Filmgenres 2.0?

Zurück in die Zukunft






Text:
Jana Herwig und Dominik Rudolph 
Bild:
Jean Scheijen



Das Medium Film und damit auch das Fernsehen stehen wieder einmal vor einem starken Wandel. Mit den Online-Videoportalen ist ein neues Medium aufgetaucht, von dem noch nicht klar ist, inwiefern es unseren Fernsehkonsum der Zukunft beeinflussen wird. Fest steht nur: Auf Videoportalen entstehen neue Trends und neue Genres. Aber wie wir sehen werden, ist vieles davon eigentlich sehr alt.

Die Mediennutzungssituation wird durch die zunehmende Konvergenz der Empfangsgeräte immer vielfältiger und hybrider: Internetfähige Fernseher, Fernsehen auf dem Handy und Internetfernsehen am PC verschmelzen und ermöglichen dauerhaften Konsum an jedem Ort. Auf der einen Seite geht der Trend zu immer besserer technischer Qualität, Riesen-LCDs mit enormer Auflösung und digitale Anschlüsse boomen; gleichzeitig steigt aber auch die Nutzung kleinster Videoschnipsel im Internet, niedrig auflösend und auf immer kleineren Displays betrachtet. Die Gründe hierfür sind inhaltlicher Natur: User Generated Content ist eines der Schlagworte, das für den Erfolg der Videoportale verantwortlich gemacht wird und das auch den Fernsehmachern Sorgen machen sollte.

Für die kommt es momentan ganz Dicke: Qualitätsdiskussionen wie die im Gefolge der jüngsten Reich-Ranicki-Kritik ist man ja schon gewöhnt, schlimmer dürfte die TV-Manager aber treffen, dass auch die ökonomischen Zahlen nicht mehr stimmen. Zuletzt musste der ehemalige Überflieger ProSiebenSat1 trotz massivem Sparkurs
neun Prozent Umsatzrückgang im deutschen Free-TV hinnehmen. In Österreich reagiert der ORF-Programmdirektor Wolfgang Lorenz verschnupft auf die Online-Konkurrenz und fordert, die Jugendlichen sollten aufhören, sich in „diesem Scheiss-Internet“ zu „verkrümeln.“

Die Gründe für den Frust angesichts des Quotenschwunds liegen sicher auch an der inhaltlichen Qualität. Es sind nicht nur die Spartensender, die mit Panzerdokus (N24), ganztägigem Kochen (Vox) oder Berichten vom Schrottplatz (DMAX) die Nerven der Zuschauer strapazieren. Auch die großen Sender bieten zuvorderst lieblos nachgemachte amerikanische Serien, endloses Casting oder billig produzierte Shows mit Titeln wie „Peng! Die Westernshow“ und "Schlotter! Die Gruselshow". Im Vorabendprogramm sieht es traditionell qualitativ noch düsterer aus.

Innovative Formate finden sich mittlerweile eh ganz woanders. Auf Videoportalen wie YouTube. Und dorthin zieht es auch die abspenstigen Fernsehzuschauer, zwar nicht in ihrer Gesamtzahl, aber doch vorwiegend die jungen, Werberelevanten. Sie lieben nicht nur die Annehmlichkeit, aus dem starren Programmkorsett der TV-Sender auszubrechen und selber den Zeitpunkt des Konsums zu bestimmen. Vielmehr finden sie dort eine nie dagewesene Angebotsvielfalt, die jeden noch so ausgefallenen Zuschauerwunsch befriedigt. Videoportale wurden hierzulande viel zu lange als Lieferant grenzdebiler Pannenvideos für ein infantiles Publikum belächelt. Sicher, die sind auch zu finden, dazu aber auch vieles mehr.

In dem Bemühen, dem Mainstream zu gefallen, hat sich das TV-Programm abgeschliffen, provokante und innovative Formate wurden in die Sendezeiten jenseits von Gut und Böse verbannt. YouTube zeigt, dass sich neuartige Formate und hohe Zuschauerzahlen nicht ausschließen. Hätten Sie jemals gedacht, dass sich vier Millionen ein Video vom Auspacken eines Videospiels ansehen? Diese so genannten Unboxing-Videos sind mittlerweile zu einer eigenen Gattung geworden,
die regelmäßig ein Millionenpublikum findet.

Auch das Mitfilmen von Computerspielen
hat eine größere Fanschar als GZSZ. Das Fernsehen selbst ist ebenfalls vor dem Amateurfilmern nicht sicher. Es dauert nie lange, bis Kameratäuschungen und Pannen von findigen Zuschauern mit Kommentaren versehen auf YouTube landen.

Der Erfolg von Internetvideos und die Evolution neuer Genres folgen bislang unerforschten Mustern. Klar ist aber, dass sich besonders erfolgreiche inhaltliche Muster, so genannte Meme, exponentiell vermehren. Wurden Sie schon gerickrolled? Dahinter verbirgt sich ein immer wiederkehrendes Motiv: ein verheißungsvoller Videotitel, ein passendes Vorschaubild, aber statt dem versprochenen exklusiven Interview mit einem Star oder anstelle pornografischer Bilder ertönt der 80er-Jahre Hit „Never gone give you up“ von Rick Astley.
Am 1. April waren alle Videos auf der YouTube-Startseite „Rickrolling“-Videos).

Entstehen auf Videoportalen also momentan die Filmgenres der Zukunft? Jein, denn vieles erscheint zwar im Vergleich zum aktuellen Fernsehen hochinnovativ und neu, steht aber gleichwohl in einer langen Tradition. Nehmen Sie zum Beispiel das Video eines unablässigen lachenden
Babys in seinem Stühlchen, das Karl Pall, Manager von Google Österreich, als Beispiel für die Neu-, Anders- und Eigenartigkeit der Qualität der Inhalte im Web in einem Vortrag zu „Marketing in Digitalen Welten“ verwendete und das es mittlerweile auf über 66 Millionen Zugriffe gebracht hat. Niedliche Kinder – überrascht uns dieses Motiv wirklich? Bereits 1895, bei der ersten öffentlichen Filmvorführung vor zahlendem Publikum (a. k. a. ‚Kino’), spielte ein Baby in einem Kinderstuhl eine Hauptrolle: In dem auf 17 Metern Film eingespielten Frühwerk Repas de bébé fütterte das Ehepaar Lumière seine kleine Tochter Andrée, während Onkel Louis Lumière filmte  – user-generated content avant la lettre.

Was wir auf Youtube, Dailymotion, Vimeo und anderen Videosharing-Portalen zu sehen bekommen, sind im wahrsten Sinne des Wortes dieselben alten Tricks, die schon das Publikum des frühen Kinos liebte: In
Guys backflip into jeans machen junge Männer Rückwärtssalti in Jeanshosen; die Rückwärtssalti des Varietékünstlers und ‚starken Mannes’ Eugen Sandow gab es 1903 in Edisons Filmen zu bestaunen. Die Balancierkünste, die BMX- und Mountain-Biker heute in ihren Youtube-Privatkinos zu schau stellen (etwa hang nothings auf dem Vorderreifen), sind ganz und gar verwandt mit den Bühnen-Fahrradtricks von anno 1899. Außergewöhnliche körperliche Fähigkeiten faszinieren wie eh und je.

Die generische Verwandtschaft von frühem Film und Online-Videos lässt sich auch am eigentümlichen Nachrichtenwert beobachten, der den Reiz vieler Online-Videos ausmacht. Wer entscheidet in einer Gemeinschaft, was neu und spannend ist? Medien sind in der Lage, Gesellschaften zu synchronisieren – man denke an die „Straßenfeger“ der 50er Jahre (z. B.
Jerry Cotton und Edward Wallace-Verfilmungen), welche dem Abendverhalten den Takt gaben und so die deutsche Fernsehnation so erschufen. Ob etwas Nachrichtenwert hat oder nicht, ist im Sinne Niklas Luhmanns eine Frage der Anschlussfähigkeit beziehungsweise Differenz: „Die Information muss neu sein. Sie muss mit bestehenden Erwartungen brechen oder einen offen gehaltenen Raum begrenzter Möglichkeiten (Beispiel Sportereignisse) determinieren. Wiederholungen von Meldungen sind unerwünscht.“ (Die Realität der Massenmedien. 1996, S. 58). Dabei erscheint es auf den ersten Blick nur logisch, dass diese Neuigkeit auch etwas mit Zeitnähe zur Gegenwart zu tun haben sollte: Etwas ist soeben geschehen, oder soeben ans Licht gekommen. Fernsehsender planen ihr Programm um Uhrzeit und Kalender, und auch in der ‚Echtzeit’ des Web spielt zeitliche Synchronisation eine wesentliche Rolle.

Ein Paradebeispiel hierfür war der US-Präsidentschaftswahlkampf 2008, der nicht nur die Hitlisten der beliebtesten Videos zu seiner Zeit dominierte, sondern auch umgekehrt von den Inhalten und der Verbreitung viraler Videos mitgestaltet wurde. Wer hat
Will.i.ams Remix der New Hampshire-Rede Obamas noch nicht gesehen? Mit diesem Video etablierte sich der Slogan ‚Yes We Can’ unter den Anhängern Obamas im Web 2.0 – User von der ‚Gegenseite’ lieferten das Video-Statement eines Irak-Veteranen, der erklärte, warum der Krieg kein Fehler gewesen sei. Es folgten Wahlaufrufe Prominenter wie z. B. Sarah Silverman and the Great Schlep, Friends uncensored a.k.a Don’t vote, vielfache Versionen von Sarah Palins Interview-Ausrutschern (z. B. CBS Sarah Palin Interview oder Palin: Bailout is about healthcare!), von unabhängigen Regisseuren produzierte Support-Videos wie Wassup 2008  und die Kampagnen-Teams selbst produzierten fürs Web: In Don’t let up, einem Motivationsvideo für die allerletzten Wahlkampftage, rauscht und pixelt es in allerbester Youtube-Manier.

Wer das Web nun vor allem für einen zusätzlichen, zugänglicheren Distributionskanal für aktuelle Videos hält, der irrt sich – beobachtet man Hitlisten wie z. B.
viralvideochart.com über einen längeren Zeitraum, stellt man fest, dass einige Filmchen kommen und verschwinden – um nach einiger Zeit wieder aufzutauchen: Videos wie Battle at Kruger etwa, einer achteinhalbminütigen Aufnahme einer spektakulären Kampfszene zwischen Löwen, Büffeln und Krokodilen an einem Wasserloch, das rührselige Christian the Lion (‚eine Geschichte über wahre Freundschaft’) oder Miss Teen South Carolina 2007, in dem sich eine US-Schönheitskönigin bis zur Unverständlichkeit in Phrasen verhaspelt. Nicht der Bezug zu jüngsten Ereignissen, sondern universale Themen – Exotisches, Ungewöhnliches, Peinliches – interessieren hier. Das An- und Abschwellen der Zugriffszahlen erklärt sich durch die Form der Verbreitung: User selbst verschicken die Links oder binden die Videos auf ihren Blogs ein; ist eine bestimmte Mikronische (das Web 2.0-Äquivalent zum früheren Publikum, das sich anhand von Interessen, Sprachen, Themen und Geolokalitäten konstituiert) zur Gänze bedient, flaut das Interesse ab, bis die nächste Mikronische das Video für sich entdeckt.

Unter einem ähnlichen Neuigkeitskonzept verbreiteten sich zu ihrer Zeit auch die so genannten ‚Aktualitäten’, eine Filmgattung der frühen Kinojahrzehnte, bei der „noch nicht die Schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung im Mittelpunkt“ stand (Baumeister 2003). Aktualitäten zeigten Bilder von allgemeinem (westlichem) Interesse, exotische Flusslandschaften in
Asien, Moskau im Schnee und unter Wasser, die Wolkenkratzer New Yorks, den Seegang bei Dover. Wiederholungen waren sehr wohl möglich – teilweise wurde die Filmkopien jahrelang vorgeführt – und auch das Nachstellen (z. B. von Gefechtsszenen aus dem Burenkrieg 1899-1902) wurde nicht als Betrug empfunden. An dieser Stelle: Obwohl Kobe Bryants Sprung über einen fahrenden Austin Martin in kürzester Zeit als Fake entlarvt wurde, steigen die Zugriffszahlen auf das entsprechende YouTube-Video weiter. Die ästhetische Darstellung enormer menschlicher Fähigkeiten fasziniert eben – damals wie heute.

Zurück in die Zukunft – so könnte das Fazit des Ausblicks lauten. Auf Videoportalen feiern klassische Elemente des frühen Films ihr Comeback, angereichert mit neuen Ideen und technischem Potenzial. Vielleicht wird davon auch das klassische Fernsehen beeinflusst – wir werden es erleben.







Literatur

Baumeister, Martin (2003): »L’effet de reel. Zum Verhältnis von Krieg und Film 1914 bis 1918. In: Bernhard Chiari, Matthias Rogg, Wolfgang Schmidt (Hg.): Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts: im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2003, hier: S. 255.




Ausgabe 57
Upgrade der Wirklichkeit:
Zur Zukunft des World Wide Web





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Editorial
Bestellt und nicht abgeholt.
Interview mit Esther Dyson.

Digitalisierter Alltag:
Wirklichkeit und virtuelle Welt verschmelzen

Das Internet der Zukunft:
Wohin geht die Reise?

Die totale Vernetzung
Googelst du noch
oder findest du schon?

Filmgenres 2.0: Zurück in die Zukunft
Du bist die Weltkarte
Fast backward: Die Rückkehr der Geschichte im Internet
Erfolgreiche Obama-Show im Internet
Content is King – Entertainment is Queen: Branded Entertainment
Quo vadis Markenführung im Web
Geistiges Eigentum muss
geschützt werden

Zukunftsmusik

Autoren dieser Ausgabe

Die Autoren



Jana Herwig studierte Theater-, Film und Fernsehwissenschaft in Köln und Journalism & Media Studies in Südafrika - wohin sie ohne das Netz vermutlich nicht gekommen wäre. Seit 2000 ist sie in verschiedenen Positionen in der Onlinebranche tätig gewesen, u.a. im Community- und  Projektmanagement, der Online-Redaktion und zuletzt als Corporate Blogger für ein Beratungsunternehmen. Von 2004 bis 2007 unterrichtete sie 'English for Media Designers' an einer
Fachhochschule und forschte u.a. zum Thema Mikroplagiate. Seit 2008 arbeitet sie an einer Dissertation über digitale Onlinemedien am Institut für Theater, Film- und Medienwissenschaft der Universität zu Wien. Google-Profil (inkl. Links zu Blog & Social Media Identitäten):
http://tinyurl.com/herwig





Jahrgang 1981, Studium der Kommunikationswissenschaft, neuer und neuester Geschichte sowie Wirtschaftspolitik an der Universität Münster. Dort promoviert er zurzeit über Videoplattformen und ihre Auswirkungen auf das Fernsehen. Auch seine Abschlussarbeit befasste sich bereits mit einem Web 2.0-Thema: die Beeinflussung des Diffusionsverlaufes eines neuen Mediums durch PR am Beispiel von Corporate Blogs.



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