Jeder kennt die grüne Blume. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre fing sie
an, sich in das Leben der Jugendlichen zu schleichen. Langsam, unbewusst und
schließlich immer selbstverständlicher verwies sie Tätigkeiten wie Essen und
Schlafen auf die Plätze. Positioniert am unteren Rand des Monitors
signalisiert sie als Symbol des ICQ-Messangers oder einem seiner Verwandten
Zeit ihres Bestehens die kommunikative Bereitschaft des Nutzers.
Wir drehen die Uhr auf 2005: Ehssan Dariani und Dennis Bemman adaptieren das
Facebook-Prinzip und gründen StudiVZ. Ein beispielloser Erfolg in
Deutschland: Allein im September 2008 konnte das Social Network laut IVW
mehr als 158 Millionen Einzelbesuche für sich verbuchen. Bis auf wenige
digitale Eremiten ist quasi jeder, der heute mit dem Internet aufwächst, in
einen virtuellen sozialen Raum integriert. Dieser Raum ist bisher nur in
einer Hinsicht abgeschlossen: Der Teilnehmer benötigt einen lokal gebundenen
Internetzugang. Doch auch diese letzte Hürde der totalen Kommunikation ist
im Begriff, endgültig zu fallen.
Aka-aki heißt ein neues mobiles Social-Networking-Programm und bringt die
Online-Gemeinschaft „raus auf die Straße“ – besser gesagt, auf das Handy. Es
erkennt per Bluetooth andere User in der Umgebung und speichert ihr Profil
direkt auf dem Handy. Das Ganze ist so etwas wie ein portables,
intelligentes StudiVZ für die Hosentasche. Abends schaut man dann nach, wem
man tagsüber über den Weg gelaufen ist. Auch sonst bietet das Programm
ähnliche Funktionen wie die altgedienten Social Networks, ob zu Hause am
Rechner oder auf dem Mobiltelefon. Wo Internet-Flatrates für das Handy immer
günstiger, die Endgeräte immer benutzerfreundlicher und die Netzwerke immer
größer werden, ist die Verschmelzung von mobiler Kommunikation und digitaler
Sozialwelt nur die einzig logische Konsequenz. Die Zeiten der lokalen
Bindung sind vorbei. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das „Aka-aki-Prinzip“
durchsetzt und auch die großen Plattformen mit speziellen Features auf die
neue Netzmobilität reagieren.
Das Szenario ist ausbaufähig: Mobile Instant-Messanger schicken in Zukunft
Nachrichten überall und ohne Zeitverlust, Gefühlszustände manifestieren sich
via Voice-Stream-Statusmeldung und 10-Megapixel-Schnappschuss direkt im
virtuellen sozialen Raum, die Freundesliste verteilt sich dank GPS-Ortung
als eine Art Social Navigation System auf die digitale Landkarte des Handys,
getwittert wird nach dem Aufstehen vor dem Zähneputzen bis zum Einschlafen
nach dem Sex. Orte, Wege, Menschen, Kontakte, Eindrücke, Stimmungen und
Emotionen – das alles erreicht jeden jederzeit in einer unglaublich
schnellen Taktung. Alles, was passiert, ist unmittelbar im Anschluss an das
Geschehen selbst ein weiteres Puzzleteil des digitalen Profils. Die Technik
wird diesen Schritt gehen, der Mensch auch?
Diese Entwicklung kann man durchaus infrage stellen. Doch die Beobachtung
der Gegenwart erlaubt den Blick in die Zukunft. Digitale Profile werden
schon heute täglich aktualisiert, Away-Mitteilungen wechseln dreimal am Tag,
je nach Stimmungslage, und Tagesrückblicke, Beziehungsdramen und
Alkoholabstürze werden für jeden sichtbar auf der Pinnwand diskutiert. Warum
sollte sich dieser Aktionismus nicht beschleunigen, wenn die technische
Möglichkeit besteht, das virtuelle Selbstbild in jeder Minute mit neuen
Einzelteilen zu modellieren? Ortsunabhängig, versteht sich. Trendforscher
nennen dieses Phänomen „life chaching“. Immer mehr Teile des Lebens werden
digitalisiert und in Bits und Bytes umgewandelt – so als sei das Leben eine
komplexe, aber eigentlich simple Abfolge von Nullen und Einsen.
Der Telekommunikationsmarkt reagiert: Die Konvergenz aus Mobilkommunikation
und Social Networking setzt sich durch. Der durchschlagende Erfolg des
iPhone katapultierte Apple innerhalb eines Jahres fast an die Spitze dieses
Marktsegments. Nokia entwickelt seine Lifeblog-Software ständig weiter.
Damit lässt sich der Alltag anhand aller digitalen Daten rekonstruieren und
zu einem umfassenden Tagebuch zusammen führen. Zukünftig landen alle
Fragmente des sozialen Lebens als eine riesige Sammlung auf dem Rechner -
stets bereit, der Welt präsentiert zu werden. Das könnte dann so aussehen:
Ich blicke im Lifeblog eines Menschen zum Beispiel genau ein Jahr zurück,
sehe seine Tagesroute und die versendete Nachrichten, die geschossenen Fotos
sind dank Google-Earth-GPS-Erkennung gleich mit der richtigen Ortsmarke
verbunden und auch die Menschen werden automatisch markiert, verlinkt und
sortiert. Ich kann mir ausgeben lassen, mit wem jemand wie oft unterwegs
war. Bilder, Videos und Textfragmente – im Rückblick ist das mein Leben.
Life 3.0, quasi: Nichts vergessen in einer schnellen Welt, ein Stückchen
Ewigkeit im Netz, die unauslöschliche Erinnerung an das, was ich getan habe.
Feststeht, dass uns diese Digitalisierung zunehmend zu dem macht, der wir
augenscheinlich sind. Schon der Soziologe Georg Herbert Mead war sich
sicher, dass sich Identität maßgeblich dadurch bildet, dass der Mensch die
Wahrnehmung anderer von sich selbst antizipiert und in sein Handeln
einbezieht. Man entwickelt nur ein Bewusstsein von sich selbst, wenn man
sein Handeln mit den Erwartungen anderer in Beziehung setzt. Der
inflationäre Gebrauch der Social Networks beweist, dass genau das immer
intensiver passiert - beobachten und selbst wahrgenommen werden. Bereits
heute fällt der „digitale
Selbstmord“ zunehmend schwerer, weil der soziale Druck, nicht
mehr Teil der Gemeinschaft zu sein, wie ein Damoklesschwert über den Köpfen
der jungen Menschen hängt. Das Internet-Profil folgt den Menschen als
virtueller Schatten Schritt für Schritt – und wird ihn in mobilen sozialen
Netzwerken wohl einholen.
Dabei ist der soziale Druck nicht eindeutig auszumachen. Im Internet lassen
sich die sozialen Rollen nicht trennen – zumal die Entwicklung in Richtung
Meta-Software geht, die mehrere Social Networks integriert. Die Erwartungen
sind differenzierter denn je; gleichzeitig wächst der Identitätsdruck
innerhalb der pluralistischen Kommunikationsgesellschaften immer mehr. Feste
Lebensentwürfe verschwinden, Wandlungsfähigkeit ist gefragt – „man lernt nie
aus“. Genau das macht viele so unsicher und erschwert die Entwicklung einer
eigenen Identität. Während der oft rezitierte „Lebensweg“ also immer
diffuser wird, multiplizieren sich die Anforderungen an die persönlichen
Darstellung. Während die Frage ‚wer bin ich’ immer schwieriger zu
beantworten ist, wird das ‚zeig wer du bist’ in der vernetzten Sozialwelt
technisch immer leichter und gesellschaftlich immer bedeutender. Hier liegt
der große Konflikt der Web-2.0-Generation.
Wie wird die Generation „X-Punkt-Null“ damit zurechtkommen, wenn sie sich in
einem Zustand der totalen Kommunikation befindet – und damit auch der
totalen Öffentlichkeit? Die reine Darstellung wird jedenfalls nicht mehr
ausreichen. „Früher ging es um Aufmerksamkeit, heute um Anerkennung“, sagt
Peter
Wippermann, einer der führenden Trendforscher in Deutschland.
Seit 1992 leitet er das Trendbüro Hamburg, ein Beratungsunternehmen für
gesellschaftlichen Wandel. Seine These: Der junge Mensch der Zukunft hat gar
keine andere Wahl, als seine Identität ständig neu zu modellieren: „Das ist
keine Frage des Wollens mehr, sondern eine Verpflichtung. Wer sich nicht
selbst definiert, der wird definiert.“ Ist das befremdlich? Für die ältere
Generation vielleicht, erklärt Wippermann. Wer mit interaktiven Medien
aufwächst, empfinde sie aber als natürliche Umwelt: „Das hängt von der
Mediensozialisation ab.“ Die Unter-20-Jährigen seien wesentlich
unkritischer. Die Frage bleibt, wie die Menschen in Zukunft mit dieser
Selbstverständlichkeit umgehen. Laut der JIM-Studie 2008 des
Medienpädagogischen Forschungsinstituts Südwest besuchen rund Dreiviertel
der 12 bis 19 Jährigen Online-Communities. Wer einmal drin ist, bleibt
dabei, sagt der Kommunikationsexperte aus Hamburg.
Sich selbst zu formen, sei eine der wesentlichen Aufgaben der kommenden
Online-Generation. „Wer nicht kommuniziert, ist draußen,“ sagt Wippermann.
Es entsteht der Eindruck, schon heute haben die Menschen Angst, in den
Urlaub zu fahren, da sie ihre virtuelle Profilpflege nicht mehr betreiben
können. Wer wird zukünftig noch Fotos schießen, wenn er sie nicht mehr
hochladen kann, um sie der Welt zu zeigen? Wer wird überhaupt noch in den
Urlaub fahren, wenn die digitale Nabelschnur des eigenen Lebens abreißt?
Steckt dahinter die Angst, dass ohne einen selbst alles weiterläuft wie
bisher, dass man abgelöst wird vom nächsten schwarz-weiß in Szene gesetzten
Profilbild? In dieser Hinsicht schließt die Mobilkommunikation eine Lücke,
die der „Verpflichtung“ zur ständigen Aktualisierung der eigenen Identität
entgegenkommt. Bedeutet das alles aber überhaupt noch Erfüllung, wenn es
nicht um seiner selbst Willen geschieht? „Identität statt Erlebnis“ – zu
diesem Ergebnis kam auch Wippermann beim diesjährigen Deutschen Trendtag in
Berlin. Während es in den Neunzigern quasi den Höhepunkt der
Erlebniseuphorie gab, suchten die Menschen heute immer nach einem Mehrwert
ihrer Erlebnisse, nach einem identitätsstiftenden Nutzen. Nicht das ‚wie’
unserer Aktivitäten ist wichtig, sondern das ‚warum’. Der Druck auf die
Netzwerk-Gesellschaft wird noch zunehmen. „Google arbeitet daran, soziale
Beziehungen in Social Networks zu ranken. Das hat eine unglaubliche
Bedeutung.“ Der Mensch als Summe seiner sozialen Beziehungen? „Im Endeffekt
sind es mathematische Modelle, nach denen sich Unternehmen und andere
Bezugsgruppen ein Bild machen. Dieses Bild muss man beeinflussen.“ Das
bedeutet aber auch: Meinen Wert im Social Network muss ich immer wieder
unter Beweis stellen. Es ist eine Rückkopplungsschleife, die mich unter
einen enormen Druck setzt. Keiner weiß so recht, ob die Schnelligkeit der
Medien auf den Menschen übergesprungen ist, oder ob das neue
Kommunikationspotenzial nur einem Bedürfnis entgegen kommt, das schon immer
in uns pochte. Das Ergebnis ist das gleiche. Individualität und
Einzigartigkeit werden zukünftig in immer schnellerer Taktung unter Beweis
gestellt – dank Mobilkommunikation am besten zwischen erfolgreichem
Bewerbungsgespräch und dem nächsten Konzertbesuch. Anerkennung für die
eigene Person als der bedeutendste Wert der Zukunft, ihre Generierung als
zentrale Lebensaufgabe – aus Angst bedeutungslos zu werden. Denn eines wird
sich nicht verändern, sagt Peter Wippermann: „Der Mensch möchte immer anders
sein als die anderen, aber nie allein.“ |
Der Autor
Philipp Laage, Jahrgang 1987, studiert Kommunikations-wissenschaft und BWL
an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster und arbeitet als freier
Journalist für den dpa-Themendienst in Hamburg.
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