki, gehört zum Gründungsteam.

Alles geht ganz einfach: Der Kunde bestellt im Onlineshop des Unternehmens ein optimistisch gestaltetes Analyse-Kit. Die Box mit einem Röhrchen kommt mit der Post, der Kunde gibt eine Speichelprobe ab. Dann schickt er das Paket an eines der Laboratorien, die
23andMe ihm nennt. Sechs bis acht Wochen später erhält er eine E-Mail mit dem Zugangscode. Wieder steht ein Besuch auf der Website an. Nur dieses Mal erfährt der Kunde, was sein Genom verrät. Das Konzept von 23andMe besteht somit nicht hauptsächlich darin, jedem die Analyse des Genoms zu ermöglichen. Das bieten auch andere an. Das Alleinstellungsmerkmal soll vielmehr sein, die Ergebnisse so zu kommunizieren, dass auch der Laie sie versteht.

Die Informationen, die er bestellt hat, muss der Kunde dann doch selbst verarbeiten:
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Krankheit zu bekommen? Sind meine Verwandten tatsächlich mit mir verwandt? Welche Eigenschaften habe ich von meinen Eltern geerbt? Wie gestalten sich meine genetischen Prädispositionen im Vergleich zu anderen Teilnehmern? Psychotherapie gefällig?

Sicher, 23andMe, benannt nach den 23 Chromosomenpaaren des Menschen, sagt nicht die Zukunft voraus. Doch die Informationen, so angenehm sie auch in Statistiken und Wahrscheinlichkeiten verpackt sein mögen, werden auf sensible Gemüter durchaus Eindruck machen.


Das weiß auch Esther Dyson, die im Aufsichtsrat des Unternehmens sitzt. Dyson ist eine amerikanische Unternehmerin, Journalistin und wird als Digerati zur Elite der amerikanischen Technologiebranche gezählt. Durch spektakuläre Aktionen, beispielsweise die Veröffentlichung ihres eigenen Erbgutes im Internet, hat sie internationales Medieninteresse auf sich gezogen. 2009 ist Esther Dyson als Ersatzkandidatin für den ehemaligen Microsoft-Manager Charles Simonyi eingeplant, einen privaten Raumflug zur Internationalen Raumstation zu unternehmen. Das Training in Russland hat sie bereits absolviert.

Neue Gegenwart hat sich mit Esther Dyson über 23andMe und die Konsequenzen unterhalten.


Frau Dyson, was denkt der Durchschnittsbürger, wenn er von 23andMe hört?

Esther Dyson: Das ist schwer zu sagen. Vielleicht, dass die Gene seine Zukunft voraussagen können. Wenn er aber versteht, dass Gene nur Möglichkeiten abbilden, dann wundert er sich vielleicht über die Aufregung, die mit dem Thema verbunden ist. Und wenn er erfährt, dass sein Erbgut dazu beitragen kann, die Möglichkeiten der Genforschung zu verbessern, dann wird er möglicherweise gerne seine Daten zur Verfügung stellen.

Aber: Keine einzelne Person ist der „Durchschnitt“. Jeder hat einen bestimmten Grund, sich für das Thema zu interessieren. Das sind, erstens, jene Personen, die nichts oder nur wenig über ihre Eltern oder andere Verwandte wissen
– und deshalb auch nicht sonderlich viel über sich selbst. Manche Personen wissen, zweitens, dass eine bestimmte Erbkrankheit oder sonstige Gegebenheit in ihrer Familie bekannt ist. Sie wollen wissen, ob dies auch für sie selbst eine Rolle spielen könnte. Andere interessieren sich für ihre Familiengeschichte oder generell für wissenschaftliche Forschung. Und natürlich gibt es auch jene, die sich über alles Sorgen machen. Wenn sie ihre Erbgutinformationen kennen, werden sie einen weiteren Grund haben, sich über etwas Sorgen zu machen.


Was kann mir 23andMe zum Beispiel konkret verraten?

Dyson: Angenommen, 23andMe sagt ihnen: Für 23 von 100 Personen mit diesem genetischen Profil ist es wahrscheinlich, bis zum 80. Geburtstag die Krankheit X zu bekommen. Dann wissen sie noch immer nicht, ob sie einer der 23 sind, der X bekommen wird, oder einer der 77 anderen. Oft kann man die Wahrscheinlichkeit, zum Beispiel nicht zu erkranken, auch durch überlegte Ernährung oder Sport verbessern. Das verändert ihr Verhalten und macht sie in jedem Fall gesünder, auch unabhängig vom Ergebnis der Gen-Analyse.


Wie stellen sie sicher, dass ihre Kunden bereit für die Ergebnisse sind
– auch wenn es sich nur um statistische Werte und Wahrscheinlichkeiten handelt? Sie können immerhin die Einstellung ihrer Kunden zu ihrem Leben drastisch verändern.

Dyson: Das können wir nicht sicherstellen…. Aber je mehr Leute die Dienstleistung in Anspruch genommen haben, desto besser werden die Leute verstehen, worum es bei uns geht. Irgendwo muss man anfangen. Inzwischen versuche wir, sehr klar zu kommunizieren, welche Informationen wir liefern können und was sie bedeuten oder nicht bedeuten. In gewisser Weise klären wir damit also auch über das Verfahren an sich auf.


Wie sieht der typische Kunde von 23andMe aus?

Dyson: Momentan ist der typische Kunde jemand, der sich besonders für Gesundheit und Wissenschaft interessiert. Wir hoffen, zukünftig eine breitere Kundenbasis zu haben.


Wie viele Kunden benötigen sie, um ernsthafte Forschung mit ihren Daten betreiben zu können, wie sie beabsichtigen?

Dyson: Das kommt drauf an. Normalerweise benötigt man für eine wissenschaftliche Studie mehr als 1.000 Personen. Aber viele spezielle Faktoren spielen bei jeder einzelnen Studie eine Rolle.


Würde das Vertrauen der Interessenten nicht größer sein, wenn Universitäten oder andere gemeinnützige Einrichtungen diese Dienste anbieten würden?

Dyson: Das glaube ich nicht. Vertrauen worin? Wir bekommen unsere Daten aus den gleichen Laboratorien, die auch die nicht-kommerziellen Anbieter nutzen. Allerdings bemühen wir uns deutlich stärker als Universitäten darum, die ausgeworfenen Daten für unsere Kunden verständlich zu machen. Das können Universitäten nicht in diesem Maße leisten.


Weshalb?

Dyson: Weil unsere Kunden uns bezahlen und wir das Geld nicht nur dafür nutzen, Wissenschaftler einzustellen. Wir beschäftigen auch Autoren, Designer und andere Mitarbeiter, die dazu beitragen, die Informationen zum Erbgut verständlich und interessant zu vermitteln.



Warum wird dies nicht dazu führen, dass es irgendwann normal wird, seine genetischen Informationen und andere persönliche Daten zur eigenen Gesundheit zu veröffentlichen? Versicherungen interessieren sich – neben Informationen über den Lebenswandel – doch sicher auch für die Krankheitsrisiken der Versicherten.


Dyson: Wie sie wissen, habe ich mein Genom bereits veröffentlicht. Und wenn sie mich danach fragen: Ja, ich habe die Daten meiner Krankenversicherung angeboten. Aber sie wollten die Daten nicht haben!

Ich finde es aber wunderbar, die Daten im Web Wissenschaftlern zur Analyse anzubieten – jeder wird mit anderen Hypothesen und einer anderen Methodik an die Daten herangehen. Allerdings werden wohl die meisten genetischen Daten anonymisiert bleiben, genau wie  Informationen über den Gesundheitszustand. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ist die Identität des Einzelnen nicht relevant.


Wenn
derartige Unersuchungen normal werden, könnte dies nicht zu dem Eindruck führen, dass man etwas zu verbergen hat, wenn man keine Analyse durchführt oder die Daten veröffentlicht?

Dyson: Das bezweifle ich. Warum sollte jeder sein Genom veröffentlichen? Sie veröffentlichen ihre Finanzinformationen ja auch nicht im Web.


Sie haben den Preis einer genetischen Analyse von 999 Dollar auf 399 Dollar
gesenkt. Eines Tages wird es vielleicht möglich sein, für 50 Dollar die gleiche Analyse anzubieten. Wenn aber jeder derart einfachen Zugriff auf diese Ressource hat, werden Versicherungen auch damit umgehen können. Vielleicht wird es sogar normal, die Informationen von den Versicherten abzufragenwie es schon heute bei bestimmten Lebensversicherungen mit sehr hohen Versicherungssummen gegeben ist. Wie könnte ihre Technologie den Umgang der Versicherungen mit ihren Versicherten beeinflussen?

Dyson: Mit der genetischen Information werden Krankenversicherungen immer besser werden, beispielsweise Prognosen über Krankheitsverläufe abzulesen. Und mit etwas Glück wird diese Information dann auch dazu beitragen, die Krankheitsverläufe im positiven Sinne zu beeinflussen. Wir können dann nämlich auch die Wirkung bestimmter Medikamente und Behandlungsmethoden besser abschätzen. Langfristig wird sich die Krankenversicherung selbst verändern müssen: Patienten werden in Risikogruppen klassifiziert werden, für die mögliche zu erwartende Kosten kalkuliert werden können. Versicherungen müssen dann, bezuschusst von der Regierung, die zu erwartenden Kosten zahlen. Die Krankenversorger würden die Differenz behalten, falls ihre Patienten entgegen der Prognose gesünder sind. Das wird offensichtlich ein kompliziertes System, aber das aktuelle System ist auch nicht besser. Der Unterschied bestünde vor allem darin, dass das neue System gezielt gute Resultate belohnen und damit Anreize schaffen würde, diese zu erreichen, während das derzeitige System die Pflege unabhängig vom Resultat der Behandlung bezahlt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person


Bild: James Duncan Davidson

Esther Dyson,
EDventure Holdings

Die amerikanische Unternehmerin und Journalistin Esther Dyson wurde 1951 in Zürich geboren. Nach einem Wirtschaftsstudium in Harvard arbeitete sie zunächst bei Forbes, wechselte nach mehreren Stationen zu Rosen Research und übernahm die Firma 1983. Fortan nannte sie das Unternehmen EDventure Holdings. Bekannt wurde Dyson vor allem durch ihre konsequent durchnummerierten Veröffentlichungen zur gesellschaftlichen Wirkung von Computertechnologie, die sie bis 2006 in ihrem monatlichen Newsletter Release 1.0 veröffentlichte. 1997 erschien ihr Buch Release 2.0 zum Einfluss des Internets auf das Individuum. Unter dem Titel Release 3.0 veröffentlichte sie ihre Kolumne in der New York Times. Ihr Blog, Sie ahnen es, Release 4.0, ist seit 2005 in ihrem Flickr-Account aufgegangen. 1998 bis 2000 war Dyson Gründungsdirektorin der Internet Association for Assigned Names and Numbers (ICANN), einer Non-Profit-Organisation, die unter anderem über die Vergabe von Toplevel-Domains wacht. 

2004 hat sie EDventure Holdings an CNET Networks verkauft, führt ihre Geschäfte aber weiterhin unter diesem Namen.  Sie investiert in Unternehmen aus den Bereichen Internet, Gesundheitswesen und auch in die private Raumfahrt.




Am Rande gefragt


Welches Unternehmen oder Geschäftsmodell wird das nächste große Ding 2009?

Dyson: Ich glaube, dass das ein Mix aus Facebook und Twitter wird. In einem Jahr verändert sich nicht so viel.



Welches Geschäftsmodell halten sie für überbewertet?

Dyson:
Werbung in Social Networks. Marketingleute sollten Social Networks dazu nutzen, mit Kunden in Kontakt zu treten: zuhören und auch selbst reden. Das scheint mir ein Erfolg versprechendes Modell zu sein. Auch müssen sie ihre Kunden so vom Produkt überzeugen, dass diese die Produkte selbstständig weiterempfehlen. Nur so werden die Kunden Logos der Produkte auf ihren Seiten veröffentlichen, in Gesprächen mit ihren Kontakten die Produkte erwähnen oder sie weiterempfehlen.