INVESTIGATIVER JOURNALISMUS
Keine Angst vor der Wahrheit


TEXT: MANUELA RÜTHER
BILD: COLUMBIA UNIVERSITY GRADUATE SCHOOL OF JOURNALISM



Es gibt wenige Personen des öffentlichen Lebens, bei denen sich die Geister so scheiden, wie bei Seymour Hersh. Den „Rächer“ nannte ihn die Columbia Journalism Review, als „globalen Polizeireporter“ betitelte ihn die New York Times. Auch in den deutschen Medien wurden seine Artikel über den Folterskandal von Abu Ghureib immer wieder zitiert. Und gewürdigt. Die Wochenzeitung "Die Zeit" bezeichnete ihn kürzlich als „den besten investigativen Journalisten unserer Tage.“

Dabei gibt es Menschen, die den
„muckraker“ gar nicht mögen. „Seymour Hersh ist ein Lügner“, sagte George W. Bush zu dem US-Journalisten Bob Woodward. Letzterer bekannt geworden als Enthüller des Watergate-Skandals gilt als Hershs größter Konkurrent. Einer, der gegensätzlicher nicht sein könnte. Woodward macht eine Sache, die dem schroffen und hektischen Hersh zuwider ist: er spricht mit George W. Bush und Dick Cheney.

Hersh, bei dem renommierten
The New Yorker als Reporter beschäftigt, verwendet andere, unkonventionellere Methoden der Recherche. Und kann mittlerweile auf ein ganzes Netz von Informanten zurückgreifen – sei es im Apparat der Verwaltungen oder in den Geheimdiensten. Neue Einträge in seinem Adressbuch verschaffte er sich unter anderem durch die Lektüre in internen Hauszeitschriften von Ministerien und Behörden. Dort suchte er vor allem nach pensionierten oder durch ihre Äußerungen auffälligen Mitarbeitern. „Er scheint mit einem Telefonhörer am Ohr geboren worden zu sein“, sagte sein Kollege Harrison Salisbury einmal. Jemand, der sich gerne auf Pressekonferenzen herumtrieb, war er dagegen nie. Schon bei einem seiner ersten Jobs als Pentagon-Korrespondent der Nachrichtenagentur AP holte er sich seine Informationen lieber in der Offiziers-Cafeteria als bei der offiziellen Konferenz. Damals stand „Sy“ Hersh – wie ihn alle nennen  noch am Anfang seiner journalistischen Karriere.

Das Massaker von My Lai – die Story wollte zunächst niemand


Über Nacht bekannt wurde er 1969 mit der Aufdeckung des Vietnam-Massakers von My Lai. Auf eigene Faust flog er damals nach Georgia. Sein einziger Anhaltspunkt: ein Hinweis, ein aus dem Vietnam-Krieg heimgekehrter Soldat namens William Calley stünde dort wegen Tötung von Zivilisten vor Gericht. Hersh brachte Calley zum Reden und enthüllte: dieser Soldat war verantwortlich für die Gräueltaten, die US-Soldaten unter seinem Kommando 500 Frauen und Kindern in dem vietnamesischen Dorf My Lai angetan hatten. Kaufen wollte Hershs Geschichte zunächst niemand. Über eine kleine, linke Nachrichtenagentur ging der Text letztlich bei 36 Zeitungen in Druck. Die Enthüllung brachte Hersh den Pulitzer-Preis, einen prestigeträchtigen Job bei der New York Times, aber auch eine Menge Drohungen.


„Sie werden nichts anderes mehr machen im kommenden Jahr.“

Die weiteren Jahre verliefen ohne große journalistische Erfolge. Hersh quittierte seinen Job bei der New York Times im Streit und verlor nach und nach seinen guten Ruf. Von Kritikern zerrissen wurde 1997 sein Buch „The Dark Side of Camelot“, eine Biographie John F. Kennedys. „Hersh hat seine Reputation zerstört“, hieß es später im New York Review of Books.

Viel publiziert hat Hersh wieder nach dem 11. September. Medienberichten zufolge, hat kaum ein Journalist so viel über die Anschläge recherchiert wie er. „Sie werden nichts anderes mehr machen im kommenden Jahr“, beauftragte The New Yorker-Chefredakteur David Remnick seinen Reporter direkt nach den Attentaten auf das World Trade Center und das Pentagon. Und so tat Hersh das, was er immer tat, sobald sich Unerklärliches ereignete. Er enthüllte und deckte auf. Über die chaotischen Zustände bei den Geheimdiensten und über gefälschte Dokumente, die die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak belegen sollten. Außerdem klagte er den Pentagon-Berater Richard Perle öffentlich an, nebenbei in Geschäfte mit den Saudis verwickelt zu sein. Perle konterte und bezeichnete Hersh als „Terrorist“.


Missstimmungen gegen den „muckraker“


Die Machthaber im
Weißen Haus scheinen allen Grund zu haben, Seymour Hersh nicht zu mögen. Denn der 67-Jährige hat die Regierung Bush mit seinen Artikeln im New Yorker immer mehr in Bedrängnis gebracht. Laut seiner Ausführungen steckte hinter den Misshandlungen der Gefangenen im Irak eine geheime Anweisung, die US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld persönlich abgesegnet haben soll. Was letztendlich bei diesen so genannten „verschärften Verhörmethoden“ passierte – damit schockierte der Meister des investigativen Journalismus in seinen Enthüllungsberichten die ganze Welt.

Seymour Hersh hat damit einmal mehr bewiesen, dass er ein wahrer „muckraker“ ist, ein Vertreter der Spezies von US-Journalisten, die die Mächtigen entblößen. Einer der wenigen, denn Kritiker haben die Ära der „muckrakers“ Ende der neunziger Jahre bereits zu Ende gehen sehen. Hersh ist noch da. Aus einem einfachen Grund, mit dem er sein journalistisches Engagement einmal erklärt hat: „Man darf keine Angst davor haben, die Wahrheit zu sagen.“

AUSGABE 38
DER BILDERSTURM




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DOPPELT UND DREIFACH BESTRAFT
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ETHIK UND JOURNALISMUS: WIDERSPRUCH?
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