Ausgabe 57
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Zukunftsmusik


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Presse

Zukunftsmusik

Text: Daniel Drungels    Illustration: Peter Suneson

„Retrospektiv und doch nach vorn gerichtet“, rappt Max Herre in dem Song „Erste Schritte“. Dieses Zitat soll den Leser als roter Faden durch den Artikel führen. Zwar kann niemand weissagen, was die Zukunft der Mediengesellschaft für ihre Mitglieder bereithält. Dennoch können die bisherigen Entwicklungen hilfreiche Anhaltspunkte für potenzielle Innovationen liefern, möchte man einen Ausblick auf mögliche Entwicklungen in den Bereichen Internet und Mobilkommunikation wagen. Welchen Erkenntnisgewinn Rapmusik in diesem Zusammenhang verspricht? Die Antwort gibt eine Retrospektive.

Innovationen im Medienbereich können sich nur durchsetzen, wenn sie die Kommunikationsbedürfnisse der Nutzer ansprechen. Wer sich also mit der Zukunft des Webs oder mit neuen Entwicklungen im Bereich der Mobilkommunikation befasst, der kommt nicht umhin, auch einen Blick auf die potentiellen Nutzer zu werfen. Eine bereits absehbare Entwicklung ist eine verstärkte Nutzung personen- und standortbezogener Dienste nach Vorbild des
MeCenter. Diese Dienste korrespondieren vortrefflich mit individualisierten Nutzungsmotiven, wie sie für das so genannte Web 2.0 kennzeichnend sind. Die Rapmusikszene weist Merkmale auf, die sie in diesem Zusammenhang als potentielle Nutzergruppe qualifiziert.

Wir haben gerockt auf Boxen,
die andere als Kopfhörer tragen.
Absolute Beginner – Bambule (LP). Mikro in der Hand (feat. David P.).

Erstens ist Rap die Musik des HipHop. HipHop ist eine Jugendbewegung, die sich überwiegend aus der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen zusammensetzt, aus denen also, die die ARD/ZDF Online-Studie als Intensivnutzer ausweist. Intensivnutzer sind offen und experimentierfreudig. Sie haben Web 2.0-Anwendungen wie StudiVZ, MySpace oder Youtube bereits in ihren Alltag integriert. Das ist einer der Gründe, warum die Rapszene auch bei der Etablierung personen- und standortbezogener Dienste eine Rolle spielen wird.

Ihr hört mir zu und ich mach mein Ding.
Mister Schnabel – Ruff in Mikros

Individualität ist ein zentrales Motiv der HipHop-Bewegung und steht auch bei Rappern seit jeher hoch im Kurs. Die Grundidee des HipHop ist, der eigenen Kreativität Ausdruck zu verleihen, sei es in Form von Tanz, Graffiti oder Musik. Wir sehen also, dass diese Grundidee der Konzeption des Web 2.0 als Mitmachnetz entgegenkommt. Die Möglichkeiten zur Partizipation, die das Netz bietet, werden von der Szene angenommen und rege genutzt.

Just throw your hands up in the air
and party hardy like you just don´t care

Sugarhill Gang – Rapper´s Delight

Betrachtet man die HipHop-Szene, fällt auf, dass sie ihre Entstehung ein paar wenigen MacGyvern verdankt. Die ersten Aktiven waren Improvisationstalente, die das nahmen, was sie gerade zur Hand hatten und das Beste daraus machten. Der musikalische Grundstein des HipHop wurde gelegt, als DJs aufhörten, Plattenspieler als reines Abspielgerät zu benutzen und diese zu Musikinstrumenten umfunktionierten. Das DJ-ing war geboren, eine der vier Säulen des HipHop. Rapper nannte man ursprünglich MCs, was für Master of Ceremony steht. Sie bildeten die zweite Säule und waren eigentlich nur Animateure für das Publikum, die mit improvisierten Slogans den DJ unterstützten. Dass sich daraus ein eigenständiges Genre entwickeln sollte, war damals nicht abzusehen. Umgangssprachlich ließe sich von Rapmusik als Recycling sprechen, kommunikationswissenschaftlich bietet sich der Terminus Anschlusskommunikation an.

Rapmusik ist textlastiger als andere Genres. Ein durchschnittlicher Rapsong enthält in der Regel gut doppelt so viel Text wie ein durchschnittlicher Popsong. Der Beat dient dabei eher der Unterstützung des Textes. Teilweise wird sogar ganz und gar auf den Beat verzichtet.
 
Niemand wird versuchen, ein Jazzkonzert oder eine Oper mit dem Handy aufzunehmen. Bei einem Freestylerap ist das schon etwas anderes. Schlechter Sound kann dem Rhythmus der Sprache kaum etwas anhaben und solange der Text verständlich bleibt, ist auch die Message des Songs nicht gefährdet und die Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation bleiben erhalten. Außerdem ist die Stimme das dominante Instrument. Rap ist also weniger als andere Genres auf ein hochwertiges Klangbild angewiesen, sondern funktioniert auch bei Aufnahmen minderer Qualität, wie sie mit Handys und Camcordern gemacht werden können.

Dass Rap hochgradig anschlussfähig ist, wird noch deutlicher, wenn man sich ein weiteres Merkmal dieses Genres anschaut, den Wettbewerbsgedanken. Mitte der 1980er Jahre, als HipHop allmählich einem größeren Publikum zugänglich wurde, begannen die ersten Künstler zu betonen, welchen Beitrag sie zu dieser Entwicklung geleistet hatten. In den verschiedenen New Yorker Stadtteilen wetteiferten die unterschiedlichen Crews und Künstler um den Respekt der Hörer. Exemplarisch für den in dieser Zeit entstandenen Wettbewerbsgedanken, kann der Battle zwischen
MC Shan und KRS One beziehungsweise Boogie Down Productions und The Juice Crew gelten. Am Beispiel der Bridge Wars wird auch deutlich, dass die Battles eine Form von Lokalpatriotismus bedienten. Die jeweiligen Künstler repräsentierten nicht nur sich selbst, sie repräsentierten auch das Viertel, die Hood, der sie entstammten. Die Schallplatte war das Medium, auf dem die Fehden bestritten wurden. Durch Airplay im Radio wurde der eigentlich lokal begrenzte Battle auch über die Grenzen von Queensbridge und Brooklyn hinaus getragen. Die Rapper wussten die technischen Möglichkeiten ihrer Zeit schon damals geschickt zu nutzen.

Die Grundidee des HipHop, der eigenen Kreativität Ausdruck zu verleihen, wurde nun um ein weiteres Merkmal ergänzt. Das Streben nach Anerkennung und Respekt für das eigene kreative Schaffen. Es ist also nicht übertrieben zu behaupten, dass Rapper die Funktionslogik der Medien schon damals verinnerlicht hatten. Wer Anerkennung begehrt, der muss Aufmerksamkeit auf sich lenken und größtmögliche Aufmerksamkeit erreicht man nur über mediale Präsenz.

Das gilt auch für die deutsche Rapszene. Mit dem Trägermedium CD schafften deutsche Rapper und HipHop-Crews den Sprung in den Mainstream. Gruppen wie Absolute Beginner oder Freundeskreis erschienen Ende der 1990er Jahre mit ihren Alben in den Charts und setzten die Tradition der Aufmerksamkeitsgenerierung fort. Den Gruppen wurde Sell-Out vorgeworfen, dass sie also den Grundgedanken der Szene dem kommerziellen Erfolg opferten. Der Song „Liebeslied“ von Absolute Beginner bringt auf ironische Weise zum Ausdruck, dass auch die Künstler sich des Problems bewusst waren, das entsteht, wenn eine Subkultur massenkompatibel wird. Einerseits die Werte der eigenen Szene zu repräsentieren und andererseits die Funktionslogik der Musikbranche für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, erforderte einiges Geschick. „Liebeslied“ löst diese Problematik auf nahezu geniale Weise und beweist abermals, wie anschlussfähig Rapmusik ist. Rapper nehmen in ihren Texten wechselseitig aufeinander Bezug. Textstellen werden zitiert, in einen neuen Kontext gestellt und dienen häufig sogar als Aufhänger für neue Songs.

Ob ihr es kauft oder brennt – egal - das ist alles Promotion.
Melbeatz - Rapper´s Delight (LP). OK! (feat. Kool Savas, Samy Deluxe)

In dieser Zeile aus dem Song „OK“ verrät Kool Savas den Hörern sein Erfolgsrezept und stellt gleichzeitig unter Beweis, dass er die Funktionslogik der Medien kennt. Als die Musikindustrie begann, vermehrt über rückläufige Umsätze im Tonträgersegment zu klagen, machten sich die rappenden Pioniere auf ins Internet. Mittlerweile ermöglichten es leistungsstärkere PCs und günstige Software den Rappern und DJs, ihre Songs in den eigenen vier Wänden aufzunehmen, ohne auf teures Studioequipment zurückgreifen zu müssen. Der Weg ins Netz war nun nicht mehr weit. Das in Eigenregie produzierte Werk über das Internet zu verbreiten, ist dann der nächste logische Schritt. Das geschieht beispielsweise über Internetplattformen wie
Reimliga Battle Arena oder Webbeatz. Hier frönt die Szene virtuell dem Wettbewerbsgedanken und MCs und DJs kämpfen um ihr Stück vom Aufmerksamkeitskuchen. Die Zahl der ausgetragenen Online-Rap-Battles geben die Betreiber der Reimliga Battle Arena mit 43.000 an. Webbeatz hat rund 22.600 Mitglieder.

Social Networks bei Rappern im Allgemeinen großer Beliebtheit. Das hat wohl auch etwas mit dem in der Szene weit verbreiteten Hang zur Selbstdarstellung zu tun. Das hat oft unbeabsichtigte Folgen. So ist auf der Internetseite complex.com jüngst ein Beitrag mit dem Titel „
Who’s The Worst Rapper Video Blogger?“ erschienen. Dass Rapper als internetaffin gelten müssen, zeigt auch das Beispiel der „Feuer über Deutschland“-DVDs. Deren Produzenten casteten die Bewerber für den dritten Teil der Reihe per Youtube.

Die kurze Version der Geschichte von den musikalischen Wurzeln des HipHop und den Besonderheiten des Rap zeigt, dass sich die HipHop-Szene ganz allgemein und Rapper im Besonderen seit jeher hervorragend darauf verstehen, sich auf neue Situationen einzustellen und verfügbare Medien für ihre Zwecke zu nutzen. Sie sind junge Individualisten auf der Jagd nach dem schnellen Dollar des Mediensystems: Aufmerksamkeit. Sie haben sich als anpassungsfähig und innovativ im Umgang mit neuen Medientechnologien erwiesen und ihre Kunst ist hochgradig anschlussfähig. Die Nutzung personen- und standortbezogener Dienste ist nur die konsequente Fortsetzung einer Entwicklung, deren Wurzeln in der Entstehung des HipHop liegen.

MC D steht auf einem Schulhof in Münster. "Ich battle jeden, jederzeit und an jedem Ort!", bellt er sein Handy an und untermalt seine markigen Worte mit ein paar entschlossenen Gesten. Das Gerät schneidet alles in Bild und Ton mit. Die Aufnahmequalität ist nicht überragend, doch für seine Zwecke ausreichend. MC D braucht keinen Dolby Surround-Sound, für ihn zählt nur die Message.

Dann schickt er die audiovisuelle Kampfansage per E-Mail an eine Onlineplattform für Rap-Battles. Ermöglicht wurde das durch den Ausbau der WLAN-Landschaft. Ein dichtes Netz aus Funkzellen ermöglicht die Positionsbestimmung von Digitalgeräten auf ein paar Meter genau. Augenblicklich erscheint MC Ds Video mit Datum, Uhrzeit und seinem aktuellen Aufenthaltsort auf der Internetseite der Onlineplattform. Hier ist es für alle Mitglieder der Community sichtbar und wer sich traut und gerade in der Nähe ist, kann sich MC D nun zum Duell stellen.

Keine fünf Minuten vergehen und MC Ds Handy vibriert. Seine Finger gleiten über den Touchscreen und sogleich spielt das Gerät ein Video ab. MC Crazy B hat MC Ds Aufruf gesehen und sofort geantwortet. Er sei gerade in der Nähe und werde ihm ordentlich die Meinung geigen, wenn MC D sich traue in zehn Minuten im Park um die Ecke zu erscheinen. MC D drückt auf Reply. „Sicher, Alter!“ Kurz darauf stehen sich die beiden am verabredeten Treffpunkt gegenüber. Ein Dutzend Jugendlicher bildet einen Kreis um die Kombattanten und das Duell beginnt. Mehrere Handykameras filmen das Treiben. Später werden die User online den Sieger bestimmen. Durch die Verbindung von Social Networks, Mobilkommunikation und Diensten zur Positionsbestimmung, nähren sich die virtuelle und reale Welt zusehends an. Was in der Reimliga Battle Arena nur virtuell möglich ist, wird durch personen- und standortbezogene Dienste mit der realen Umwelt rückgekoppelt.

Nach dem Battle macht sich MC D auf den Heimweg. Das Votum des anwesenden Publikums war eindeutig. Er hat den Battle verloren. Ob die Community online zu einem anderen Ergebnis gekommen ist, überprüft MC D noch unterwegs. Auch hier hat er verloren.
 
Wieder vibriert das Handy. MC Ds Finger fliegen über den Touchscreen. Dann dringt die Melodie eines Rapsong aus den Kopfhörern. Ein Kollege von MC D hat einen neuen Song online gestellt und einen elektronischen Flyer an die Straßenlaterne getagt, an der MC D gerade lehnt. MC Ds Kollege ist nämlich Mitglied in einer Onlinemusikbörse, die diesen Service anbietet. Mitglieder, die einen neuen Song auf die Internetseite der Musikbörse hochladen, können an verschiedenen Positionen auf einer elektronischen Landkarte so genannte Tags setzten. Andere Mitglieder werden via E-Mail informiert, sobald sie sich in der Nähe eines Tags befinden und können dann über einen Link die getagten Inhalte abrufen. „Flyer aus Papier sind 90er“, sagt MC D.

Nachdem die letzten Töne verhallt sind, bellt MC D wieder sein Handy an. Diesmal zollt er dem Kollegen Respekt für dessen neuen Song. „Korrekt, Alter!“

Das beschriebene Szenario ist Zukunftsmusik. Unrealistisch ist es nicht.

Der Autor




Daniel Drungels, geboren im August 1982 in Geesthacht, studiert seit 2005 Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Philosophie in Münster. Er ist Texter und Rapper der Hiphop-Band „Satans fette Beute“. Erste journalistische Gehversuche machte er bereits in der Schulzeit. Daniel Drungels bloggt auf gehirnschluckauf.blogspot.com.