MENSCHLICHES PRIMAT DES SEHENS
Das visuelle
Tier
TEXT:
JONS
M. SCHIEMANN
BILD: PHOTOCASE.DE
Der
Mensch ist, im
Gegensatz zu den meisten anderen Säugetieren, hauptsächlich
durch seinen visuellen Sinn geprägt. Während Schlangen sich vornehmlich
durch ihren Geschmackssinn orientieren (deswegen
zischeln sie) und der Großteil der Tiere im Vergleich zu ihrem
Geruchsvermögen ein eher marginales Sehvermögen besitzt (wie zum Beispiel Hunde), verhält es sich bei dem Menschen
genau umgekehrt.
Hier dominiert eindeutig der Sehsinn.
Evolutionär gesehen durchaus ein Vorteil. Vieles ist in der
Natur von der Wirkung auf die Augen abhängig, von den
Signalfarben bis zu den sozialen Kontakten. Gerade bei dem Kontakt zu den Mitmenschen
ist der Blick nicht zu unterschätzen. Der erste Blickkontakt richtet sich
meist auf die Augen des gegenüber und ist entscheidend für die
Arterhaltung („Liebe auf den ersten Blick“). Die Anbahnung der Paarung, vulgo Flirten, geschieht durch gegenseitiges Ansehen und eine erste
zärtliche Reaktion in Form eines Blinzelns. Verliebte Menschen können sich
stundenlang damit beschäftigen, in die Augen des Partners zu sehen. „Liebe
macht blind“ ist ein ebenso geläufiges Sprichwort wie „Die Augen sind das
Fenster zur Seele.“ Die Augen sind das Organ, welches jedem anderen Zugang
zu einem Innersten gewährt. Es sei denn, man ist Arzt.
Auch die Vorstellung, dass die Farbe des Bösen und des Todes Schwarz ist,
kommt nicht von ungefähr. Der Aberglauben
macht die Nacht bedrohlich,
denn dann wandern die Geister umher. Im
diffusen Zwielicht erhält selbst die Nachttischlampe einen
beunruhigenden
Charakter. Schwarz, Nacht, Zwielicht: zu sehen ist nicht.
Ein weiterer beliebter Ausspruch, Relikt der Aufklärung, ist „Ich glaube
nur, was ich sehe“. Mit der Betonung auf die Ratio, den Verstand, der
anscheinend in direkter Verknüpfung mit den Augen gesehen wird, werden der
Instinkt und die Gefühle verleugnet. In Gläubigkeit des
wissenschaftlich-technischen wird dabei aber übersehen, dass gerade viele
naturwissenschaftliche Phänomene eben nicht zu sehen sind, aber trotzdem
widerspruchslos geglaubt werden. Niemand würde die Existenz des Universums
abstreiten, aber wer hat es je gesehen? Unser allabendlicher Blick auf
den Sternenhimmel ist zu begrenzt. Abstrakte Größen und Begriffe wie
zum Beispiel
eine Zahl wie sechs Millionen sind schwer vorstellbar.
Glauben kann man daran trotzdem.
Durch Selbstverstümmelung wird der Sehsinn über die anderen Sinne
erhoben. Die anderen werden zwar registriert (zum Beispiel das Schmecken und das
Fühlen), aber nicht mehr richtig genutzt. Der Tastsinn wird automatisiert und
nur noch durch sexuelle Kontakte richtig wahrgenommen. Die Zeit, ein
Musikstück richtig zu hören oder einen Bissen richtig zu schmecken, wird
sich kaum noch genommen. Es herrscht ein einziger Brei von Kaugummipopmusik
und Fastfood. Wir Menschen scheinen es darauf anzulegen unsere Sinne zu
betäuben, anstatt sie zu erfreuen.
Bilder wurden schon immer zum Verständnis genutzt. In antiken Zeiten oder im
Mittelalter war die Schrift ein Symbol der Herrschenden. Dementsprechend
wurde sie zum Teil eifersüchtig gehütet. Aber auch die geringe Schulbildung
und große Analphabetisierung machten Bilder notwendig. Im Mittelalter
gebaute Kirchen haben Szenen aus der Bibel in Bilderform
dargestellt wie auf manchen Triptychons. So wurde der Schrift unkundigen
Bevölkerung die Bibel näher gebracht. Bild-Symbole wie
oder
Verkehrszeichen werden gebraucht, um langwierigen Text zu
vermeiden und mit einer eindeutigen Botschaft optische Warnsignale zu geben.
Comics und Film bedienen sich ebenfalls dieser
Elemente.
Der Journalismus hat durch die digitalen Möglichkeiten der
Bildbearbeitung einen Teil seiner Unschuld verloren. Titelbilder von Stars
erscheinen kaum noch unretuschiert. Montagemöglichkeiten zeigten Trittin
in der „Bild“ in einer anderen, verfälschenden, Situation. Und obwohl
mittlerweile auch jeder im privaten Bereich mit passender
Ausrüstung Bilder bearbeiten kann, wollen die meisten weiterhin nur das glauben, was sie
sehen. Aber auch das manchmal nur schwer: „die Anschläge auf das World Trade
Center waren wie im Film“.
Und doch sind Bilder wichtig, weil sie komplexe und manchmal schwer zu
durchschauende Zusammenhänge, wie in Bedienungsanleitungen, erklären und mit
ihrem starken Symbolgehalt unmittelbar uns anzusprechen vermögen, wie
zum Beispiel
das Bild vom Kniefall Willy Brandts. Aktuell
sind es die Bilder von den
Folterungen der US-Armee im Irak, die uns mit ihrer
Symbolhaftigkeit überfordern. Hier tobt ein
Kampf der Bilder. Viele Fotos und Videodokumente werden
gezielt zurückgehalten. Die Verantwortlichen sind
sich bewusst, welche Symbolwirkung von den
Bilddokumenten ausgeht und welche fatalen Folgen das haben kann. |
AUSGABE 38
DER BILDERSTURM
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EDITORIAL VON BJÖRN
BRÜCKERHOFF
INTERVIEW MIT FLORIAN
ILLIES
MARKENKOMMUNIKATION DES TERRORISMUS
KEINE ANGST VOR DER
WAHRHEIT
DOPPELT UND DREIFACH
BESTRAFT
OPFER DER GEWOHNHEIT
ETHIK UND JOURNALISMUS:
WIDERSPRUCH?
DAS VISUELLE TIER
LIEBER FÜNF MINUTEN ZWEIFELN...
EIN BILD LÜGT MEHR ALS TAUSEND
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